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BVerfG: Verstoß gegen Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit in presserechtlichem einstweiligen Verfügungsverfahren - Begründung in Abmahnung und Verfügungsantrag weichen ab

BVerfG
Beschluss vom 27.10.2022
1 BvR 1846/22


Das Bundesverfassungsgericht hat in einem weiteren presserechtlichen einstweiligen Verfügungsverfahren einen Verstoß gegen den Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit festgestellt.

Aus den Entscheidungsgründen:

3. Die einstweilige Verfügung des Landgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

a) Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit ist eine Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes im Zivilprozess und sichert verfassungsrechtlich die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor Gericht. Das Gericht muss den Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einräumen, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen. Die prozessuale Waffengleichheit steht dabei im Zusammenhang mit dem Gehörsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 1 GG, der eine besondere Ausprägung der Waffengleichheit ist. Als prozessuales Urrecht (vgl. BVerfGE 70, 180 <188>) gebietet dieser, in einem gerichtlichen Verfahren der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfGE 9, 89 <96 f.>; 57, 346 <359>).

aa) Entbehrlich ist eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen. Voraussetzung der Verweisung auf eine nachträgliche Anhörung ist, dass ansonsten der Zweck des einstweiligen Verfügungsverfahrens vereitelt würde (vgl. näher BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 15). Im Presse- und Äußerungsrecht kann jedenfalls nicht als Regel von einer Erforderlichkeit der Überraschung des Gegners bei der Geltendmachung von Ansprüchen ausgegangen werden (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 2421/17 -, Rn. 31; Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 4. Februar 2021 - 1 BvR 2743/19 -, Rn. 21; vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 20). Auch wenn über Verfügungsanträge in äußerungsrechtlichen Angelegenheiten angesichts der Eilbedürftigkeit nicht selten zunächst ohne mündliche Verhandlung entschieden werden muss, berechtigt dies das Gericht nicht dazu, die Gegenseite bis zur Entscheidung über den Verfügungsantrag aus dem Verfahren herauszuhalten (vgl. näher BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 21 ff.). Eine stattgebende Entscheidung über den Verfügungsantrag kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag und weiteren an das Gericht gerichteten Schriftsätzen geltend gemachte Vorbringen zu erwidern (BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 21; vom 4. Februar 2021 - 1 BvR 2743/19 -, Rn. 23; vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 22).

bb) Dabei ist von Verfassungs wegen nichts dagegen zu erinnern, wenn das Gericht in Eilverfahren auch die Möglichkeiten einbezieht, die es der Gegenseite vorprozessual erlauben, sich zu dem Verfügungsantrag zu äußern, wenn sichergestellt ist, dass solche Äußerungen vollständig dem Gericht vorliegen. Hierfür kann auf die Möglichkeit zur Erwiderung gegenüber einer dem Verfügungsverfahren vorangehenden Abmahnung abgestellt werden. Dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit genügen die Erwiderungsmöglichkeiten auf eine Abmahnung allerdings nur dann, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ vorliegen: der Verfügungsantrag muss im Anschluss an die Abmahnung unverzüglich nach Ablauf einer angemessenen Frist für die begehrte Unterlassungserklärung bei Gericht eingereicht werden; die abgemahnte Äußerung sowie die Begründung für die begehrte Unterlassung müssen mit dem bei Gericht geltend gemachten Unterlassungsbegehren identisch sein; der Antragsteller muss ein etwaiges Zurückweisungsschreiben des Antragsgegners zusammen mit seiner Antragsschrift bei Gericht einreichen. Demgegenüber ist dem Antragsgegner Gehör zu gewähren, wenn er nicht in der gehörigen Form abgemahnt wurde oder der Antrag vor Gericht in anderer Weise als in der Abmahnung oder mit ergänzendem Vortrag begründet wird (vgl. näher BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 - 1 BvR 1783/17 -, Rn. 22 ff. sowie Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2020 - 1 BvR 1246/20 -, Rn. 18 f.; vom 17. Juni 2020 - 1 BvR 1380/20 -, Rn. 14; vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 22; vom 4. Februar 2021 - 1 BvR 2743/19 -, Rn. 25; vom 1. Dezember 2021 - 1 BvR 2708/19 -, Rn. 28; vom 21. April 2022 - 1 BvR 812/22 -, Rn. 23).

b) Nach diesen Maßstäben verletzt der angegriffene Beschluss die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20

aa) Es bestehen bereits Bedenken, ob der am 17. August 2022 angebrachte Verfügungsantrag unverzüglich gestellt wurde. Denn während die Antragsteller der Beschwerdeführerin in ihren Abmahnungsschreiben vom 3. und 5. August 2022 jeweils eine Stellungnahmefrist bis Montag, 8. August 2022, 18 Uhr, einräumten und damit signalisierten, umgehend, nämlich möglicherweise noch am Tag des Fristablaufs selbst gerichtliche Schritte einzuleiten, warteten sie mit ihrer Antragstellung noch bis Mittwoch, 17. August 2022, zu und gaben damit zu erkennen, einer Inanspruchnahme gerichtlichen Eilrechtsschutzes noch nicht notwendig zu bedürfen. Dass der bis zu diesem Tag vergangene Zeitraum gemessen an den erst am 15. August 2022, 18 Uhr, abgelaufenen Fristen zur Stellungnahme auf die weiteren Abmahnungsschreiben vom 11. und 12. August 2022 deutlich kürzer bemessen war, könnte möglicherweise nicht ausschlaggebend sein, da die hierin angegriffenen Beiträge der Beschwerdeführerin ebenfalls bereits vom 22. beziehungsweise 23. Juli 2022 stammten, wie auch die Antragsteller sich in ihrer Antragsschrift zur Begründung sowohl im Tatsächlichen wie im Rechtlichen auf ihre ersten Abmahnungsschreiben bezogen. Zudem baten die Antragsteller in ihrer Antragsschrift zwar „dringlichst“, „schnellstmöglich“ zu entscheiden, begründeten dies jedoch gleichzeitig mit bevorstehenden Urlauben ab dem 27. August 2022 und benannten damit einen Zeitraum, innerhalb dessen eine Entscheidung über ihren Antrag einschließlich der Veranlassung ihrer Bekanntgabe im Wege des Parteibetriebs gemäß § 936 ZPO in Verbindung mit § 922 Abs. 2 ZPO auch unter Anhörung der Beschwerdeführerin ohne weiteres möglich gewesen wäre. Gaben sie damit aber zu erkennen, auch eine durch ihren Bevollmächtigten bis spätestens am 26. August 2022 veranlasste Bekanntgabe als rechtswahrend zu betrachten, könnte auch dies gegen die Annahme einer Dringlichkeit sprechen, die einer Anhörung der Beschwerdeführerin – gegebenenfalls auch fernmündlich oder per E-Mail (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 25) – entgegengestand.

bb) Indes braucht diese Frage nicht entschieden zu werden, da zwar das in den einzelnen Abmahnungsschreiben genannte Unterlassungsbegehren mit dem die Abmahnungsschreiben zusammenfassenden Unterlassungsbegehren der Antragsschrift identisch war, nicht jedoch die hierfür in den Abmahnungsschreiben einerseits und der Antragsschrift andererseits enthaltene Begründung. Denn die Begründung der Antragsschrift blieb zum einen hinter der Begründung der lediglich als Anlagenkonvolut überreichten Abmahnungsschreiben zurück, soweit sie sich darauf beschränkte, die Antragsteller wehrten sich gegen „unwahre und hochgradig ehrverletzende Tatsachenbehauptungen“; die „Vorwürfe“ entsprächen „nicht der Wahrheit“. Sie reichte zum anderen aber auch über die der Beschwerdeführerin zuvor bekanntgegebenen Begründung hinaus, soweit sie erstmals gegenüber dem Landgericht eidesstattliche Versicherungen der Antragsteller jeweils vom 16. August 2022 vorbrachte, in denen diese Hergang und Motivation ihres Verhaltens – in leicht voneinander abweichender Weise – schilderten und durch Versicherung an Eides Statt glaubhaft machten.

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

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