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Bundesregierung hat Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) in der Fassung vom 27.04.2020 vorgelegt

Die Bundesregierung hat den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) in der Fassung vom 27.04.2020 vorgelegt.

BGH: Spiegel Online durfte Auszug aus Buchmanuskript von Politiker Volker Beck im Internet veröffentlichen - Berichterstattung über Tagesereignisse nach § 50 UrhG

BGH
Urteil vom 30.04.2020
I ZR 228/15
Reformistischer Aufbruch II


Der BGH hat entschieden, dass Spiegel Online Auszüge aus einem Buchmanuskripts des Politikers Volker Beck im Internet veröffentlichen. Es lag eine zulässige Berichterstattung über Tagesereignisse nach § 50 UrhG vor.

Die Pressemitteilung des BGH:

Zur urheberrechtlichen Zulässigkeit der Veröffentlichung von Buchbeiträgen eines Bundestagsabgeordneten durch ein Internet-Nachrichtenportal

Der unter anderem für das Urheberrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass die Veröffentlichung von Buchbeiträgen eines Bundestagsabgeordneten auf einem Internet-Nachrichtenportal zulässig war.

Sachverhalt:

Der Kläger war in den Jahren 1994 bis 2016 Mitglied des Bundestags. Er ist Verfasser eines Manuskripts, in dem er sich gegen die radikale Forderung einer vollständigen Abschaffung des Sexualstrafrechts wandte, aber für eine teilweise Entkriminalisierung gewaltfreier sexueller Handlungen Erwachsener mit Kindern eintrat. Der Text erschien im Jahr 1988 als Beitrag in einem Buch. Im Mai 1988 beanstandete der Kläger gegenüber dem Herausgeber des Buchs, dieser habe ohne seine Zustimmung Änderungen am Text und an den Überschriften vorgenommen, und forderte ihn auf, dies bei der Auslieferung des Buchs kenntlich zu machen. In den Folgejahren wurde der Kläger mehrfach kritisch mit den Aussagen des Buchbeitrags konfrontiert. Er erklärte daraufhin wiederholt, sein Manuskript sei durch den Herausgeber im Sinn verfälscht worden, weil dieser die zentrale Aussage - die Abkehr von der seinerzeit verbreiteten Forderung nach Abschaffung des Sexualstrafrechts - wegredigiert habe. Spätestens seit dem Jahr 1993 distanzierte sich der Kläger vollständig vom Inhalt seines Aufsatzes.

Im Jahr 2013 wurde in einem Archiv das Originalmanuskript des Klägers aufgefunden und ihm wenige Tage vor der Bundestagswahl, für die er als Abgeordneter kandidierte, zur Verfügung gestellt. Der Kläger übermittelte das Manuskript an mehrere Zeitungsredaktionen als Beleg dafür, dass es seinerzeit für den Buchbeitrag verändert worden sei. Einer Veröffentlichung der Texte durch die Redaktionen stimmte er nicht zu. Stattdessen stellte er das Manuskript und den Buchbeitrag mit dem Hinweis auf seiner Internetseite ein, er distanziere sich von dem Beitrag. Mit einer Verlinkung seiner Internetseite durch die Presse war er einverstanden.

Vor der Bundestagswahl veröffentlichte die Beklagte in ihrem Internetportal einen Pressebericht, in dem die Autorin die Ansicht vertrat, der Kläger habe die Öffentlichkeit jahrelang hinters Licht geführt. Die Originaldokumente belegten, dass das Manuskript nahezu identisch mit dem Buchbeitrag und die zentrale Aussage des Klägers keineswegs im Sinn verfälscht worden sei. Die Internetnutzer konnten das Manuskript und den Buchbeitrag über einen elektronischen Verweis (Link) herunterladen. Die Internetseite des Klägers war nicht verlinkt.

Der Kläger sieht in der Veröffentlichung der Texte eine Verletzung seines Urheberrechts. Er hat die Beklagte auf Unterlassung und Schadensersatz in Anspruch genommen.

Bisheriger Prozessverlauf:

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten ist erfolglos geblieben. Das Kammergericht hat angenommen, die Veröffentlichung der urheberrechtlich geschützten Texte des Klägers ohne seine Zustimmung sei auch unter Berücksichtigung der Meinungs- und Pressefreiheit der Beklagten weder unter dem Gesichtspunkt der Berichterstattung über Tagesereignisse (§ 50 UrhG) noch durch das gesetzliche Zitatrecht (§ 51 UrhG) gerechtfertigt. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.

Der Bundesgerichtshof hat das Verfahren mit Beschluss vom 27. Juli 2017 ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen zur Auslegung der Richtlinie 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft vorgelegt (I ZR 228/15, GRUR 2017, 1027 - Reformistischer Aufbruch I; dazu Pressemitteilung Nr. 124/2017 vom 27. Juli 2017). Diese Fragen hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 29. Juli 2019 (C-516/17, GRUR 2019, 940 - Spiegel Online) beantwortet. Der Bundesgerichtshof hat daraufhin das Revisionsverfahren fortgesetzt.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der Bundesgerichtshof hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Beklagte hat durch die Bereitstellung des Manuskripts und des Buchbeitrags in ihrem Internetportal das Urheberrecht des Klägers nicht widerrechtlich verletzt. Zu ihren Gunsten greift vielmehr die Schutzschranke der Berichterstattung über Tagesereignisse (§ 50 UrhG) ein.

Eine Berichterstattung über ein Tagesereignis im Sinne dieser Bestimmung liegt vor. Das Berufungsgericht hat bei seiner abweichenden Annahme nicht hinreichend berücksichtigt, dass es in dem in Rede stehenden Artikel im Schwerpunkt um die aktuelle Konfrontation des Klägers mit seinem bei Recherchen wiedergefundenen Manuskript und seine Reaktion darauf ging. Dies sind Ereignisse, die bei der Einstellung des Artikels ins Internetportal der Beklagten aktuell und im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit des erneut als Bundestagsabgeordneter kandidierenden Klägers von gegenwärtigem öffentlichem Interesse waren. Dass der Artikel über dieses im Vordergrund stehende Ereignis hinausgehend die bereits über Jahre andauernde Vorgeschichte und die Hintergründe zur Position des Klägers mitteilte, steht der Annahme einer Berichterstattung über Tagesereignisse nicht entgegen.

Die Berichterstattung hat zudem nicht den durch den Zweck gebotenen Umfang überschritten. Nach der Bestimmung des Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 der Richtlinie 2001/29/EG, deren Umsetzung § 50 UrhG dient und die bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung zu beachten ist, darf die fragliche Nutzung des Werks nur erfolgen, wenn die Berichterstattung über Tagesereignisse verhältnismäßig ist, das heißt mit Blick auf den Zweck der Schutzschranke, der Achtung der Grundfreiheiten des Rechts auf Meinungsfreiheit und auf Pressefreiheit, den Anforderungen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) entspricht.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt es für die Frage, ob bei der Auslegung und Anwendung unionsrechtlich bestimmten innerstaatlichen Rechts die Grundrechte des Grundgesetzes oder die Grundrechte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union maßgeblich sind, grundsätzlich darauf an, ob dieses Recht unionsrechtlich vollständig vereinheitlicht ist (dann sind in aller Regel nicht die Grundrechte des Grundgesetzes, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich) oder ob dieses Recht unionsrechtlich nicht vollständig determiniert ist (dann gilt primär der Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes). Im letztgenannten Fall greift die Vermutung, dass das Schutzniveau der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitgewährleistet ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13, GRUR 2020, 74 Rn. 71 - Recht auf Vergessen I). Da nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 der Richtlinie 2001/29/EG dahin auszulegen ist, dass er keine Maßnahme zur vollständigen Harmonisierung der Reichweite der in ihm aufgeführten Ausnahmen oder Beschränkungen darstellt, ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Anwendung des § 50 UrhG danach anhand des Maßstabs der Grundrechte des deutschen Grundgesetzes vorzunehmen.

Im Streitfall sind nach diesen Maßstäben bei der Auslegung und Anwendung der Verwertungsrechte und der Schrankenregelungen auf der Seite des Klägers das ihm als Urheber zustehende, durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte ausschließliche Recht der öffentlichen Zugänglichmachung seiner Werke zu berücksichtigen. Außerdem ist das von seinem Urheberpersönlichkeitsrecht geschützte Interesse betroffen, eine öffentliche Zugänglichmachung seines Werks nur mit dem gleichzeitigen Hinweis auf seine gewandelte politische Überzeugung zu gestatten. Für die Beklagte streiten dagegen die Grundrechte der Meinungs- und Pressefreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG. Die Abwägung dieser im Streitfall betroffenen Grundrechte führt zu einem Vorrang der Meinungs- und Pressefreiheit. Das Berufungsgericht hat mit Recht angenommen, dass der Beklagten im Rahmen ihrer grundrechtlich gewährleisteten Meinungs- und Pressefreiheit die Aufgabe zukam, sich mit den öffentlichen Behauptungen des Klägers kritisch auseinanderzusetzen und es der Öffentlichkeit durch die Bereitstellung des Manuskripts und des Buchbeitrags zu ermöglichen, sich ein eigenes Bild von der angeblichen inhaltlichen Verfälschung des Aufsatzes und damit von der vermeintlichen Unaufrichtigkeit des Klägers zu machen. Dabei ist das Berufungsgericht zutreffend von einem hohen Stellenwert des von der Beklagten wahrgenommenen Informationsinteresses der Öffentlichkeit ausgegangen. Im Hinblick auf die Interessen des Klägers ist zu berücksichtigen, dass sein durch Art. 14 Abs. 1 GG geschütztes ausschließliche Recht zur öffentlichen Zugänglichmachung des Manuskripts sowie des Buchbeitrags nur unwesentlich betroffen ist, weil nach den Feststellungen des Berufungsgerichts mit einer weiteren wirtschaftlichen Verwertung des Aufsatzes nicht zu rechnen ist. Sein dem Urheberpersönlichkeitsrecht unterfallendes Interesse, zu bestimmen, ob und wie sein Werk veröffentlicht wird, erlangt im Rahmen der Grundrechtsabwägung kein entscheidendes Gewicht. Die Beklagte hat ihren Lesern in dem mit der Klage angegriffenen Bericht die im Lauf der Jahre gewandelte Meinung des Klägers zur Strafwürdigkeit des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger nicht verschwiegen, sondern ebenfalls zum Gegenstand der Berichterstattung gemacht. Sie hat der Öffentlichkeit damit den in Rede stehende Text nicht ohne einen distanzierenden, die geänderte geistig-persönliche Beziehung des Klägers zu seinem Werk verdeutlichenden Hinweis zur Verfügung gestellt und seinem urheberpersönlichkeitsrechtlichen Interesse hinreichend Rechnung getragen.

Vorinstanzen:

LG Berlin - Urteil vom 17. Juni 2014 - 15 O 546/13

Kammergericht - Urteil vom 7. Oktober 2015 - 24 U 124/14

Die maßgebliche Vorschrift lautet:

§ 50 UrhG

Zur Berichterstattung über Tagesereignisse durch Funk oder durch ähnliche technische Mittel, in Zeitungen, Zeitschriften und in anderen Druckschriften oder sonstigen Datenträgern, die im Wesentlichen Tagesinteressen Rechnung tragen, sowie im Film, ist die Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Wiedergabe von Werken, die im Verlauf dieser Ereignisse wahrnehmbar werden, in einem durch den Zweck gebotenen Umfang zulässig.




BGH: Bundesrepublik Deutschland kann Veröffentlichung militärischer Lageberichte durch die Presse nicht unter Hinweis auf Urheberrecht untersagen - Afghanistan Papiere II

BGH
Urteil vom 30.04.2020
I ZR 139/15
Afghanistan Papiere II


Der BGH hat im Rechtsstreit um die Afghanistan Papiere entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland die Veröffentlichung militärischer Lageberichte durch die Presse nicht unter Hinweis auf das Urheberrecht untersagen kann.

Die Pressemitteilung des BGH:

Zur urheberrechtlichen Zulässigkeit der Veröffentlichung militärischer Lageberichte

Der unter anderem für das Urheberrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland die Veröffentlichung militärischer Lageberichte über den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr durch die Presse nicht unter Berufung auf das Urheberrecht untersagen kann.

Sachverhalt:

Die Klägerin ist die Bundesrepublik Deutschland, die im vorliegenden Verfahren durch das Bundesministerium der Verteidigung vertreten wird. Dieses lässt wöchentlich einen militärischen Lagebericht über die Auslandseinsätze der Bundeswehr und Entwicklungen im Einsatzgebiet erstellen. Die Berichte werden unter der Bezeichnung "Unterrichtung des Parlaments" (UdP) an ausgewählte Abgeordnete des deutschen Bundestages, Referate im Bundesministerium der Verteidigung und anderen Bundesministerien, sowie dem Bundesministerium der Verteidigung nachgeordneten Dienststellen versendet. Sie sind als Verschlusssache "VS - Nur für den Dienstgebrauch" eingestuft. Daneben veröffentlicht die Klägerin gekürzte Fassungen der UdP als "Unterrichtung der Öffentlichkeit" (UdÖ).

Die Beklagte betreibt das Onlineportal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Sie beantragte im Jahr 2012 unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz die Einsichtnahme in sämtliche UdP aus der Zeit zwischen dem 1. September 2001 und dem 26. September 2012. Nach Ablehnung dieses Antrags gelangte die Beklagte auf unbekanntem Weg an einen Großteil der Berichte und veröffentlichte diese unter der Bezeichnung "Afghanistan-Papiere" im Internet. Die Klägerin hat die Beklagte auf Unterlassung in Anspruch genommen, weil die Veröffentlichung ihr Urheberrecht an den Berichten verletze.

Bisheriger Prozessverlauf:

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten ist ohne Erfolg geblieben. Mit ihrer Revision hat die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiterverfolgt. Der Bundesgerichtshof hat das Verfahren mit Beschluss vom 1. Juni 2017 ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union verschiedene Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt (I ZR 139/15, GRUR 2017, 901 - Afghanistan Papiere I; dazu Pressemitteilung Nr. 87/17 vom 1. Juni 2017). Der Gerichtshof der Europäischen Union hat über diese Fragen durch Urteil vom 29. Juli 2019 (C-469/17, GRUR 2019, 934 - Funke Medien) entschieden. Der Bundesgerichtshof hat daraufhin das Revisionsverfahren fortgesetzt.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der Bundesgerichtshof hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es kann offenbleiben, ob die UdP urheberrechtlich als Schriftwerke geschützt sind. Die Beklagte hat durch die Veröffentlichung der UdP jedenfalls ein daran bestehendes Urheberrecht nicht widerrechtlich verletzt. Zu ihren Gunsten greift vielmehr die Schutzschranke der Berichterstattung über Tagesereignisse (§ 50 UrhG) ein.

Eine Berichterstattung im Sinne dieser Bestimmung liegt vor. Das Berufungsgericht hat bei seiner abweichenden Annahme, es habe keine journalistische Auseinandersetzung mit den einzelnen Inhalten der jeweiligen UdP stattgefunden, nicht hinreichend berücksichtigt, dass die Beklagte die UdP nicht nur auf ihrer Website veröffentlicht, sondern sie auch mit einem Einleitungstext, weiterführenden Links und einer Einladung zur interaktiven Partizipation versehen und in systematisierter Form präsentiert hat.

Die Berichterstattung hat auch ein Tagesereignis zum Gegenstand. Sie betrifft die Frage, ob die jahrelange und andauernde öffentliche Darstellung des auch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Texte auf der Internetseite der Beklagten noch stattfindenden und damit aktuellen, im Auftrag des deutschen Bundestages erfolgenden Einsatzes der deutschen Soldaten in Afghanistan als Friedensmission zutrifft oder ob in diesem Einsatz entgegen der öffentlichen Darstellung eine Beteiligung an einem Krieg zu sehen ist.

Die Berichterstattung hat zudem nicht den durch den Zweck gebotenen Umfang überschritten. Nach der Bestimmung des Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 der Richtlinie 2001/29/EG, deren Umsetzung § 50 UrhG dient und die bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung zu beachten ist, darf die fragliche Nutzung des Werks nur erfolgen, wenn die Berichterstattung über Tagesereignisse verhältnismäßig ist, das heißt mit Blick auf den Zweck der Schutzschranke, der Achtung der Grundfreiheiten des Rechts auf Meinungsfreiheit und auf Pressefreiheit, den Anforderungen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) entspricht.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt es für die Frage, ob bei der Auslegung und Anwendung unionsrechtlich bestimmten innerstaatlichen Rechts die Grundrechte des Grundgesetzes oder die Grundrechte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union maßgeblich sind, grundsätzlich darauf an, ob dieses Recht unionsrechtlich vollständig vereinheitlicht ist (dann sind in aller Regel nicht die Grundrechte des Grundgesetzes, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich) oder ob dieses Recht unionsrechtlich nicht vollständig determiniert ist (dann gilt primär der Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes). Im letztgenannten Fall greift die Vermutung, dass das Schutzniveau der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitgewährleistet ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13, GRUR 2020, 74 Rn. 71 - Recht auf Vergessen I). Da nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 der Richtlinie 2001/29/EG dahin auszulegen ist, dass er keine Maßnahme zur vollständigen Harmonisierung der Reichweite der in ihm aufgeführten Ausnahmen oder Beschränkungen darstellt, ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Anwendung des § 50 UrhG danach anhand des Maßstabs der Grundrechte des deutschen Grundgesetzes vorzunehmen.

Im Blick auf die Interessen der Klägerin ist zu berücksichtigen, dass die durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten ausschließlichen Verwertungsrechte zur Vervielfältigung und zur öffentlichen Zugänglichmachung der UdP allenfalls unwesentlich betroffen sind, weil die UdP nicht wirtschaftlich verwertbar sind. Das vom Urheberpersönlichkeitsrecht geschützte Interesse an einer Geheimhaltung des Inhalts des Werks erlangt im Rahmen der im Streitfall vorzunehmenden Grundrechtsabwägung kein entscheidendes Gewicht. Das Urheberpersönlichkeitsrecht schützt nicht das Interesse an der Geheimhaltung von Umständen, deren Offenlegung Nachteile für die staatlichen Interessen der Klägerin haben könnte. Dieses Interesse ist durch andere Vorschriften etwa das Sicherheitsüberprüfungsgesetz, § 3 Nr. 1 Buchst. b IFG oder die strafrechtlichen Bestimmungen gegen Landesverrat und die Gefährdung der äußeren Sicherheit gemäß § 93 ff. StGB - geschützt. Das Urheberpersönlichkeitsrecht schützt allein das urheberrechtsspezifische Interesse des Urhebers, darüber zu bestimmen, ob er mit der erstmaligen Veröffentlichung seines Werkes den Schritt von der Privatsphäre in die Öffentlichkeit tut und sich und sein Werk damit der öffentlichen Kenntnisnahme und Kritik aussetzt. Dieses Geheimhaltungsinteresse kann nach den Umständen des Streitfalls das durch die Meinungs- und Pressefreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG geschützte Veröffentlichungsinteresse nicht überwiegen. Dem Interesse an einer Veröffentlichung der hier in Rede stehenden Informationen kommt im Blick auf die politische Auseinandersetzung über die Beteiligung deutscher Soldaten an einem Auslandseinsatz und das damit berührte besonders erhebliche allgemeine Interesse an der öffentlichen und parlamentarischen Kontrolle von staatlichen Entscheidungen in diesem Bereich größeres Gewicht zu.

Vorinstanzen:

LG Köln - Urteil vom 2. Oktober 2014 - 14 O 333/13

OLG Köln - Urteil vom 12. Juni 2015 - 6 U 5/15)

Die maßgebliche Vorschrift lautet:

§ 50 UrhG

Zur Berichterstattung über Tagesereignisse durch Funk oder durch ähnliche technische Mittel, in Zeitungen, Zeitschriften und in anderen Druckschriften oder sonstigen Datenträgern, die im Wesentlichen Tagesinteressen Rechnung tragen, sowie im Film, ist die Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Wiedergabe von Werken, die im Verlauf dieser Ereignisse wahrnehmbar werden, in einem durch den Zweck gebotenen Umfang zulässig.




BGH: Rechtsstreit Kraftwerk gegen Moses Pelham an OLG Hamburg zurückverwiesen - Metall auf Metall - Entnahme von zwei Takten einer Rhythmussequenz aus dem Tonträger

BGH
Urteil vom 30.04.2020
I ZR 115/16
Metall auf Metall IV


Der BGH hat in dem Rechtsstreit Kraftwerk gegen Moses Pelham erneut keine abschließende Entscheidung getroffen und die Sache an das OLG Hamburg zurückverwiesen.

Die Pressemitteilung des BGH:

Bundesgerichtshof entscheidet über Rechtswidrigkeit des Tonträger-Samplings

Der unter anderem für das Urheberrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute über die Frage entschieden, unter welchen Voraussetzungen Rechte des Tonträgerherstellers durch Sampling verletzt werden.

Sachverhalt:

Die Kläger sind Mitglieder der Musikgruppe "Kraftwerk". Diese veröffentlichte im Jahr 1977 einen Tonträger, auf dem sich das Musikstück "Metall auf Metall" befindet. Die Beklagten zu 2 und 3 sind die Komponisten des Titels "Nur mir", den die Beklagte zu 1 mit der Sängerin Sabrina Setlur auf im Jahr 1997 erschienenen Tonträgern einspielte. Zur Herstellung des Titels hatten die Beklagten zwei Sekunden einer Rhythmussequenz aus dem Titel "Metall auf Metall" elektronisch kopiert ("gesampelt") und dem Titel "Nur mir" in fortlaufender Wiederholung unterlegt.

Die Kläger sehen dadurch ihre Rechte als Tonträgerhersteller verletzt. Sie haben die Beklagten auf Unterlassung in Anspruch genommen, Tonträger mit der Aufnahme "Nur mir" herzustellen und in Verkehr zu bringen. Außerdem haben sie die Feststellung der Schadensersatzpflicht der Beklagten, Auskunftserteilung und Herausgabe der Tonträger zum Zweck der Vernichtung verlangt.

Bisheriger Prozessverlauf:

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten ist ohne Erfolg geblieben. Auf die Revision der Beklagten hat der Bundesgerichtshof das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen (vgl. Pressemitteilung vom 20. November 2008). Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten wiederum zurückgewiesen. Die erneute Revision der Beklagten hat der Bundesgerichtshof zurückgewiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Revisionsurteile und das zweite Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen. Dieser hat daraufhin dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen zur Auslegung der Richtlinie 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft und der Richtlinie 2006/115/EG zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums vorgelegt, die der Gerichtshof mit Urteil vom 29. Juli 2019 beantwortet hat.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Nunmehr hat der Bundesgerichtshof das erste Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Mit der vom Oberlandesgericht gegebenen Begründung können die von den Klägern geltend gemachten Ansprüche weder in Bezug auf ein Herstellen noch in Bezug auf ein Inverkehrbringen von Tonträgern zugesprochen werden.

1. Hinsichtlich des Herstellens ist eine Verletzung des Vervielfältigungsrechts der Kläger als Tonträgerhersteller gemäß § 85 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 UrhG zu prüfen. Insoweit ist im Blick darauf, dass die Richtlinie 2001/29/EG, die in Art. 2 Buchst. c das Vervielfältigungsrecht für Tonträgerhersteller in Bezug auf ihre Tonträger sowie in Art. 5 Abs. 2 und 3 Ausnahmen oder Beschränkungen in Bezug auf dieses Recht regelt, nach ihrem Art. 10 auf Nutzungshandlungen ab dem 22. Dezember 2002 anwendbar ist, zwischen dem Herstellen von Tonträgern mit der Aufnahme "Nur mir" vor dem 22. Dezember 2002 und ab dem vorgenannten Datum zu unterscheiden.

a) Für Vervielfältigungshandlungen vor dem 22. Dezember 2002 lässt sich eine Verletzung des Vervielfältigungsrechts der Kläger als Tonträgerhersteller gemäß § 85 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 UrhG auf der Grundlage der im ersten Berufungsurteil getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilen. Infolge der Aufhebung durch das Bundesverfassungsgericht kommt eine Berücksichtigung der Feststellungen im zweiten Berufungsurteil nicht in Betracht. Der Senat hat allerdings in seinen Hinweisen für das neue Berufungsverfahren erkennen lassen, dass das Vervielfältigungsrecht der Kläger nicht verletzt sein dürfte, weil naheliegt, dass sich die Beklagten auf eine freie Benutzung im Sinne des hier entsprechend anwendbaren § 24 UrhG berufen können. Sie dürften mit dem Musikstück "Nur mir" ein selbständiges Werk im Sinne des § 24 Abs. 1 UrhG geschaffen haben. Da es sich bei der von den Beklagten entnommenen Rhythmussequenz nicht um eine Melodie im Sinne des § 24 Abs. 2 UrhG handeln dürfte und eine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift nicht in Betracht kommt, dürften die Voraussetzungen einer freien Benutzung gegeben sein. Im Hinblick darauf, dass es nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts dem künstlerischen Schaffensprozess nicht hinreichend Rechnung tragen würde, wenn die Zulässigkeit der Verwendung von gleichwertig nachspielbaren Samples eines Tonträgers generell von der Erlaubnis des Tonträgerherstellers abhängig gemacht würde, hält der Senat nicht an seiner Auffassung fest, dass eine entsprechende Anwendung des § 24 Abs. 1 UrhG ausscheidet, wenn es möglich ist, die auf dem Tonträger aufgezeichnete Tonfolge selbst einzuspielen.

b) Für Vervielfältigungshandlungen ab dem 22. Dezember 2002 kommt hingegen eine Verletzung des Vervielfältigungsrechts der Kläger in Betracht.

aa) Seit diesem Zeitpunkt ist das in § 85 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 UrhG geregelte Recht des Tonträgerherstellers zur Vervielfältigung des Tonträgers mit Blick auf Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2001/29/EG richtlinienkonform auszulegen. Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2001/29/EG stellt eine Maßnahme zur vollständigen Harmonisierung des materiellen Gehalts des in ihr geregelten Rechts dar, die den Mitgliedstaaten keinen Umsetzungsspielraum überlässt, sondern zwingende Vorgaben macht, so dass die diese Vorschrift umsetzende Bestimmung des § 85 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 UrhG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, sondern allein am Unionsrecht und damit auch an den durch das Unionsrecht gewährleisteten Grundrechten zu messen ist. Nach der auf Vorlage des Senats ergangenen Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist die Vervielfältigung eines - auch nur sehr kurzen - Audiofragments eines Tonträgers durch einen Nutzer grundsätzlich als eine teilweise Vervielfältigung im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2001/29/EG anzusehen. Diese Auslegung entspricht dem Ziel der Richtlinie, ein hohes Schutzniveau für das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte zu erreichen und die beträchtlichen Investitionen zu schützen, die Tonträgerhersteller tätigen müssen, um Produkte wie Tonträger anbieten zu können. Eine Vervielfältigung im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2001/29/EG liegt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs jedoch nicht vor, wenn ein Nutzer in Ausübung der Kunstfreiheit einem Tonträger ein Audiofragment entnimmt, um es in geänderter und beim Hören nicht wiedererkennbarer Form in einem neuen Werk zu nutzen. Aus einer Abwägung der Freiheit der Kunst (Art. 13 EU-Grundrechtecharta) und der Gewährleistung des geistigen Eigentums (Art. 17 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta) folgt, dass es in einer solchen Konstellation an einer hinreichenden Beeinträchtigung der Interessen des Tonträgerherstellers fehlt.

bb) Nach diesen Maßstäben stellt die Entnahme von zwei Takten einer Rhythmussequenz aus dem Tonträger der Kläger und ihre Übertragung auf den Tonträger der Beklagten eine Vervielfältigung im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2001/29/EG und damit auch des § 85 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 UrhG dar. Bei der Prüfung der Frage, ob ein von einem Tonträger entnommenes Audiofragment in einem neuen Werk in geänderter und beim Hören nicht wiedererkennbarer Form genutzt wird, ist auf das Hörverständnis eines durchschnittlichen Musikhörers abzustellen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts haben die Beklagten die Rhythmussequenz zwar in leicht geänderter, aber beim Hören wiedererkennbarer Form in ihren neuen Tonträger übernommen.

cc) Die Beklagten können sich insoweit nicht auf eine freie Benutzung im Sinne des § 24 Abs. 1 UrhG berufen. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat auf Vorlage des Senats entschieden, dass ein Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht keine Ausnahme oder Beschränkung in Bezug auf das Recht des Tonträgerherstellers aus Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2001/29/EG vorsehen darf, die nicht in Art. 5 dieser Richtlinie vorgesehen ist. Art. 5 der Richtlinie 2001/29/EG sieht keine (allgemeine) Ausnahme oder Beschränkung in Bezug auf die Verwertungsrechte der Rechtsinhaber aus Art. 2 bis 4 der Richtlinie 2001/29/EG für den Fall vor, dass ein selbständiges Werk in freier Benutzung des Werkes oder der Leistung eines Rechtsinhabers geschaffen worden ist. Danach ist es nicht mehr zulässig, in einem solchen Fall unabhängig davon, ob die Voraussetzungen einer der in Art. 5 der Richtlinie in Bezug auf die Verwertungsrechte der Rechtsinhaber aus Art. 2 bis 4 der Richtlinie 2001/29/EG vorgesehenen Ausnahmen oder Beschränkungen vorliegen, anzunehmen, der Schutzbereich eines Verwertungsrechts werde durch § 24 Abs. 1 UrhG in der Weise (immanent) beschränkt, dass ein selbständiges Werk, das in freier Benutzung des Werkes oder der Leistung eines Rechtsinhabers geschaffen worden ist, ohne seine Zustimmung verwertet werden darf.

dd) Die Beklagten können sich auch nicht mit Erfolg auf eine Schrankenregelung berufen. Die Voraussetzungen eines Zitats im Sinne des § 51 Satz 1 und 2 Nr. 3 UrhG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 3 Buchst. d der Richtlinie 2001/29/EG liegen nicht vor, weil kein Anhaltspunkt dafür besteht, dass die Hörer - wie für ein Zitat erforderlich - annehmen könnten, die dem Musikstück "Nur mir" unterlegte Rhythmussequenz sei einem fremden Werk oder Tonträger entnommen worden. Das übernommene Audiofragment ist auch kein unwesentliches Beiwerk im Sinne des § 57 UrhG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 3 Buchst. i der Richtlinie 2001/29/EG. Die Voraussetzungen einer Karikatur oder Parodie im Sinne von § 24 Abs. 1 UrhG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 3 Buchst. k der Richtlinie 2001/29/EG liegen ebenfalls nicht vor, weil kein Anhaltspunkt dafür besteht, dass das Musikstück "Nur mir" einen Ausdruck von Humor oder eine Verspottung darstellt. Die Schranke für Pastiches im Sinne des Art. 5 Abs. 3 Buchst. k der Richtlinie 2001/29/EG ist nicht einschlägig, weil der deutsche Gesetzgeber von der Möglichkeit, eine eigenständige Schrankenregelung für die Nutzung von Werken oder sonstigen Schutzgegenständen zum Zwecke von Pastiches vorzusehen, keinen Gebrauch gemacht hat.

ee) Eine abschließende Beurteilung ist dem Bundesgerichtshof allerdings verwehrt, weil das Oberlandesgericht keine Feststellungen dazu getroffen hat, ob die Beklagten ab dem 22. Dezember 2002 Handlungen der Vervielfältigung oder Verbreitung vorgenommen haben oder ob solche Handlungen ernsthaft und konkret zu erwarten waren. Der Umstand, dass die Beklagten vor dem 22. Dezember 2002 die von den Klägern beanstandeten Tonträger vervielfältigt und verbreitet haben, lässt nicht ohne Weiteres darauf schließen, dass ein solches Verhalten auch nach diesem Zeitpunkt im Sinne einer Erstbegehungsgefahr ernsthaft drohte. Dies gilt insbesondere, wenn - wovon im Revisionsverfahren mangels berücksichtigungsfähiger Feststellungen des Oberlandesgerichts auszugehen war - die Vervielfältigung und Verbreitung vor dem 22. Dezember 2002 rechtmäßig war. Die Begründung von Erstbegehungsgefahr durch ein in der Vergangenheit zulässiges Verhalten des Anspruchsgegners, das erst durch eine spätere Rechtsänderung unzulässig geworden ist, kommt nur dann in Betracht, wenn weitere Umstände hinzutreten, die eine Zuwiderhandlung in der Zukunft konkret erwarten lassen. Hierzu wird das Oberlandesgericht im neu eröffneten Berufungsverfahren Feststellungen zu treffen haben.

2. Hinsichtlich des Inverkehrbringens ist eine Verletzung des Verbreitungsrechts der Kläger als Tonträgerhersteller gemäß § 85 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 UrhG sowie ein Verbot nach § 96 Abs. 1 UrhG in Verbindung mit § 85 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 UrhG zu prüfen.

a) Eine Verletzung des Verbreitungsrechts der Kläger gemäß § 85 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 UrhG, der der Umsetzung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/115/EG dient, ist nicht gegeben. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat auf Vorlage des Senats entschieden, dass ein Tonträger, der von einem anderen Tonträger übertragene Musikfragmente enthält, keine Kopie dieses anderen Tonträgers im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/115/EG darstellt.

b) Sofern mit Blick auf ab dem 22. Dezember 2002 begangene Handlungen das Vervielfältigungsrecht der Kläger als Tonträgerhersteller gemäß § 85 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 UrhG verletzt wurde, kann hierauf ein Verbot des Inverkehrbringens gemäß § 96 Abs. 1 UrhG nicht gestützt werden. Diese Vorschrift ist im Streitfall unanwendbar, weil sie zu einer Ausweitung unionsrechtlich vollharmonisierter Verwertungsrechte führt und insoweit richtlinienwidrig ist. Kommt allein eine Verletzung des in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2001/29/EG und § 85 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 UrhG vorgesehenen Vervielfältigungsrechts in Betracht, so darf der durch diese Vorschriften gewährte Schutz nicht über eine Anwendung des § 96 Abs. 1 UrhG in den Bereich des durch Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/115/EG und § 85 Abs. 1 Satz 1 Fall UrhG geregelten Verbreitungsrechts ausgedehnt werden. Im Streitfall liegt allenfalls eine Verletzung des Vervielfältigungsrechts der Kläger als Tonträgerhersteller, nicht jedoch eine Verletzung ihres Verbreitungsrechts vor.

3. Eine abschließende Entscheidung ist dem Bundesgerichtshof auch deshalb verwehrt, weil die Kläger ihre Ansprüche hilfsweise auf ihr Leistungsschutzrecht als ausübende Künstler (§ 77 Abs. 2 Satz 1 UrhG, Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29/EG; Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/115/EG), weiter hilfsweise auf die Verletzung des Urheberrechts des Klägers zu 1 am Musikwerk (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 und 2, §§ 16, 17 Abs. 1 UrhG; Art. 2 Buchst. a, Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG) und äußerst hilfsweise auf wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutz (§ 4 Nr. 9 UWG aF, § 4 Nr. 3 UWG) gestützt haben. Insoweit fehlt es bisher ebenfalls an Feststellungen des Oberlandesgerichts, die nun von diesem zu treffen sind. Der Senat gibt auch insoweit einige Hinweise: Für auf das Leistungsschutzrecht als ausübende Künstler gestützte Ansprüche dürfte wohl nichts Anderes gelten als für auf das Leistungsschutzrecht als Tonträgerhersteller gestützte Ansprüche. Bezüglich der Ansprüche aus dem Urheberrecht ist schon fraglich, ob die entnommene Rhythmussequenz die Anforderungen an ein urheberrechtlich geschütztes Werk erfüllt. Jedenfalls dürfte anzunehmen sein, dass sich die Beklagten für sämtliche Nutzungshandlungen vor dem 22. Dezember 2002 auch insoweit auf das Recht zur freien Benutzung aus § 24 Abs. 1 UrhG berufen können. Ansprüche aus wettbewerbsrechtlichem Leistungsschutz dürften eher fernliegen.

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 15 Abs. 1 Nr. 1 und 2 UrhG (Allgemeines)

Der Urheber hat das ausschließliche Recht, sein Werk in körperlicher Form zu verwerten; das Recht umfasst insbesondere

1. das Vervielfältigungsrecht (§ 16),

2. das Verbreitungsrecht (§ 17),

§ 16 Abs. 1 UrhG (Vervielfältigungsrecht)

Das Vervielfältigungsrecht ist das Recht, Vervielfältigungsstücke des Werkes herzustellen, gleichviel ob vorübergehend oder dauerhaft, in welchem Verfahren und in welcher Zahl.

§ 17 Abs. 1 UrhG (Verbreitungsrecht)

Das Verbreitungsrecht ist das Recht, das Original oder Vervielfältigungsstücke des Werkes der Öffentlichkeit anzubieten oder in Verkehr zu bringen.

§ 24 UrhG (Freie Benutzung)

(1) Ein selbständiges Werk, das in freier Benutzung des Werkes eines anderen geschaffen worden ist, darf ohne Zustimmung des Urhebers des benutzten Werkes veröffentlicht und verwertet werden.

(2) Absatz 1 gilt nicht für die Benutzung eines Werkes der Musik, durch welche eine Melodie erkennbar dem Werk entnommen und einem neuen Werk zugrunde gelegt wird.

§ 51 Satz 1 und 2 Nr. 3 UrhG (Zitate)

Zulässig ist die Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Wiedergabe eines veröffentlichten Werkes zum Zweck des Zitats, sofern die Nutzung in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist. Zulässig ist dies insbesondere, wenn

3. einzelne Stellen eines erschienenen Werkes der Musik in einem selbständigen Werk der Musik angeführt werden.

§ 57 UrhG (Unwesentliches Beiwerk)

Zulässig ist die Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Wiedergabe von Werken, wenn sie als unwesentliches Beiwerk neben dem eigentlichen Gegenstand der Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentlichen Wiedergabe anzusehen sind.

§ 77 Abs. 2 Satz 1 UrhG (Vervielfältigung und Verbreitung)

Der ausübende Künstler hat das ausschließliche Recht, den Bild- oder Tonträger, auf den seine Darbietung aufgenommen worden ist, zu vervielfältigen und zu verbreiten.

§ 85 Abs. 1 Satz 1 UrhG (Verwertungsrechte)

Der Hersteller eines Tonträgers hat das ausschließliche Recht, den Tonträger zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen.

§ 96 Abs. 1 UrhG (Verwertungsverbot)

Rechtswidrig hergestellte Vervielfältigungsstücke dürfen weder verbreitet noch zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden.

§ 4 Nr. 3 UWG (Mitbewerberschutz)

Unlauter handelt, wer

3. Waren oder Dienstleistungen anbietet, die eine Nachahmung der Waren oder Dienstleistungen eines Mitbewerbers sind, wenn er

a) eine vermeidbare Täuschung der Abnehmer über die betriebliche Herkunft herbeiführt,

b) die Wertschätzung der nachgeahmten Ware oder Dienstleistung unangemessen ausnutzt oder beeinträchtigt oder

c) die für die Nachahmung erforderlichen Kenntnisse oder Unterlagen unredlich erlangt hat;

Art. 2 Buchst. c Richtlinie 2001/29/EG

Die Mitgliedstaaten sehen für die Tonträgerhersteller in Bezug auf ihre Tonträger das ausschließliche Recht vor, die unmittelbare oder mittelbare, vorübergehende oder dauerhafte Vervielfältigung auf jede Art und Weise und in jeder Form ganz oder teilweise zu erlauben oder zu verbieten.

Art. 5 Abs. 3 Buchst. d, i und k Richtlinie 2001/29/EG

Die Mitgliedstaaten können in den folgenden Fällen Ausnahmen oder Beschränkungen in Bezug auf die in den Artikeln 2 und 3 vorgesehenen Rechte vorsehen:

d) für Zitate wie Kritik oder Rezensionen, sofern sie ein Werk oder einen sonstigen Schutzgegenstand betreffen, das bzw. der der Öffentlichkeit bereits rechtmäßig zugänglich gemacht wurde, sofern - außer in Fällen, in denen sich dies als unmöglich erweist - die Quelle, einschließlich des Namens des Urhebers angegeben wird und sofern die Nutzung den anständigen Gepflogenheiten entspricht und in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist;

i) für die beiläufige Einbeziehung eines Werks oder sonstigen Schutzgegenstands in anderes Material;

k) für die Nutzung zum Zwecke von Karikaturen, Parodien oder Pastiches;

Art. 9 Abs. 1 Buchst. b Richtlinie 2006/115/EG

Die Mitgliedstaaten sehen für Tonträgerhersteller in Bezug auf ihre Tonträger das ausschließliche Recht vor, die Tonträger und Kopien davon der Öffentlichkeit im Wege der Veräußerung oder auf sonstige Weise zur Verfügung zu stellen.

Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG

Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.

Art. 13 Charta der Grundrechte der Europäischen Union

Kunst und Forschung sind frei. Die akademische Freiheit wird geachtet.

Art. 17 Abs. 2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union

Geistiges Eigentum wird geschützt.

Urteil vom 30. April 2020 - I ZR 115/16 - Metall auf Metall IV

Vorinstanzen:

LG Hamburg - Urteil vom 8. Oktober 2004 - 308 O 90/99

OLG Hamburg - Urteil vom 7. Juni 2006 - 5 U 48/05

BGH - Urteil vom 20. November 2008 - I ZR 112/06, GRUR 2009, 403 = WRP 2009, 308 - Metall auf Metall I

OLG Hamburg - Urteil vom 17. August 2011 - 5 U 48/05

BGH - Urteil vom 13. Dezember 2012 - I ZR 182/11, GRUR 2013, 614 = WRP 2013, 804 - Metall auf Metall II

BVerfG - Urteil vom 31. Mai 2016 - 1 BvR 1585/13, BVerfGE 142, 74

BGH - Beschluss vom 1. Juni 2017 - I ZR 115/16, GRUR 2017, 895 = WRP 2017, 1114 - Metall auf Metall III

EuGH - Urteil vom 29. Juli 2019 - C-476/17, GRUR 2019, 929 = WRP 2019, 1156 - Pelham u.a.




BVerfG: Eilantrag gegen Nutzung von Daten gesetzlich Krankenversicherter in pseudonymisierter oder anonymisierter Form für digitale Innovationen und medizinischen Forschung abgewiesen

BVerfG
Beschluss vom 19.03.2020
1 BvQ 1/20


Das BVerfG hat bei offenen Erfolgsaussichten in einem etwaigen Hauptsacheverfahren einen Eilantrag gegen die Nutzung von Daten gesetzlich Krankenversicherter in pseudonymisierter oder anonymisierter Form für digitale Innovationen und medizinischen Forschung abgelehnt.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Eilantrag gegen Auswertung von Krankenversicherungsdaten bei offenen Erfolgsaussichten abgelehnt

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Ersten Senats einen Antrag auf vorläufige Außerkraftsetzung des Vollzugs neu in das SGB V eingefügter Vorschriften abgelehnt, die die Nutzung von Daten gesetzlich Krankenversicherter in pseudonymisierter oder anonymisierter Form im Hinblick auf digitale Innovationen und für weitere Zwecke, unter anderem zur medizinischen Forschung, ermöglichen. Das Verfahren wirft schwierige verfassungsrechtliche Fragen auf, über die im Eilverfahren inhaltlich nicht entschieden werden kann. Die Kammer hatte deshalb aufgrund summarischer Prüfung im Rahmen einer Folgenabwägung zu entscheiden und den für die Prüfung der vorläufigen Außerkraftsetzung eines Gesetzes geltenden strengen Maßstab anzuwenden. Die Nachteile, die sich aus einer vorläufigen Anwendung der Vorschriften ergeben, wenn sich das Gesetz im Nachhinein als verfassungswidrig erwiese, sind nach Ansicht der Kammer zwar von erheblichem Gewicht. Sie überwiegen aber nicht deutlich die Nachteile, die entstünden, wenn die Vorschriften außer Kraft träten, sich das Gesetz aber später als verfassungsgemäß erwiese.

Sachverhalt:

§ 68a Abs. 5 SGB V ermächtigt die gesetzlichen Krankenkassen dazu, versichertenbezogene Daten pseudonymisiert oder, sofern möglich, auch anonymisiert auszuwerten, um den Bedarf nach und mögliche Versorgungseffekte von digitalen Innovationen im Gesundheitsbereich zu evaluieren. Die §§ 303a ff. SGB V sollen die Nutzbarkeit bestimmter Gesundheitsdaten unter anderem für Forschungszwecke verbessern. Sie etablieren zu diesem Zweck ein Datentransparenzverfahren, in dem personenbezogene Daten der gesetzlich Versicherten wie Alter, Geschlecht oder Wohnort sowie bestimmte Gesundheitsdaten an den Spitzenverband Bund der Krankenkassen als Datensammelstelle übermittelt und von diesem anschließend an ein noch einzurichtendes Forschungsdatenzentrum weitergegeben werden. Dieser Vorgang wird von einem Pseudonymisierungsverfahren begleitet, wobei die Pseudonyme kassenübergreifend eindeutig einem bestimmten Versicherten zugeordnet werden. Das Forschungsdatenzentrum stellt den Nutzungsberechtigten auf Antrag die Datensätze grundsätzlich aggregiert und anonymisiert, gegebenenfalls aber auch pseudonymisiert oder in kleinen Fallzahlen zur Verfügung. Die Nutzungsberechtigten dürfen diese Daten unter anderem für die medizinische Forschung sowie für Planung, Analyse und Evaluation der Gesundheitsversorgung, aber auch zur Unterstützung politischer Entscheidungsprozesse und für Aufgaben der Gesundheitsberichterstattung nutzen. Das Gesetz sieht verschiedene Mechanismen zur Einhaltung des Datenschutzes seitens der Nutzungsberechtigten vor. Der gesetzlich versicherte Antragsteller leidet an einer seltenen Erbkrankheit und befürchtet, trotz Pseudo- oder Anonymisierung aus den Datensätzen reidentifiziert werden zu können. Weiter bringt er Bedenken bezüglich der IT-Sicherheit der Daten der gesetzlich Versicherten vor.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

I. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, wenn - wie hier - die Erfolgsaussichten offen erscheinen. Eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde wäre nach derzeitigem Stand weder offensichtlich unzulässig noch unbegründet, da aufgrund des sensiblen Charakters vieler erfasster Daten und deren flächendeckender Erhebung tiefe Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht verbunden sein können, deren Rechtfertigung durch die vom Gesetzgeber verfolgten Gemeinwohlziele nur unter näherer Prüfung der Ausgestaltung im Einzelnen möglich ist. Dass sich hier offene Fragen stellen, ergibt sich schon aus den im Gesetzgebungsverfahren vorgebrachten Bedenken der angehörten Sachverständigen wie auch seitens der Gesetzgebungsorgane. Ob diese durchgreifen, bedarf einer vertieften Betrachtung, die erst im Hauptsacheverfahren geleistet werden kann. Im Rahmen der daher gebotenen Folgenabwägung muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre. Wird die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes begehrt, ist bei der Folgenabwägung ein besonders strenger Maßstab anzulegen. Das Bundesverfassungsgericht darf von seiner Befugnis, den Vollzug eines in Kraft getretenen Gesetzes auszusetzen, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen, da der Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung stets ein erheblicher Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist. Müssen die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe schon im Regelfall so schwer wiegen, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabdingbar machen, so müssen sie im Fall der begehrten Außervollzugsetzung eines Gesetzes darüber hinaus besonderes Gewicht haben. Insoweit ist von entscheidender Bedeutung, ob die Nachteile irreversibel oder nur sehr erschwert revidierbar sind, um das Aussetzungsinteresse durchschlagen zu lassen.

II. Ausgehend von diesen Maßstäben scheidet eine Aussetzung des Vollzugs der verfahrensgegenständlichen Vorschriften aus.

Ergeht eine einstweilige Anordnung nicht, hätte die noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde aber Erfolg, so würden die Daten des Antragstellers sowie aller weiteren gesetzlich Versicherten in Deutschland zu Unrecht für die gesetzlich vorgesehenen Zwecke genutzt. Darin liegt vor allem in Anbetracht des teils sensiblen und in hohem Maße persönlichkeitsrelevanten Charakters der genutzten Daten und der flächendeckenden Erhebung ein erheblicher Grundrechtseingriff. Ein persönlichkeitsrechtlich relevanter Nachteil tritt aber nicht unmittelbar durch den Vollzug der angegriffenen Vorschriften, sondern erst dann ein, wenn trotz Pseudonymisierung oder Anonymisierung durch die datenverarbeitenden Stellen ein Personenbezug zu bestimmten Versicherten hergestellt wird, was das Gesetz durch verschiedene Vorkehrungen gerade verhindern will. Auch ein vom Antragsteller befürchteter missbräuchlicher Zugriff Dritter auf diese Daten kann nicht mit hinreichender Sicherheit als unmittelbar bevorstehend angenommen werden. Im Hinblick auf zu Unrecht erhobene und gespeicherte Daten könnten gegenüber den Nutzungsberechtigten zudem Löschungsanordnungen ergehen, sodass der eingetretene Nachteil nicht irreversibel wäre.

Wird die begehrte einstweilige Anordnung hingegen erlassen, während einer künftigen Verfassungsbeschwerde im Hauptsacheverfahren der Erfolg zu versagen wäre, hätte dies zur Folge, dass im Falle des § 68a Abs. 5 SGB V die Auswertung durch die Krankenkassen und im Falle der §§ 303a ff. SGB V die Übermittlung der genannten Daten an die Datensammelstelle vollständig unterblieben. Die Auswertung der ohnehin bereits bei den Krankenkassen vorhandenen Daten nach § 68a Abs. 5 SGB V wäre zwar grundsätzlich nachholbar, aber die vom Gesetzgeber bezweckte empirische Grundlage für eine Evaluation hinsichtlich digitaler Anwendungen stünde zeitlich erst später bereit, womit auch die Evaluation selbst erschwert würde. Im Falle der §§ 303a ff. SGB V stünden die zu übermittelnden Daten für die nutzungsberechtigten Akteure hingegen überhaupt nicht zentral abrufbar zur Verfügung, sodass sie nicht für wichtige gemeinwohlrelevante Belange wie für die medizinische Forschung genutzt werden könnten.

Angesichts dessen überwiegen die dem Antragsteller bei Nichtergehen einer einstweiligen Anordnung drohenden Nachteile nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit gegenüber den Nachteilen, die bei Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung trotz späterer Erfolglosigkeit einer noch zu erhebenden Verfassungsbeschwerde einzutreten drohen.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:





LG Berlin: Auftrag an Legal-Tech-Plattform Mietpreisbremse durchzusetzen geht über vergütungspflichtige Inkassodienstleistung im Sinne des Rechtsdienstleistungsgesetzes hinaus

LG Berlin
Urteil vom 29.04.2020
64 S 95/19


Das LG Berlin hat entschieden, dass der Auftrag eines Mieters an eine Legal-Tech-Plattform "die Mietpreisbremse durchzusetzen" über eine "vergütungspflichtige Inkassodienstleistung" im Sinne des Rechtsdienstleistungsgesetzes hinausgeht. Das Gericht hat die Revision zum BGH zugelassen.

Die Pressemitteilung des Gerichts:

Landgericht Berlin: Auftrag eines Mieters an eine Legal-Tech-Plattform, die „Mietpreisbremse“ durchzusetzen, ist nach der gegenwärtigen Fassung des Rechtsdienstleistungsgesetzes keine vergütungspflichtige Inkassodienstleistung

Die für Berufungen in Mietsachen zuständige Zivilkammer 64 des Landgerichts Berlin hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 19. Februar 2020 in dem heute in öffentlicher Sitzung verkündeten und dabei mündlich kurz begründeten Urteil entschieden, dass die Rückforderung einer von einem Mieter an seine Vermieterin unter Vorbehalt gezahlten überhöhten Miete nicht mehr als „eigenständige“ Inkassodienstleistung im Sinne der aktuellen Fassung des Rechtsdienstleistungsgesetzes (RDG) bewertet werden könne, wenn der Auftrag des Mieters an die für ihn handelnde Legal-Tech-Plattform darüber hinausgehend gelautet habe, für ihn die „Mietpreisbremse“ bei der Vermieterin durchzusetzen und die im Wohnungsmietvertrag vereinbarte Miete auf das höchstzulässige Maß herabzusetzen.

Zwar könne die Klägerin – eine als Inkassodienstleisterin zugelassene Legal-Tech-Plattform – aus dem an sie abgetretenen Recht des Mieters eine gegen die Vorschriften der „Mietpreisbremse“ verstoßende und von dem Mieter an seine Vermieterin gezahlte überhöhte Miete zurückfordern. Da diese Tätigkeit hier jedoch als Mittel zum Zweck der Durchsetzung der „Mietpreisbremse“ und nicht als „eigenständige“ Inkassotätigkeit im Sinne des RDG zu bewerten sei, könne die Klägerin dafür keine Vergütung nach dem Gesetz über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (RVG) beanspruchen und daher auch nicht von der Vermieterin einklagen.

In dem zugrundeliegenden Rechtsstreit hatte das Amtsgericht Charlottenburg eine u. a. auf Auskunft über vergangene Mieterhöhungen und Modernisierungen, auf Rückzahlung einer überhöhten Monatsmiete sowie auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten gerichtete Klage gegen eine Vermieterin mit Urteil vom 22. März 2019 in der ersten Instanz abgewiesen. Auf die dagegen eingelegte Berufung der klagenden Legal-Tech-Plattform, die gewerblich u.a. die Rechte von Wohnraummietern aus den Vorschriften der sog. „Mietpreisbremse“ (§§ 556d ff. BGB) geltend macht und die sich dafür Rechte des Mieters gegen seine Vermieterin hatte abtreten lassen, haben die Richter der Zivilkammer 64 mit ihrem heutigen Urteil die Entscheidung der ersten Instanz zu den geltend gemachten Auskunftsansprüchen bestätigt, aber der Klage auf Rückzahlung einer überhöhten Monatsmiete im Ergebnis stattgegeben. Die Zivilkammer 64 – so der Vorsitzende in der heutigen Urteilsbegründung – habe bereits in anderen Verfahren entschieden, dass die gesetzlichen Vorschriften über die „Mietpreisbremse“ einschließlich der Berliner Mietenbegrenzungsverordnung wirksam seien und daher der überhöhte Teil der Monatsmiete zurückzuzahlen sei.

Die eigentliche Bedeutung dieses Urteils liegt aber darin, dass nach Auffassung der Zivilkammer 64 des Landgerichts Berlin der vom Mieter an die Legal-Tech-Plattform erteilte Auftrag zur Durchsetzung der „Mietpreisbremse“, auch wenn er die Rückforderung einer vom Mieter gezahlten überhöhten Monatsmiete umfasst, nicht mehr als „eigenständige“ Inkassodienstleistung im Sinne der aktuellen Fassung des Rechtsdienstleistungsgesetzes (RDG) bewertet werden könne. Daher könne die Klägerin für diese Tätigkeit auch keine Vergütung nach dem RVG – im konkreten Fall vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 534,31 Euro nebst Zinsen – beanspruchen.

Die Zivilkammer 64 – so der Vorsitzende in der heutigen Urteilsbegründung – folge zwar der Auffassung des Bundesgerichtshofs in dessen Urteil vom 29. November 2019 – VIII ZR 285/18 –, wonach der Begriff der Inkassotätigkeit ausweislich der Gesetzesbegründung des RDG weit auszulegen sei, um neuen Berufsbildern nicht von vorne herein den Weg zu verstellen und den Bereich der Rechtsberufe und der freien Berufe zu entbürokratisieren und zu liberalisieren.

Im hier zu entscheidenden Fall sei aber angesichts des zur Beauftragung der Klägerin dienenden und mit den Worten „Mietsenkung beauftragen“ beschrifteten Buttons auf ihrer Homepage das Interesse des Mieters nicht darauf gerichtet gewesen, die nach Ausspruch der Rüge wegen Verstoßes gegen die „Mietpreisbremse“ unter Vorbehalt gezahlte Miete teilweise zurück zu erlangen, also Zahlungsansprüche durchzusetzen. Vielmehr habe die Klägerin dem Mieter versprochen, seine Rechte aus den gesetzlichen Vorschriften über die „Mietpreisbremse“ nach Kräften durchzusetzen und die Vermieterin dazu zu bringen, die vertraglich vereinbarte Miete auf das gesetzlich zulässige Maß zu reduzieren. Auch die Vergütung der Klägerin habe nicht etwa vom Gesamtbetrag der insgesamt erfolgreich zurückgeforderten Mietzahlungen, sondern vom Jahresbetrag der durchzusetzenden Mietreduzierung abhängen sollen.

Nicht anders als im Falle der Abwehr einer ungerechtfertigten Mieterhöhung, die auch nach der Gesetzesauslegung des Bundesgerichtshofs nicht mehr als Inkassodienstleistung im Sinne des RDG begriffen werden könne, könne daher nach Auffassung der Richter der Zivilkammer 64 – angesichts des gegenwärtigen Wortlauts des RDG und angesichts des viel weiter gehenden an die Klägerin erteilten Auftrags – die Rückforderung einer überhöhten Miete nicht als „eigenständige“ Inkassodienstleistung angesehen werden, sondern diene der Anspruchsabwehr. In der mündlichen Urteilsbegründung hat der Vorsitzende der Zivilkammer 64 ergänzend ausgeführt, dass es aus Sicht der Kammer erforderlich sei, dass der Gesetzgeber durch eine Konkretisierung des RDG klarstelle, ob auch solche weiter gehenden Tätigkeiten wie die der Klägerin im hiesigen Fall noch als zulässige Inkassodienstleistung bewertet werden sollen.

Dieses Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Zivilkammer 64 hat die Revision zum Bundesgerichtshof mit der Begründung zugelassen, dass sie mit ihrem Urteil von der Rechtsprechung des VIII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs abweiche. Eine Revision kann beim Bundesgerichtshof innerhalb von einem Monat ab förmlicher Zustellung des Urteils eingelegt werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten muss auf die schriftlichen Urteilsgründe verwiesen werden. Nach den Presserichtlinien kann über diese aber erst berichtet werden, wenn das heute verkündete Urteil den Parteien in schriftlicher Form zugestellt wurde bzw. alle Verfahrensbeteiligten dieses Urteil sicher erhalten haben.

Landgericht Berlin, Urteil vom 29. April 2020, Aktenzeichen: 64 S 95/19
Amtsgericht Charlottenburg, Urteil vom 22. März 2019, Aktenzeichen: 220 C 111/18





Markenrecht - Zweiter Teil des Markenrechtsmodernisierungsgesetzes tritt am 01.05.2020 in Kraft - Änderungen Verfallsverfahren und Nichtigkeitsverfahren

Der zweite Teil des Markenrechtsmodernisierungsgesetzes (Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc und Nummer 33) tritt am 1. Mai in Kraft.

Weitere Erläuterungen des DPMA zu den Änderungen finden Sie hier:

Änderungen im Verfalls- und Nichtigkeitsverfahren ab 1. Mai 2020

Die Pressemitteilung des DPMA:

"Effizient, zügig und kostengünstig": Gesetzesänderungen stärken Rechte von Markeninhabern
Zweiter Teil des Markenrechtsmodernisierungsgesetzes tritt am 1. Mai in Kraft – DPMA-Präsidentin: Regelungen bringen mehr Rechtssicherheit

München. Vom 1. Mai an stärken Gesetzesänderungen die Rechte von Markeninhabern: In Nichtigkeitsverfahren, die bisher ausschließlich vor den ordentlichen Gerichten verhandelt werden mussten, können nun auch die Fachleute des Deutschen Patent- und Markenamts (DPMA) entscheiden. Zudem können Verfallsverfahren vollständig beim DPMA durchgeführt werden. "Mit den neuen Regelungen werden Verfalls- und Nichtigkeitsverfahren für Markeninhaber effizienter, zügiger und kostengünstiger. Das stärkt ihre Rechte und schafft mehr Rechtssicherheit", kommentierte DPMA-Präsidentin Cornelia Rudloff-Schäffer.

Nichtigkeitsverfahren und Verfallsverfahren jetzt beim DPMA möglich
Eine neue Regelung gibt es zum einen bei Anträgen auf Nichtigkeit und Löschung einer eingetragenen Marke aufgrund eines entgegenstehenden älteren Rechts: Wollte ein Rechteinhaber – wenn er seine älteren Rechte verletzt sah – ein solches Nichtigkeitsverfahren gegen eine jüngere Marke einleiten, so konnte er dies bisher nur bei den ordentlichen Gerichten tun. Ab 1. Mai 2020 können Inhaber der in den §§ 9 bis 13 MarkenG genannten älteren Rechte Nichtigkeitsverfahren auch direkt beim DPMA durchführen lassen. Der Antrag kann dabei auch auf mehrere ältere Rechte gestützt werden (§ 51 Abs. 1 MarkenG). Allerdings ist die Erklärung der Nichtigkeit aufgrund entgegenstehender älterer Rechte in bestimmten Fällen ausgeschlossen – etwa, wenn der Inhaber der älteren Rechte die jüngere Marke geduldet oder seine eigene Marke nicht benutzt hat (§ 51 Abs. 2 und Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 MarkenG). Widerspricht der Inhaber der angegriffenen Marke dem Antrag auf Nichtigerklärung innerhalb von zwei Monaten, so wird das Nichtigkeitsverfahren durchgeführt. Widerspricht er dem Antrag nicht, so wird seine Marke für nichtig erklärt und gelöscht.

Auch Verfallsverfahren können ab 1. Mai vollständig im DPMA durchgeführt werden. Eingetragene Marken werden auf Antrag für verfallen erklärt und gelöscht, wenn sie innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren nicht benutzt wurden, sie inzwischen geeignet sind, das Publikum zu täuschen oder wenn der Inhaber nicht mehr die in § 7 MarkenG genannten Voraussetzungen erfüllt. Für Kollektivmarken und Gewährleistungsmarken bestehen weitere Verfallsgründe.

Bisher mussten Antragsteller Verfallsverfahren bei den ordentlichen Gerichten weiterverfolgen, wenn der Markeninhaber dem Antrag auf Erklärung des Verfalls und Löschung seiner Marke widersprach. Künftig können solche Verfahren komplett beim DPMA zum Abschluss gebracht werden. Auch hier gilt, dass ein Verfahren nur dann durchgeführt wird, wenn der Inhaber der angegriffenen Marke dem Nichtigkeitsantrag innerhalb von zwei Monaten widerspricht. Zusätzlich setzt die Durchführung des Verfahrens voraus, dass der Antragsteller innerhalb einer bestimmten Frist die Weiterverfolgungsgebühr bezahlt. Widerspricht der Inhaber der angegriffenen Marke dem Nichtigkeitsantrag nicht, wird seine Marke für verfallen erklärt und gelöscht.

Sowohl Nichtigkeitsverfahren als auch Verfallsverfahren können weiterhin bei den ordentlichen Gerichten eingeleitet werden, der Antragsteller hat also die Wahl. Eine Klage ist aber dann unzulässig, wenn bereits ein Antrag zu demselben Streitgegenstand beim DPMA gestellt wurde. Umgekehrt ist ein Antrag beim DPMA unzulässig, wenn über denselben Streitgegenstand eine Klage vor einem Gericht rechtshängig ist. Im Vergleich zu Gerichtsverfahren können die Verfahren beim DPMA für den Antragsteller wegen der niedrigeren Gebühren kostengünstiger sein. Zudem bleibt das Verfahren bei einer Institution, was eine einheitliche Rechtsanwendung erleichtert und zu mehr Rechtssicherheit beitragen kann. Beim DPMA besteht für Verfahrensbeteiligte mit Wohnsitz, Geschäftssitz oder Niederlassung in Deutschland auch kein Anwaltszwang.

Die gesetzlichen Änderungen gehen auf die europäische Markenrechtsrichtlinie zurück, die bereits seit 2016 gilt und die zum 1. Mai 2020 abschließend umzusetzen ist. Die weiteren durch die Richtlinie vorgesehenen Regelungen sind bereits mit dem Markenrechtsmodernisierungsgesetz zum 14. Januar 2019 in Kraft getreten.

Weitere Informationen zu den Neuerungen ab Mai 2020 und zu den jeweils anfallenden Gebühren finden Sie auf unserer Internetseite Änderungen im Verfalls- und Nichtigkeitsverfahren.

Das Deutsche Patent- und Markenamt
Erfindergeist und Kreativität brauchen wirksamen Schutz. Das DPMA ist das deutsche Kompetenzzentrum für alle Schutzrechte des geistigen Eigentums – für Patente, Gebrauchsmuster, Marken und Designs. Als größtes nationales Patentamt in Europa und fünftgrößtes nationales Patentamt der Welt steht es für die Zukunft des Erfinderlandes Deutschland in einer globalisierten Wirtschaft. Seine fast 2 800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an drei Standorten – München, Jena und Berlin – sind Dienstleister für Erfinder und Unternehmen. Sie setzen Innovationsstrategien des Bundes um und entwickeln die nationalen, europäischen und internationalen Schutzsysteme weiter.



OLG Frankfurt: Wer mehrdeutiges Sharepic postet muss eigene Deutung der enthaltenen Äußerung kenntlich machen wenn andere Auslegung Persönlichkeitsrechtsverletzung ist

OLG Frankfurt
Beschluss vom 16.04.2020
16 U 9/20

Das OLG Frankfurt hat entschieden, dass derjenige, der ein Sharepic postet, bei mehrdeutiger Interpretationsmöglichkeit die eigene Deutung der Äußerung kenntlich machen muss, wenn die andere Auslegung eine Persönlichkeitsrechtsverletzung darstellt. Tut er dies nicht, so haftet er auf Unterlassung.

Die Pressemitteilung des Gerichts:

Interpretation mehrdeutiger Äußerungen muss kenntlich gemacht werden

Kann eine Äußerung unterschiedlich gedeutet werden, ist derjenige, der die Äußerung in einer Veröffentlichung wiedergibt, verpflichtet, die eigene Deutung der Äußerung durch einen Interpretationsvorbehalt kenntlich zu machen. Wenn dies nicht geschieht, ist er zum Unterlassen verpflichtet, entschied das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) in einem heute veröffentlichten Beschluss.

Die Klägerin ist Mitglied des Deutschen Bundestags. Sie nimmt den Beklagten auf Unterlassung in Anspruch. Der Beklagte hatte eine Werbeanzeige in Form eines sog. SharePic auf Facebook gepostet. Das SharePic zeigte den Kopf der Klägerin in sprechender Pose mit dem Text: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist Sex mit Kindern doch ganz o. k. Ist mal gut jetzt.“

Das Landgericht hatte den Beklagten verurteilt, es zu unterlassen, durch diese Darstellung den Eindruck zu erwecken, dass die Klägerin den dort angegebenen Text wörtlich gesagt habe. Das OLG bestätigte die Entscheidung.

Zunächst stellte das OLG klar, dass es sich hier um eine Tatsachenbehauptung und nicht allein eine Meinungsäußerung handele. Der Beklagte habe den Eindruck erweckt, dass er die Klägerin wörtlich zitiere. So sei die Klägerin mit ihrem Kopf und einem zum Sprechen geöffneten Mund dargestellt worden; auch der Beginn des Textes mit dem Wort „Komma“ und die umgangssprachliche Ausdrucksweise unterstrichen diesen Eindruck. Der oberhalb des SharePic vorhandene Verweis auf einen Artikel in der „Welt“

sei angesichts der Plakativität und Auffälligkeit der Darstellung nicht geeignet, der Darstellung ein abweichendes Verständnis zu geben.

Diese Darstellung beeinträchtige das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin. Der Eindruck, es handele sich um ein Zitat, sei tatsächlich unzutreffend. Dabei wirke der grundrechtliche Schutz auch gegenüber unrichtigen, verfälschten oder entstellten Wiedergaben einer Äußerung - wie hier. Mit einem Zitat werde nicht eine subjektive Meinung des Kritikers zur Diskussion gestellt, sondern eine objektive Tatsache über den Kritisierten behauptet. „Deswegen ist das Zitat, das als Belegkritik verwendet wird, eine besonders scharfe Waffe im Meinungskampf,“ betont das OLG unter Verweis auf höchstrichterliche Rechtsprechung. Hier sei der Eindruck, es handele sich um ein Zitat der Klägerin, bereits deshalb unzutreffend, da die Klägerin die angegriffene Äußerung in der dargestellten Form nicht getätigt habe. Sie habe lediglich die Worte „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist“ geäußert.

Ohne Erfolg verweise der Beklagte darauf, dass er den Einwurf der Kläger in einer öffentlichen Debatte so wiedergebe, wie er von der Öffentlichkeit wahrgenommen worden sei. Vielmehr liege bereits dann eine unrichtige Wiedergabe vor, wenn der Eindruck erweckt werde, der Zitierte habe sich eindeutig in einem bestimmten Sinn geäußert, obwohl mehrere Interpretationen möglich seien und nicht kenntlich gemacht werde, dass es sich hier nur um eine Interpretation einer mehrdeutigen Aussage handele. Maßgeblich sei dabei nicht das vertretbare Verständnis eines Durchschnittslesers. Es komme vielmehr darauf an, „was der Zitierte gemessen an seiner Wortwahl, dem Kontext seiner Gedankenführung und dem darin erkennbar gemachten Anliegen zum Ausdruck gebracht hat,“ betont das OLG.

Hier habe die Klägerin lediglich die Worte „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist“ geäußert. Dies sei für sich gesehen inhaltsleer und könne allein im Zusammenhang einen Sinn erhalten. Die hier streitgegenständliche Äußerung sei im Rahmen einer Sitzung 1986 gefallen, in welcher die damalige Rednerin der Grünen von einem CDU-Abgeordneten gefragt worden sei, wie sie zu einem Beschluss der Grünen in NRW stehe, die Strafandrohung gegen sexuelle Handlungen an Kindern aufzuheben. Dies habe die Klägerin zu dem zitierten Einwurf veranlasst. Ihr Einwurf sei zumindest mehrdeutig. Zwar habe die „Welt“ in dem verlinkten Artikel die Frage aufgeworfen, „klingt das nicht, als wäre Sex mit Kindern ohne Gewalt o. k.?“ Der Einwurf könne aber auch dahingehend verstanden werden, dass die Klägerin lediglich den Inhalt des angesprochenen

Beschlusses klarstellen wollte. Dafür spreche, „dass sie mit der Formulierung „Komma“ zu erkennen gab, an die Äußerung des CDU-Abgeordneten anschließen und sie vervollständigen zu wollen; eine inhaltliche Positionierung ist damit nicht zwangsläufig verbunden.“

Wenn demnach unterschiedliche Deutungen - wie hier - möglich sind, sei der Zitierende verpflichtet, die eigene Deutung einer Äußerung durch einen Interpretationsvorbehalt als solche kenntlich zu machen, betont das OLG. Dies sei hier nicht geschehen.

Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.

Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Beschluss vom 16.4.2020, Az. 16 U 9/20 (vorausgehend Landgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 5.12.2019, Aktenzeichen 2-03 O 194/19)



BVerwG: Versandhandel mit Arzneimitteln umfasst auch das Einsammeln von Rezepten und Botenauslieferungen im Einzugsbereich der Präsenzapotheke

BVerwG
Urteil vom 23.04.2020
3 C 16.18


Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass der Versandhandel mit Arzneimitteln auch das Einsammeln von Rezepten und Botenauslieferungen im Einzugsbereich der Präsenzapotheke umfasst.

Die Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts:

Versandhandel mit Arzneimitteln umfasst auch das Einsammeln von Rezepten und Botenauslieferungen im Einzugsbereich der Präsenzapotheke

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass eine Präsenzapotheke mit Versandhandelserlaubnis im örtlichen Einzugsbereich ihrer Apotheke eine Einrichtung zum Sammeln von Verschreibungen und Arzneimittelbestellungen betreiben und die bestellten Medikamente durch eigene Boten ausliefern darf.

Die Klägerin ist Apothekerin und betreibt in der beklagten Stadt u.a. die P-Apotheke. Sie verfügt zudem über eine Erlaubnis zum Versand von apothekenpflichtigen Arzneimitteln. Seit Ende 2014 unterhält sie im Eingangsbereich eines Supermarktes eine Einrichtung zum Sammeln von Verschreibungen und Arzneimittelbestellungen. Die Kunden können ihre Rezepte zusammen mit einem ausgefüllten Bestellschein in einen dafür vorgesehenen Umschlag stecken und in den angebrachten Briefkasten werfen. Der Briefkasten wird von der Klägerin oder einem Mitarbeiter regelmäßig geleert. Die Auslieferung der Medikamente erfolgt innerhalb des Stadtgebietes (versandkostenfrei) durch Boten der Klägerin. Außerhalb des Stadtgebietes werden die bestellten Arzneimittel durch einen externen Dienstleister (kostenpflichtig) versandt. Durch Ordnungsverfügung untersagte die Beklagte der Klägerin den Betrieb der Einrichtung mit der Begründung, es handele sich um eine unzulässige Rezeptsammelstelle. Sie sei von der Versandhandelserlaubnis nicht umfasst. Die gegen die Ordnungsverfügung gerichtete Klage ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben.


Das Bundesverwaltungsgericht hat der Revision der Klägerin stattgegeben und die Ordnungsverfügung aufgehoben. Die von der Klägerin betriebene Einrichtung zum Sammeln von Rezepten und Bestellungen von Arzneimitteln ist von ihrer Versandhandelserlaubnis umfasst. Die Vorschriften des Apotheken- und des Arzneimittelrechts über den Versand von apothekenpflichtigen Arzneimitteln schließen eine Zustellung durch eigene Boten der Apotheke weder nach ihrem Wortlaut noch nach ihrem Regelungszweck aus. Dem Begriff des Versandhandels unterfällt auch ein Vertriebsmodell, das auf einen Versand im örtlichen Einzugsbereich der Apotheke ausgerichtet ist und hierfür eigene Boten der Apotheke einsetzt. Die Arzneimittelsicherheit ist nicht mehr gefährdet als beim Versand über größere Entfernungen mittels externer Versanddienstleister. Dass eine Zulassung dieses Vertriebsmodells zu einem signifikanten Rückgang der Apothekendichte und einer Gefährdung der Arzneimittelversorgung führen könnte, ist ebenfalls nicht ersichtlich.


BVerwG 3 C 16.18 - Urteil vom 23. April 2020

Vorinstanzen:

OVG Münster, 13 A 2289/16 - Urteil vom 02. Juli 2018 -

VG Gelsenkirchen, 19 K 5025/15 - Urteil vom 27. September 2016 -


BVerfG: Alter Pressebericht in Online-Archiv einer Zeitschrift über Kindschaftsverhältnis zu prominentem Vater muss nicht gelöscht werden

BVerfG
Beschluss vom 25.02.2020
1 BvR 1282/17


Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass ein alter Pressebericht im Online-Archiv einer Zeitschrift über das Kindschaftsverhältnis zu einem prominenten Vater nicht gelöscht werden muss.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Keine Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch im Internet verfügbaren alten Pressebericht, aus dem sich Kindschaftsverhältnis zu prominentem Vater ergibt

Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen die zivilgerichtliche Zurückweisung eines Unterlassungsbegehrens gegen ein Online-Pressearchiv richtet. Im Online-Archiv eines Magazins war ein mehr als 35 Jahre zurückliegender Bericht auffindbar, aus dem sich ergibt, dass der Beschwerdeführer der Sohn eines ehemaligen Oberbürgermeisters einer deutschen Großstadt ist. Der Beschwerdeführer ist hierdurch nicht in seinem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt; insbesondere führt auch die gebotene Grundrechtsabwägung hier nicht zu einem „Recht auf Vergessen“. Die Beeinträchtigungen, die für den Beschwerdeführer aus der Zugänglichkeit des Berichts und der Kenntnis seiner Abstammung folgen, haben keine Bedeutung, die das grundsätzliche Interesse der Presse und der Allgemeinheit an der fortgesetzten Verfügbarkeit inhaltlich nicht modifizierter Presseberichte übersteigt.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer ist Sohn des ehemaligen Oberbürgermeisters einer süddeutschen Großstadt (Amtszeit: Ende der siebziger Jahre bis Mitte der achtziger Jahre) und praktiziert als Partner einer seinen Familiennamen tragenden Anwaltskanzlei. Ein deutschlandweit vertriebenes Nachrichtenmagazin veröffentlichte im Jahr 1978 einen Porträtbeitrag über den damaligen Oberbürgermeister, aus dem sich auch ergibt, dass der Beschwerdeführer dessen Sohn ist. Der Beitrag ist weiterhin im Online-Archiv des Magazins auffindbar. Bei einer Eingabe des Namens des Beschwerdeführers in die Internetsuchmaschine „Google“ erschien ein Nachweis und eine Verlinkung dieses Berichts auf der fünften Seite der Liste dort nachgewiesener Internetseiten. Aus diesem Grund verklagte der Beschwerdeführer, der nicht öffentlich als Sohn mit dem ehemaligen Oberbürgermeister in Verbindung gebracht werden möchte, die Verlegerin des Magazins erfolglos, es zu unterlassen, ihn namentlich in dem online vorgehaltenen Bericht zu nennen.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

1. Soweit der Beschwerdeführer sich auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung stützt, ist der Schutzgehalt dieser Gewährleistung nicht berührt. Wie sich insbesondere aus der jüngsten Senatsrechtsprechung zum sogenannten Recht auf Vergessen ergibt, schützt diese besondere Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts vor den spezifischen Gefährdungen einer intransparenten, von den Betroffenen nicht mehr nachzuvollziehenden oder zu kontrollierenden Sammlung und Verknüpfung personenbezogener Daten, nicht aber vor der Mitteilung personenbezogener Informationen im öffentlichen Kommunikationsprozess.

2. Auch in seiner äußerungsrechtlichen Schutzdimension ist das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers nicht verletzt.

Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die freie Entfaltung der Persönlichkeit und bietet dabei insbesondere Schutz vor einer personenbezogenen Berichterstattung und Verbreitung von Informationen, die geeignet sind, die Persönlichkeitsentfaltung erheblich zu beeinträchtigen. Es gewährleistet jedoch nicht das Recht, öffentlich so wahrgenommen zu werden, wie es den eigenen Wünschen entspricht. Soweit das öffentlich zugängliche Vorhalten eines Berichts, insbesondere in Online-Pressearchiven, in Rede steht, ist dessen Zulässigkeit ausgehend vom Grundsatz der Zulässigkeit wahrer Berichterstattung aus dem Bereich der Sozialsphäre anhand einer Abwägung der im Zeitpunkt des jeweiligen Löschungsverlangens bestehenden gegenläufigen grundrechtlich geschützten Interessen zu beurteilen. Dabei sind insbesondere das Interesse der Presse am unveränderten öffentlichen Vorhalten ihrer zulässig veröffentlichten Berichte und das allgemeine Interesse der Öffentlichkeit an einer fortgesetzten Verfügbarkeit zutreffender Informationen zu berücksichtigen.

Diesen Vorgaben genügen die angegriffenen Entscheidungen. Sie erkennen neben dem weiterhin bestehenden Informationswert des archivierten Artikels, den sie in nachvollziehbarer Weise begründen, auch ein allgemeines Interesse der Presse an, ihre Archive möglichst vollständig und unverändert der Öffentlichkeit verfügbar zu halten. Dabei nehmen sie - grundrechtlich nicht zu beanstanden - an, dass dem Beschwerdeführer aus der öffentlichen Kenntnis um sein Kindschaftsverhältnis zu dem ehemaligen Oberbürgermeister keine erheblichen negativen Folgen drohen. Insofern gehen sie nachvollziehbar davon aus, dass die aus der Verfügbarkeit des Berichts drohenden Persönlichkeitsbeeinträchtigungen nicht ähnlich schwer wiegen wie bei einer Berichterstattung über schwere Straftaten oder allgemein grob missbilligtes Verhalten.

Eine die Löschung oder Verbergung der persönlichen Daten gebietende Wirkung des Berichts ergibt sich insbesondere auch deshalb nicht, weil dessen Nachweis bei einer Namenssuche durch Internetsuchmaschinen nur auf Position 40 bis 50 erscheint und damit nicht prioritär nachgewiesen wird. Es ist daher nicht erkennbar, dass Personen, die nicht intensive Recherchen anstellen, in persönlichkeitsverletzender Weise auf den Bericht und damit auf das Kindschaftsverhältnis zu dem ehemaligen Oberbürgermeister hingelenkt würden.

Auch die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Erschwerungen einer selbstbestimmten Persönlichkeitsentfaltung aufgrund der Kenntnis um die ehemals prominente gesellschaftliche und politische Stellung seines Vaters führen zu keinem anderen Ergebnis. Zwar mag dieser Gesichtspunkt eine selbständige Persönlichkeitsrelevanz für die Kinder prominenter Personen besitzen. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet jedoch auch insoweit keine einseitig durch die Betroffenen bestimmte Selbstdefinition.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:


BGH: E-Mail, Internet-Chat und Rückrufsystem kann Informationspflichten eines Online-Shops über die Kontaktmöglichkeiten gemäß Art. 246a § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und § 4 Abs. 1 EGBGB genügen

BGH
Urteil vom 19.12.2019
I ZR 163/16
Rückrufsystem II
Richtlinie 2011/83/EU Art. 6 Abs. 1 Buchst. c; EGBGB Art. 246a § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 4 Abs. 1, Abs. 3; BGB § 312d Abs. 1 Satz 1


Der BGH hat nach der Entscheidung des EuGH über den Vorlagebeschluss ( Siehe dazu EuGH: Amazon bzw Online-Händler müssen vor Vertragsschluss keine Telefonnummer zur Verfügung stellen wenn anderes Kommunikationsmittel zur effizienten Kontaktaufnahme besteht) entschieden, dass eine Kombination aus E-Mail, Internet-Chat und Rückrufsystem den Informationspflichten eines Online-Shops über die Kontaktmöglichkeiten gemäß Art. 246a § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und § 4 Abs. 1 EGBGB genügen kann.

Leitsatz des BGH:

Hat der Verbraucher beim Bestellvorgang in einem Onlineshop vor Abschluss der Bestellung die Möglichkeit, einen mit "Kontaktieren Sie uns" gekennzeichneten elektronischen Verweis ("Link") zu betätigen und so mit dem Verkäufer in schriftlicher Form durch eine E-Mail oder einen Internet-Chat Kontakt aufzunehmen oder aber sich von ihm über ein Rückrufsystem sofort oder innerhalb von fünf Minuten und damit zeitnah zurückrufen zu lassen, genügt dies den Informationspflichten über die Kontaktmöglichkeiten gemäß Art. 246a § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und § 4 Abs. 1 EGBGB.

BGH, Urteil vom 19. Dezember 2019 - I ZR 163/16 - OLG Köln - LG Köln

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BGH: Unzulässige Klausel zur Abtretung von Schadensersatzanspruch erfüllungshalber an Sachverständigen in Vertrag über Erstellung eines Kfz-Schadensgutachtens

BGH
Urteil vom 18.02.2020
VI ZR 135/19
BGB § 307 Abs. 1


Der BGH hat sich in dieser Entscheidung mit einer unzulässige Klausel in einem Vertrag über die Erstellung eines Kfz-Schadensgutachtens befasst, die eine Abtretung des Schadensersatzanspruchs des Geschädigten erfüllungshalber an den Sachverständigen vorsah und den Zusatz

"Das Sachverständigenbüro kann die Ansprüche gegen mich [geschädigter Auftraggeber] geltend machen, wenn und soweit der regulierungspflichtige Versicherer keine Zahlung oder lediglich eine Teilzahlung leistet. In diesem Fall erhalte ich die Forderung zurück, um sie selbst gegen die Anspruchsgegner durchzusetzen"

enthielt. Diese Regelung verstößt - so der BGH - gegen das Transparenzgebot gemäß § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB.

Leitsatz des BGH:

Die in einem Vertrag über die Erstellung eines Kfz-Schadensgutachtens enthaltene formularmäßige Klausel, nach der der geschädigte Auftraggeber dem Sachverständigen in Bezug auf dessen Honoraranspruch "erfüllungshalber" seinen auf Ersatz der Sachverständigenkosten gerichteten Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger abtritt, ist wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot aus § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB unwirksam, wenn die Klausel zugleich die Regelung enthält
"Das Sachverständigenbüro kann die Ansprüche gegen mich [geschädigter Auftraggeber] geltend machen, wenn und soweit der regulierungspflichtige Versicherer keine Zahlung oder lediglich eine Teilzahlung leistet. In diesem Fall erhalte ich die Forderung zurück, um sie selbst gegen die Anspruchsgegner durchzusetzen."

BGH, Urteil vom 18. Februar 2020 - VI ZR 135/19 - LG Hannover - AG Hannover

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BGH: Art. 9 Abs. 2 SEPA-VO ist Marktverhaltensregelung - Zahlung eines Verbrauchers in Deutschland per SEPA-Lastschrift von Luxemburger Konto muss zulässig sein

BGH
Urteil vom 06.02.2020
I ZR 93/18
SEPA-Lastschrift
UKlaG § 2 Abs. 1 Satz 1; UWG § 3a; Verordnung (EU) Nr. 260/2012 Art. 9 Abs. 2


Der BGH hat entschieden, dass Art. 9 Abs. 2 SEPA-VO ist Marktverhaltensregelung ist. Die Zahlung eines Verbrauchers in Deutschland per SEPA-Lastschrift von Luxemburger Konto darf vom Zahlungsempfänger nicht untersagt werden.

Leitsätze des BGH:

a) Art. 9 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 260/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der technischen Vorschriften und der Geschäftsanforderungen für Überweisungen und Lastschriften in Euro und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 924/2009 (SEPA-VO) ist ein Verbraucherschutzgesetz im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 UKlaG.

b) Art. 9 Abs. 2 SEPA-VO ist eine Marktverhaltensregelung im Sinne des § 3a UWG.

c) Das aus Art. 9 Abs. 2 SEPA-VO folgende Verbot, dass ein Zahlungsempfänger, der Lastschriften zum Geldeinzug verwendet, einem Zahler vorgibt, in welchem Mitgliedstaat er sein grundsätzlich für Lastschriften erreichbares Zahlungskonto zu führen hat, ist verletzt, wenn ein Zahlungsempfänger in Deutschland wohnhaften Verbrauchern die Bezahlung durch Lastschrift von einem in Luxemburg unterhaltenen Konto verwehrt.

BGH, Urteil vom 6. Februar 2020 - I ZR 93/18 - OLG Karlsruhe - LG Freiburg im Breisgau

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LG Mosbach: Auskunftsanspruch nach Art. 15 Abs. 1 DSGVO umfasst gemäß Art. 15 Abs. 1 g DSGVO auch Pflicht zur Auskunft über Herkunft der Daten

LG Mosbach
Beschluss vom 27.01.2020
5 T 4/20


Das LG Mosbach hat in Einklang mit dem Worlaut von Art. 15 Abs. 1 g DSGVO entschieden, dass der Auskunftsanspruch nach Art. 15 Abs. 1 DSGVO auch die Pflicht zur Auskunft über die Herkunft der Daten umfasst, wenn die personenbezogenen Daten nicht bei der betroffenen Person erhoben wurden.

Aus den Entscheidungsgründen:

"Soweit sich die Beklagte darauf beruft, auch der unter g titulierte Anspruch auf Auskunftserteilung, woher die Beklagte die persönlichen Daten des Klägers erhalten hat, ist dies jedoch unzutreffend. Jener Auskunftsanspruch ist noch nicht erfüllt, und wegen seiner war auch dem klägerischen Antrag vom 10.07.2019 stattzugeben.

Die Beklagte hat mit ihrem Schreiben vom 16.07.2019 diesen Auskunftsanspruch nicht erfüllt. Sie hat nicht in genügender Tiefe mitgeteilt, woher sie diese Daten erhalten hat, obwohl sie hierzu nach dem Urteil, welches den Auskunftsanspruch nach § 15 Abs. 1 g DSGVO tituliert, verpflichtet war.

a. Anders als §§ 19, 34 BDSG aF verlangt Art. 15 Absatz 1 lit. g stets die Auskunft über "alle verfügbaren Informationen über die Herkunft" der Daten. Einzige Voraussetzung für die Pflicht zur Auskunft über die Herkunft der Daten ist, dass diese Daten nicht beim Betroffenen erhoben wurden (BeckOK DatenschutzR/Schmidt-Wudy DS-GVO Art. 15 Rn. 74, 75). Angaben zur Quelle haben auch die Mittel zu benennen, mit denen die personenbezogenen Daten erhoben wurden (Sydow, Europäische Datenschutzgrundverordnung, DSGVO Art. 15 Rn. 10, beck-online).

Die Beklagte erklärt lediglich - und dies auch nicht in ihrem ursprünglichen Auskunftsschreiben, sondern erst mit Schriftsatz im Beschwerdeverfahren - dass die bei ihr gespeicherten Daten alleine im Rahmen eines Bezahlvorgangs bei der ... GmbH erhoben worden seien und nicht bei weiteren Bezahlvorgängen. Weitere Auskünfte zur Herkunft der Daten verweigert sie mit der Begründung, es handele sich nicht um die Daten des Klägers. Dem ist zwar zuzugeben, dass die Daten - unstreitig - nicht vom Kläger gegenüber der ... GmbH verwendet wurden, weil er dort nichts bestellt hat. Dass es deswegen nicht "seine" Daten seien, weil sie möglicherweise von einer anderen Person missbräuchlich verwendet worden seien, ist jedoch unzutreffend. Soweit die Beklagte zum Tätigwerden von mit ihr verbundenen Unternehmen vorträgt, ergibt sich hieraus dennoch nicht, wann, in welcher Form und von wem die Beklagte die persönlichen Daten des Klägers erlangt hat.

b.

Soweit die Beklagte sich darauf beruft, der Kläger könne nicht nach § 888 ZPO vollstrecken, sondern müsse, sofern er mit der Auskunft nicht einverstanden sei, weil sie aus seiner Sicht unvollständig oder unzutreffend sei, einen Anspruch nach Art. 16 DSGVO geltend machen, folgt das Gericht dem ebenfalls nicht. Anders als im Rahmen von § 2314 BGB kann bei unvollständiger oder fehlerhafter Angabe nicht lediglich die nächste Stufe des Auskunftsanspruchs geltend gemacht werden (eidesstattliche Versicherung). Art. 16 DSGVO ist nicht die nächste Stufe im Rahmen der Geltendmachung von Art. 15 DSGVO, sondern tritt als separater Anspruch mit anderem Inhalt neben diesen. Vielmehr ist es dem Kläger unbenommen, seinen titulierten Auskunftsanspruch im Wege der Zwangsvollstreckung nach § 888 ZPO durchzusetzen."


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OLG München: Wettbewerbliche Eigenart von Bekleidungsmodeerzeugnissen nur wenn das nachgeahmte Produkt eine besonders originelle Gestaltung aufweist

OLG München
Urteil vom 04.07.2019
29 U 3490/17

Das OLG München hat entschieden, dass eine wettbewerbliche Eigenart von Bekleidungsmodeerzeugnissen nur dann zu bejahen ist, wenn das nachgeahmte Produkt eine besonders originelle Gestaltung aufweist.

Leitsätze des Gerichts:

1. Bei Bekleidungsmodeerzeugnissen sind an die Bejahung der wettbewerblichen Eigenart keine zu geringen Anforderungen zu stellen; vielmehr wird diese nur zu bejahen sein, wenn das nachgeahmte Produkt eine besonders originelle Gestaltung aufweist. Da Mode letztlich nur durch Nachahmung der sie charakterisierenden Faktoren (Farbe, Kombination bestimmter Merkmale etc.) entsteht und der angesprochene Verkehr dies auch weiß, kann die wettbewerbliche Eigenart eines Kleidungsstücks nur in Ausnahmefällen und allenfalls dann angenommen werden, wenn anzunehmen ist, dass der Verkehr trotz der Vielzahl unterschiedlichster Gestaltungsformen unabhängig von der Marke der besonderen Ausgestaltung des Produkts als solcher oder aber besonders markanten (und aus seiner Sicht einzigartigen) Merkmalen herkunftshinweisende Funktion zumisst.

2. Bei der nachschaffenden Übernahme kann die Anbringung von Herkunftskennzeichen die Gefahr einer Herkunftstäuschung ausschließen.

3. Zum designrechtlichen Schutz von Bekleidungsstücken.

Den Volltext der Entscheidung finden sie hier: