Gesellschaftsrecht – Aufgabe der Sitztheorie
von Rechtsanwalt Marcus Beckmann

Der EuGH hat mit seinem Urteil vom 05.11.2002 - Rs. C-280/00 - "Überseering" einem Grundpfeiler des deutschen Gesellschaftsrechts eine Absage erteilt und damit seine CENTROS-Entscheidung (EuGH, Urteil vom 09.03.1999 – Rs. C-212/97) weiter untermauert.

Sitztheorie verstößt gegen die Niederlassungsfreiheit
Bisher galt für Gesellschaften in Deutschland die sogenannte Sitztheorie. Danach ist das Recht des Staates anwendbar , in dem die Gesellschaft ihre tatsächliche Tätigkeit entfaltet. Nach Ansicht des EuGH verstößt die Sitztheorie gegen die in Art. 43 des EU-Vertrages verankerte Niederlassungsfreiheit. Nach Ansicht des EuGH sind die Mitgliedstaaten verpflichtet die Rechtsfähigkeit und die damit verbundene Parteifähigkeit zu achten, die eine Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungsstaats. Danach kann einem EU - Staatsangehörigen, der in einem EU - Mitgliedsstaat rechtmäßig eine Kapitalgesellschaft gründet, grundsätzlich kein Nachteil daraus entstehen, dass sich die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft ausschließlich in einem anderen Mitgliedsstaat entfaltet. Dem steht nach Ansicht des EuGH nicht entgegen, wenn die Gesellschaft nur deshalb in einem anderen Mitgliedsstaat errichtet wird, um sich später in einem zweiten Mitgliedsstaat niederzulassen und damit die Einzahlung von Mindestgesellschaftskapital zu umgehen.

Gründungstheorie zumindest für Gesellschaften aus EU-Mitgliedstaaten
Damit gilt zumindest für Gesellschaften, die von einem EU-Staatsangehörigen in einem EU-Mitgliedsstaat gegründet wurde die sogenannte Gründungstheorie. dass eine ausländische Gesellschaft, die entsprechend ihrem Statut nach dem Recht des Gründungsstaats als rechtsfähige Gesellschaft ähnlich einer GmbH deutschen Rechts zu behandeln wäre, im Fall der Verlegung ihres Verwaltungssitzes nach Deutschland eine rechtsfähige Personengesellschaft darstellt und damit parteifähig ist.

Praktische Auswirkungen
Die Entscheidung des EuGH eröffnet zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten und eine größere Auswahl bei der Wahl einer passenden Gesellschaftsform. Dabei steht insbesondere die Frage nach der Haftungsbegrenzung im Vordergrund. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang insbesondere die britische Limited (Ltd.) die ihrer Ausgestaltung nach der deutschen GmbH ähnelt, aber kein Mindeststammkapital vorsieht. Da diese Rechtsform allerdings häufig auch von unseriösen Briefkastenfirmen verwendet wird, bleibt abzuwarten, ob diese Rechtsform im deutschen Raum tatsächlich große Bedeutung erlangt. Denkbar ist es aber zum Beispiel eine Ltd. als Komplementärin einer KG einzusetzen.

Ausblick
Derzeit ist beim EuGH eine weiterer Rechtsstreit (Rs. C-167/01 - „Inspire Art Ltd“) anhängig. Dort geht es um die Frage, ob die Anerkennung einer Gesellschaft als eigene Rechtspersönlichkeit von einer Mindestkapitalausstattung nach dem Recht des Zuzugsstaats abhängt. Es ist zu erwarten, dass der EuGH die Gründungstheorie erneut bestätigt. Noch ungeklärt ist die Frage, ob die deutsche Rechtsprechung die Sitztheorie zukünftig noch in Teilbereichen aufrecht erhält. So etwa für Gesellschaften aus Nichte-EU-Staaten. Um die Rechtsunsicherheit zu beseitigen sollte der Gesetzgeber eine Entscheidung treffen. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten.



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