Urteil
EuGH Urteil vom 05.11.2002 C-208/00 ("Überseering")
Urteil des Gerichtshofes vom 5. November 2002.
Überseering BV gegen Nordic Construction Company Baumanagement GmbH (NCC).
Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesgerichtshof - Deutschland.
Artikel 43 EG und 48 EG - Gesellschaft, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats
gegründet worden ist und dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat
- Gesellschaft, die von ihrer Niederlassungsfreiheit in einem anderen Mitgliedstaat
Gebrauch macht - Gesellschaft, von der nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaats
angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in diesen
verlegt hat - Nichtanerkennung der Rechtsfähigkeit und der Parteifähigkeit
der Gesellschaft durch den Aufnahmemitgliedstaat - Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
- Rechtfertigung.
Rechtssache C-208/00.
In der Rechtssache C-208/00 betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Bundesgerichtshof (Deutschland)
in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Überseering BV
gegen
Nordic Construction Company Baumanagement GmbH (NCC)
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel
43 EG und 48 EG
erlässt der Gerichtshof ... folgendes Urteil
Entscheidungsgründe
1 Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluss vom 30. März 2000, bei der Kanzlei
des Gerichtshofes eingegangen am 25. Mai 2000, gemäß Artikel 234
EG zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 43 EG und 48 EG zur Vorabentscheidung
vorgelegt.
2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Überseering
BV (im Folgenden: Überseering), einer am 22. August 1990 in das Handelsregister
von Amsterdam und Haarlem eingetragenen Gesellschaft niederländischen Rechts,
und der Nordic Construction Company Baumanagement GmbH (im Folgenden: NCC),
einer Gesellschaft mit Sitz in Deutschland, über die Beseitigung von Mängeln
bei der Ausführung von Bauarbeiten in Deutschland, mit der Überseering
NCC beauftragt hatte.
Nationales Recht
3 Nach der ZPO ist die Klage einer Partei, die nicht parteifähig ist, als
unzulässig abzuweisen. Nach § 50 Absatz 1 ZPO ist parteifähig,
wer rechtsfähig ist, d. h. die Fähigkeit besitzt, Träger von
Rechten und Pflichten zu sein; dies gilt auch für Gesellschaften.
4 Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der die herrschende
Lehre in Deutschland folgt, beurteilt sich die Frage, ob eine Gesellschaft rechtsfähig
ist, im Gegensatz zur Gründungstheorie, nach der sich die Rechtsfähigkeit
nach dem Recht des Staates bestimmt, in dem die Gesellschaft gegründet
worden ist, nach demjenigen Recht, das am Ort ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes
gilt (Sitztheorie). Dies gilt auch dann, wenn eine Gesellschaft in einem anderen
Staat wirksam gegründet worden ist und anschließend ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz in die Bundesrepublik Deutschland verlegt.
5 Eine solche Gesellschaft kann, soweit ihre Rechtsfähigkeit nach deutschem
Recht zu beurteilen ist, weder Träger von Rechten und Pflichten noch Partei
in einem Gerichtsverfahren sein, es sei denn, sie gründet sich in der Bundesrepublik
Deutschland in einer Weise neu, die zur Rechtsfähigkeit nach deutschem
Recht führt.
Ausgangsrechtsstreit
6 Im Oktober 1990 erwarb Überseering ein Grundstück in Düsseldorf,
das sie gewerblich nutzte. Mit Generalübernehmervertrag vom 27. November
1992 beauftragte Überseering NCC mit der Sanierung eines Garagengebäudes
und eines Motels, die auf diesem Grundstück befinden. Die Leistungen sind
erbracht, Überseering macht aber Mängel der Malerarbeiten geltend.
7 Im Dezember 1994 erwarben zwei in Düsseldorf wohnhafte deutsche Staatsangehörige
sämtliche Geschäftsanteile an Überseering.
8 Nachdem Überseering NCC vergeblich aufgefordert hatte, die festgestellten
Mängel zu beseitigen, verklagte sie 1996 NCC aus dem zwischen beiden bestehenden
Generalübernehmervertrag beim Landgericht Düsseldorf auf Zahlung von
1 163 657,77 DM zuzüglich Zinsen als Ersatz der Kosten der Beseitigung
der angeblichen Mängel und der Folgeschäden.
9 Das Landgericht wies die Klage ab. Das Oberlandesgericht Düsseldorf wies
die Berufung zurück. Nach seinen Feststellungen hatte Überseering
aufgrund des Erwerbs ihrer Geschäftsanteile durch zwei deutsche Staatsangehörige
ihren tatsächlichen Verwaltungssitz nach Düsseldorf verlegt. Es vertrat
die Ansicht, dass Überseering als Gesellschaft niederländischen Rechts
in Deutschland nicht rechtsfähig und demnach auch nicht parteifähig
sei.
10 Das Oberlandesgericht hielt die Klage von Überseering daher für
unzulässig.
11 Überseering legte gegen dieses Urteil des Oberlandesgerichts Revision
beim Bundesgerichtshof ein.
12 Aus den Erklärungen von Überseering ergibt sich ferner, dass sie
parallel zum derzeit beim Bundesgerichtshof anhängigen Verfahren nach nicht
näher bezeichneten sonstigen deutschen Rechtsvorschriften bei einem deutschen
Gericht verklagt wurde. So sei sie vom Landgericht Düsseldorf - wahrscheinlich
aufgrund ihrer Eintragung vom 11. September 1991 in das Grundbuch Düsseldorf
als Eigentümerin des Grundstücks, auf dem das Garagengebäude
und das Motel stünden, die NCC saniert habe, - verurteilt worden, Architektenhonorare
zu begleichen.
Vorlagefragen
13 Der Bundesgerichtshof stellt fest, dass seine in den Randnummern 4 und 5
dieses Urteils dargelegte Rechtsprechung in unterschiedlicher Hinsicht von einem
Teil des deutschen Schrifttums abgelehnt werde, hält es aber aus verschiedenen
Gründen für vorzugswürdig, beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts
und des Gesellschaftsrechts innerhalb der Europäischen Union daran festzuhalten.
14 Zunächst seien alle Lösungsansätze abzulehnen, bei denen durch
Berücksichtigung unterschiedlicher Anknüpfungspunkte die Rechtsstellung
einer Gesellschaft nach mehreren Rechtsordnungen beurteilt werde. Solche Lösungsansätze
führten zu Rechtsunsicherheit, weil sich die Regelungsbereiche, die verschiedenen
Rechtsordnungen unterstellt werden sollten, nicht eindeutig voneinander abgrenzen
ließen.
15 Ferner komme die Anknüpfung an den Ort der Gründung den Gründern
der Gesellschaft entgegen, die gleichzeitig mit dem Gründungsort die ihnen
genehme Rechtsordnung wählen könnten. Hierin liege die entscheidende
Schwäche der Gründungstheorie, die vernachlässige, dass die Gründung
und Betätigung einer Gesellschaft auch die Interessen dritter Personen
und des Staates berührten, in dem sich der tatsächliche Verwaltungssitz
befinde, sofern dieser sich in einem anderen Staat als demjenigen befinde, in
dem die Gesellschaft gegründet worden sei.
16 Demgegenüber könne durch die Anknüpfung an den tatsächlichen
Verwaltungssitz verhindert werden, dass die gesellschaftsrechtlichen Vorschriften
des Staates des tatsächlichen Verwaltungssitzes, mit denen bestimmte grundlegende
Interessen geschützt werden sollten, durch eine Gründung im Ausland
umgangen würden. Im vorliegenden Fall wolle das deutsche Recht u. a. die
Interessen der Gläubiger der Gesellschaft schützen. Die Rechtsvorschriften
über die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) gewährten
diesen Schutz durch detaillierte Regelungen über die Einzahlung und Erhaltung
des Gesellschaftskapitals. Schutzbedürftig seien weiter bei Verbindungen
von Unternehmen auch die abhängigen Gesellschaften und deren Minderheitsgesellschafter;
diesem Schutz dienten in Deutschland u. a. die Regeln des Konzernrechts oder
bei Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen die Regeln zur Entschädigung
und zur Abfindung der durch diese Verträge benachteiligten Gesellschafter.
Dem Schutz der von der Gesellschaft beschäftigten Arbeitnehmer dienten
schließlich die Vorschriften über die Mitbestimmung. Vergleichbare
Regelungen bestünden nicht in allen Mitgliedstaaten.
17 Für den Bundesgerichtshof stellt sich jedoch die Frage, ob bei der grenzüberschreitenden
Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes nicht die in den Artikeln
43 EG und 48 EG garantierte Niederlassungsfreiheit der Anknüpfung der Rechtsstellung
der Gesellschaft an das Recht des Mitgliedstaats, in dem sich ihr tatsächlicher
Verwaltungssitz befindet, entgegensteht. Die Beantwortung dieser Frage kann
nach seiner Ansicht der Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht eindeutig entnommen
werden.
18 In seinem Urteil vom 27. September 1988 in der Rechtssache 81/87 (Daily Mail
and General Trust, Slg. 1988, 5483) habe der Gerichtshof ausgeführt, dass
Gesellschaften von ihrer Niederlassungsfreiheit durch Gründung von Agenturen,
Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften sowie dadurch Gebrauch machen
könnten, dass sie ihr Kapital vollständig auf eine in einem anderen
Mitgliedstaat neu gegründete Gesellschaft übertrügen; auch habe
er festgestellt, dass Gesellschaften im Gegensatz zu natürlichen Personen
jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz
regele, keine Realität hätten. Aus diesem Urteil gehe ferner hervor,
dass der EG-Vertrag die Unterschiedlichkeit der nationalen Kollisionsregeln
hingenommen und die Lösung der damit verbundenen Probleme zukünftiger
Rechtsetzung vorbehalten habe.
19 Im Urteil vom 9. März 1999 in der Rechtssache C-212/97 (Centros, Slg.
1999, I-1459) habe der Gerichtshof die Weigerung einer dänischen Behörde
beanstandet, die Zweigniederlassung einer im Vereinigten Königreich wirksam
gegründeten Gesellschaft in das Handelsregister einzutragen. Der Bundesgerichtshof
weist jedoch darauf hin, dass diese Gesellschaft nicht ihren Sitz verlegt habe,
da sich von der Gründung an der satzungsmäßige Sitz im Vereinigten
Königreich und der tatsächliche Verwaltungssitz in Dänemark befunden
hätten.
20 Der Bundesgerichtshof fragt sich angesichts des Urteils Centros, ob die Bestimmungen
des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit bei einem Sachverhalt wie
im Ausgangsverfahren dann der Anwendung der Kollisionsregeln entgegenstehen,
die in dem Mitgliedstaat gelten, in dem sich der tatsächliche Verwaltungssitz
einer in einem anderen Mitgliedstaat wirksam gegründeten Gesellschaft befindet,
wenn diese Kollisionsregeln zur Folge haben, dass in diesem Mitgliedstaat die
Rechtsfähigkeit der Gesellschaft und damit ihre Parteifähigkeit zu
dem Zweck, dort Ansprüche aus einem Vertrag geltend zu machen, nicht anerkannt
wird.
21 Der Bundesgerichtshof hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof
folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind die Artikel 43 EG und 48 EG dahin auszulegen, dass es im Widerspruch
zur Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften steht, wenn die Rechtsfähigkeit
und die Parteifähigkeit einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats
wirksam gegründet worden ist, nach dem Recht des Staates beurteilt werden,
in den die Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz verlegt hat,
und wenn sich aus dessen Recht ergibt, dass sie vertraglich begründete
Ansprüche dort nicht mehr gerichtlich geltend machen kann?
2. Sollte der Gerichtshof diese Frage bejahen:
Gebietet es die Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften (Artikel 43 EG
und 48 EG), die Rechtsfähigkeit und die Parteifähigkeit nach dem Recht
des Gründungsstaats zu beurteilen?
Zur ersten Vorlagefrage
22 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es
gegen die Artikel 43 EG und 48 EG verstößt, wenn einer Gesellschaft,
die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen
Sitz hat, gegründet worden ist und von der nach dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
in diesen verlegt hat, dort die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit
vor den nationalen Gerichten für das Geltendmachen von Ansprüchen
aus einem Vertrag mit einer in diesem Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft
abgesprochen wird.
Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen
23 Nach Ansicht von NCC sowie der deutschen, der spanischen und der italienischen
Regierung verstößt es nicht gegen die Bestimmungen des EG-Vertrags
über die Niederlassungsfreiheit, wenn die Rechtsfähigkeit und die
Parteifähigkeit einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats wirksam gegründeten
Gesellschaft nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats, in den sie ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz verlegt haben soll, beurteilt werden und die Gesellschaft gegebenenfalls
in diesem anderen Mitgliedstaat Ansprüche aus einem Vertrag mit einer dort
ansässigen Gesellschaft nicht gerichtlich geltend machen kann.
24 Zum einen stützen sie sich auf Artikel 293 Absatz 3 EG, der bestimmt:
"Soweit erforderlich, leiten die Mitgliedstaaten untereinander Verhandlungen
ein, um zugunsten ihrer Staatsangehörigen Folgendes sicherzustellen:
...
- die gegenseitige Anerkennung der Gesellschaften im Sinne des Artikels 48 Absatz
2, die Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit bei Verlegung des Sitzes von
einem Staat in einen anderen ..."
25 Nach Auffassung von NCC liegt Artikel 293 EG die von allen Mitgliedstaaten
getragene Erkenntnis zugrunde, dass eine in einem Mitgliedstaat gegründete
Gesellschaft bei Verlegung ihres Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat ihre
Rechtspersönlichkeit nicht ohne weiteres beibehält, sondern dass es
hierzu eines gesonderten - bisher nicht geschlossenen - Übereinkommens
der Mitgliedstaaten bedarf. Der Verlust der Rechtspersönlichkeit einer
Gesellschaft bei Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes in einen
anderen Mitgliedstaat sei daher mit den Gemeinschaftsvorschriften über
die Niederlassungsfreiheit vereinbar. Die Weigerung eines Mitgliedstaats, die
ausländische Rechtspersönlichkeit einer in einem anderen Mitgliedstaat
gegründeten Gesellschaft anzuerkennen, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
in sein Hoheitsgebiet verlegt habe, stelle keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
dar, da diese Gesellschaft die Möglichkeit habe, sich nach dem Recht dieses
Mitgliedstaats neu zu gründen. Die Niederlassungsfreiheit schütze
allein das Recht, sich in diesem Mitgliedstaat neu zu gründen oder Niederlassungen
zu errichten.
26 Nach Meinung der deutschen Regierung haben die Verfasser des EG-Vertrags
die Artikel 43 EG und 48 EG in voller Kenntnis der großen Unterschiede
zwischen den Gesellschaftsrechten der Mitgliedstaaten und mit der Absicht in
den Vertrag aufgenommen, die nationale Zuständigkeit und die Maßgeblichkeit
des nationalen Rechts fortbestehen zu lassen, solange keine Rechtsangleichung
erfolgt sei. Zwar gebe es zahlreiche auf der Grundlage des Artikels 44 EG erlassene
Harmonisierungsrichtlinien auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts; für
die Sitzverlegung stehe eine solche Richtlinie noch aus, und es sei auch noch
kein multilaterales Übereinkommen gemäß Artikel 293 EG auf diesem
Gebiet geschlossen worden. Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts
seien die Anwendung der Theorie des wahren oder tatsächlichen Verwaltungssitzes
in Deutschland und ihre Auswirkung auf die Anerkennung der Rechtsfähigkeit
und der Parteifähigkeit von Gesellschaften mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar.
27 Auch nach Ansicht der italienischen Regierung zeigt die Tatsache, dass Artikel
293 EG den Abschluss von Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten vorsieht,
um u. a. sicherzustellen, dass eine Gesellschaft bei Verlegung des Sitzes von
einem Staat in einen anderen ihre Rechtspersönlichkeit beibehält,
dass die Frage der Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit nach Verlegung
des Gesellschaftssitzes nicht durch die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts
über die Niederlassungsfreiheit geklärt worden ist.
28 Die spanische Regierung weist darauf hin, dass das am 29. Februar 1968 in
Brüssel unterzeichnete Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung
von Gesellschaften und juristischen Personen nie in Kraft getreten sei. Mangels
eines von den Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Artikels 293 EG geschlossenen
Übereinkommens bestehe daher keine Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene,
die die Frage der Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit einer Gesellschaft
im Fall der Sitzverlegung entscheiden könnte. Die Artikel 43 EG und 48
EG enthielten nichts in dieser Hinsicht.
29 Ferner machen NCC sowie die deutsche, die spanische und die italienische
Regierung geltend, ihre Analyse werde durch das genannte Urteil Daily Mail and
General Trust gestützt, insbesondere durch dessen Randnummern 23 und 24:
"... der EWG-Vertrag [betrachtet] die Unterschiede, die die Rechtsordnungen
der Mitgliedstaaten hinsichtlich der für ihre Gesellschaften erforderlichen
Anknüpfung sowie der Möglichkeit und gegebenenfalls der Modalitäten
einer Verlegung des satzungsmäßigen oder wahren Sitzes einer Gesellschaft
nationalen Rechts von einem Mitgliedstaat in einen anderen aufweisen, als Probleme,
die durch die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit nicht gelöst
sind, sondern einer Lösung im Wege der Rechtssetzung oder des Vertragsschlusses
bedürfen; eine solche wurde jedoch noch nicht gefunden.
Somit gewähren die Artikel 52 [EWG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel
43 EG)] und 58 EWG-Vertrag [jetzt Artikel 48 EG] den Gesellschaften nationalen
Rechts kein Recht, den Sitz ihrer Geschäftsleitung unter Bewahrung ihrer
Eigenschaft als Gesellschaften des Mitgliedstaats ihrer Gründung in einen
anderen Mitgliedstaat zu verlegen."
30 Die deutsche Regierung ist der Ansicht, das Urteil Daily Mail and General
Trust betreffe zwar die Beziehungen zwischen einer Gesellschaft und dem Mitgliedstaat,
nach dessen Recht sie gegründet worden sei, in dem Fall der Verlegung des
tatsächlichen Verwaltungssitzes dieser Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat;
die Erwägungen des Gerichtshofes in diesem Urteil seien aber auf die Frage
nach den Beziehungen zwischen einer in einem Mitgliedstaat wirksam gegründeten
Gesellschaft und einem anderen Mitgliedstaat, in den sie ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz verlege (dem Aufnahmestaat im Gegensatz zum Staat der Gründung
der Gesellschaft), übertragbar. Auf dieser Grundlage trägt sie vor,
wenn eine in einem ersten Mitgliedstaat wirksam gegründete Gesellschaft
von ihrem Niederlassungsrecht in einem anderen Mitgliedstaat durch Abtretung
aller ihrer Geschäftsanteile an Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats,
in dem sie auch wohnten, Gebrauch mache, unterliege die Frage, ob im Aufnahmestaat
das nach den Kollisionsregeln anwendbare Recht diese Gesellschaft fortbestehen
lasse, nicht den Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit.
31 Auch die italienische Regierung ist der Ansicht, dass sich aus dem Urteil
Daily Mail and General Trust ergebe, dass die Kriterien zur Feststellung der
Identität von Gesellschaften nicht von der Ausübung des in den Artikeln
43 EG und 48 EG enthaltenen Niederlassungsrechts umfasst würden, sondern
in die Regelungsbefugnis der nationalen Rechtsordnungen fielen. Folglich könne
man sich nicht auf die Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit berufen,
um die Anknüpfungspunkte zu harmonisieren; deren Festlegung falle beim
gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts ausschließlich in die
Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Sofern für Gesellschaften Anknüpfungspunkte
zu mehreren Staaten bestünden, müsse jede nationale Rechtsordnung
festlegen, wann eine Gesellschaft ihren Regelungen unterliege.
32 Für die spanische Regierung ist es nicht mit Artikel 48 EG unvereinbar,
dass eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft dort
ihren tatsächlichen Verwaltungssitz haben muss, um in einem anderen Mitgliedstaat
als Gesellschaft angesehen zu werden, die das Niederlassungsrecht ausüben
kann.
33 Artikel 48 Absatz 1 EG stelle zwei Voraussetzungen dafür auf, dass die
in Absatz 2 dieses Artikels definierten Gesellschaften in gleicher Weise wie
die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten das Niederlassungsrecht
ausüben könnten; sie müssen zum einen nach den Rechtsvorschriften
eines Mitgliedstaats gegründet worden sein und zum anderen ihren satzungsmäßigen
Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft
haben. Die zweite Voraussetzung sei durch das am 18. Dezember 1961 in Brüssel
beschlossene Allgemeine Programm zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit
(ABl. 1962, Nr. 2, S. 36, im Folgenden: "Allgemeines Programm") geändert
worden.
34 Das Allgemeine Programm bestimme in seinem Abschnitt I "Begünstigte":
"durch die ... Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit
[werden] begünstigt:
...
- die Gesellschaften, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats ...
gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung
oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft oder in einem überseeischen
Land oder Hoheitsgebiet haben,
im Hinblick auf die tatsächliche Niederlassung zur Ausübung einer
selbständigen Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats;
...
- die oben genannten Gesellschaften; sollten diese Gesellschaften indessen nur
ihren satzungsmäßigen Sitz innerhalb der Gemeinschaft oder in einem
überseeischen Land oder Hoheitsgebiet haben, so muss ihre Tätigkeit
in tatsächlicher und dauerhafter Verbindung mit der Wirtschaft eines Mitgliedstaats
oder eines überseeischen Landes oder Hoheitsgebiets stehen; diese Verbindung
darf aber nicht von der Staatsangehörigkeit ... abhängig gemacht werden;
im Hinblick auf die Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften
im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats."
35 Auch wenn das Allgemeine Programm die Anwendung des Kriteriums der tatsächlichen
und dauerhaften Verbindung nur dazu vorsehe, von der Freiheit, eine Zweitniederlassung
zu gründen, Gebrauch zu machen, so müsse ein solches Kriterium auch
für die Hauptniederlassung gelten, damit die für die Ausübung
des Niederlassungsrechts aufgestellten Anknüpfungsvoraussetzungen homogen
seien.
36 Nach Ansicht von Überseering, der niederländischen Regierung und
der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission und der
EFTA-Überwachungsbehörde verstößt es gegen Artikel 43 EG
in Verbindung mit Artikel 48 EG, wenn im Fall einer nach dem Recht eines ersten
Mitgliedstaats wirksam gegründeten Gesellschaft, von der nach dem Recht
eines zweiten Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz in diesen zweiten Mitgliedstaat verlegt hat, die dort geltenden
Kollisionsregeln vorsehen, dass die Rechtsfähigkeit und die Parteifähigkeit
dieser Gesellschaft nach dem Recht dieses Staates zu beurteilen sind. Dies sei
der Fall, wenn nach dem Recht des zweiten Mitgliedstaats dieser Gesellschaft
die Möglichkeit vorenthalten werde, Rechte aus einem Vertrag mit einer
in diesem Staat ansässigen Gesellschaft gerichtlich geltend zu machen.
Sie tragen hierfür Folgendes vor.
37 Erstens macht die Kommission geltend, nach dem Wortlaut des Artikels 293
EG sei die Einleitung von Verhandlungen zur Beseitigung der Unterschiede zwischen
den nationalen Rechtsvorschriften über die Anerkennung ausländischer
Gesellschaften nur "soweit erforderlich" vorgesehen. Hätte im
Jahr 1968 eine einschlägige Rechtsprechung bestanden, wäre es nicht
erforderlich gewesen, von Artikel 293 EG Gebrauch zu machen. Dies erkläre
die entscheidende Bedeutung, die heute der einschlägigen Rechtsprechung
des Gerichtshofes für die Ermittlung des Inhalts und der Tragweite der
in den Artikeln 43 EG und 48 EG verankerten Niederlassungsfreiheit für
Gesellschaften zukomme.
38 Zweitens vertreten Überseering, die Regierung des Vereinigten Königreichs,
die Kommission und die EFTA-Überwachungsbehörde die Ansicht, dass
das Urteil Daily Mail and General Trust in der vorliegenden Rechtssache nicht
einschlägig sei.
39 Wie sich aus dem diesem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt ergebe, sei
zu prüfen gewesen, welche Rechtsfolgen im Mitgliedstaat der Gründung
einer Gesellschaft die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes dieser
Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat habe, so dass dieses Urteil nicht
als Grundlage für die Prüfung der Frage dienen könne, welche
Rechtsfolgen eine solche Verlegung im Aufnahmemitgliedstaat habe.
40 Das Urteil Daily Mail and General Trust gelte nur für die Beziehung
zwischen dem Gründungsmitgliedstaat und der Gesellschaft, die diesen Staat
unter Wahrung der Rechtspersönlichkeit verlassen möchte, die ihr nach
dem Recht dieses Staates zuerkannt worden sei. Da Gesellschaften Schöpfungen
des nationalen Rechts seien, müssten sie weiterhin die nach dem Recht ihres
Gründungsstaats bestehenden Anforderungen beachten. Das Urteil Daily Mail
and General Trust erkenne somit das Recht des Mitgliedstaats der Gründung
einer Gesellschaft an, nach seinem internationalen Privatrecht die Gründung
und die rechtliche Existenz von Gesellschaften zu regeln. Es entscheide dagegen
nicht die Frage, ob eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete
Gesellschaft von einem anderen Mitgliedstaat anerkannt werden müsse.
41 Drittens ist nach Ansicht von Überseering, der Regierung des Vereinigten
Königreichs, der Kommission und der EFTA-Überwachungsbehörde
für die Beantwortung der in der vorliegenden Rechtssache gestellten Frage
nicht auf das Urteil Daily Mail and General Trust, sondern auf das Urteil Centros
abzustellen. In dem diesem Urteil zugrunde liegenden Ausgangsrechtsstreit sei
es nämlich wie in der vorliegenden Rechtssache darum gegangen, wie im Aufnahmemitgliedstaat
eine Gesellschaft behandelt werde, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaaten
gegründet worden sei und ihr Niederlassungsrecht ausübe.
42 Die Rechtssache Centros betreffe die Zweitniederlassung einer Gesellschaft,
der Centros Ltd, in Dänemark als Aufnahmemitgliedstaat, die wirksam im
Vereinigten Königreich gegründet worden sei, in dessen Hoheitsgebiet
sie ihren satzungsmäßigen Sitz gehabt habe, ohne dort eine wirtschaftliche
Tätigkeit auszuüben. Die Centros Ltd habe in Dänemark eine Zweigniederlassung
gründen wollen, um dort den wesentlichen Teil ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten
auszuüben. Die dänischen Behörden hätten die Existenz dieser
Gesellschaft nach englischem Recht nicht in Zweifel gezogen, ihr aber das Recht,
in Dänemark durch Gründung einer Zweigniederlassung von ihrer Niederlassungsfreiheit
Gebrauch zu machen, verweigert, da festgestanden habe, dass über diese
Form der Zweitniederlassung die Anwendung der dänischen Vorschriften über
die Gründung von Gesellschaften, u. a. in Bezug auf die Einzahlung eines
Mindestkapitals, hätten umgangen werden sollen.
43 Im Urteil Centros habe der Gerichtshof entschieden, dass ein Mitgliedstaat
(der Aufnahmestaat) hinnehmen müsse, dass eine wirksam in einem anderen
Mitgliedstaat gegründete Gesellschaft, die dort ihren satzungsmäßigen
Sitz habe, in seinem Hoheitsgebiet eine weitere Niederlassung eintragen lasse
(im gegebenen Fall eine Zweigniederlassung), von der aus sie ihre gesamte Tätigkeit
entfalten könne. Deswegen könne der Aufnahmemitgliedstaat einer wirksam
in einem anderen Mitgliedstaat gegründeten Gesellschaft nicht sein eigenes
materielles Gesellschaftsrecht, insbesondere die Vorschriften über das
Gesellschaftskapital, entgegenhalten. Nach Ansicht der Kommission muss es sich
ebenso verhalten, wenn sich der Aufnahmemitgliedstaat auf sein internationales
Gesellschaftsrecht beruft.
44 Nach Auffassung der niederländischen Regierung stehen die Bestimmungen
des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit nicht der Anwendung der
Sitztheorie als solcher entgegen. Dagegen stellten die Folgen, die das deutsche
Recht an das knüpften, was es als Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft
nach Deutschland betrachte, die im Übrigen ihre Rechtspersönlichkeit
aufgrund ihrer Gründung in einem anderen Mitgliedstaat besitze, eine Beschränkung
der Niederlassungsfreiheit dar, wenn sie dazu führten, dass die Rechtspersönlichkeit
dieser Gesellschaft nicht anerkannt werde.
45 Im EG-Vertrag stünden die drei Anknüpfungspunkte satzungsmäßiger
Sitz, tatsächlicher Verwaltungssitz (Hauptverwaltung) und Hauptniederlassung
auf gleicher Stufe. Im Vertrag finde sich kein Hinweis, dass der satzungsmäßige
Sitz und die Hauptverwaltung in ein und demselben Mitgliedstaat liegen müssten,
damit von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch gemacht werden könne. Folglich
stehe das Niederlassungsrecht auch einer Gesellschaft zu, deren tatsächlicher
Verwaltungssitz sich nicht mehr im Staat der Gründung dieser Gesellschaft
befinde. Es verstoße daher gegen die Bestimmungen des EG-Vertrags über
die Niederlassungsfreiheit, wenn sich ein Mitgliedstaat weigere, die Rechtsfähigkeit
einer in einem anderen Mitgliedstaat wirksam gegründeten Gesellschaft anzuerkennen,
die in seinem Hoheitsgebiet von ihrer Freiheit der Zweitniederlassung Gebrauch
mache.
46 Die Regierung des Vereinigten Königreichs macht geltend, die im Ausgangsverfahren
in Rede stehenden deutschen Regeln verstießen gegen die Artikel 43 EG
und 48 EG, da sie bewirkten, dass eine Gesellschaft wie Überseering daran
gehindert werde, ihre Tätigkeiten über eine Agentur oder eine Zweigniederlassung
in Deutschland auszuüben, wenn diese Agentur oder diese Zweigniederlassung
nach deutschem Recht als tatsächlicher Verwaltungssitz der Gesellschaft
betrachtet werde, denn sie führten zum Verlust der Rechtsfähigkeit,
ohne die eine Gesellschaft nicht funktionieren könne.
47 Die EFTA-Überwachungsbehörde weist ergänzend darauf hin, dass
die Niederlassungsfreiheit nicht nur das Recht auf Zweitniederlassung in einem
anderen Mitgliedstaat umfasse, sondern für eine Gesellschaft, die ihren
tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlege, auch
das Recht, ihre ursprüngliche Niederlassung in dem Mitgliedstaat beizubehalten,
in dem sie gegründet worden sei. Die deutschen Regeln, die im Ausgangsfall
maßgeblich seien, würden bewirken, dass die Niederlassungsfreiheit
in eine Niederlassungspflicht verwandelt würde, damit die Rechtsfähigkeit
der Gesellschaft und damit ihre Parteifähigkeit erhalten werde. Sie stellten
daher eine Beschränkung der im EG-Vertrag vorgesehenen Niederlassungsfreiheit
dar. Dieses Ergebnis bedeute nicht, dass die Mitgliedstaaten keinen Anknüpfungspunkt
zwischen einer Gesellschaft und ihrem Hoheitsgebiet schaffen dürften; bei
Ausübung dieser Befugnisse müssten sie aber den EG-Vertrag beachten.
48 Die niederländische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs
und die EFTA-Überwachungsbehörde heben außerdem den Umstand
hervor, dass Überseering ihren tatsächlichen Verwaltungssitz im Sinne
des deutschen Rechts nicht nach Deutschland habe verlegen wollen. Überseering
trägt vor, dass sie sich nicht in den Niederlanden habe auflösen wollen,
um sich in Deutschland neu zu gründen, und dass sie weiterhin als Gesellschaft
mit beschränkter Haftung nach niederländischem Recht (BV) existieren
wolle. Es sei außerdem widersprüchlich, dass das deutsche Recht sie
als solche betrachte, wenn es darum gehe, sie zur Zahlung von Architektenhonoraren
zu verurteilen.
49 Die niederländische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung
geltend gemacht, dass es sich nach niederländischem Recht in einer Situation
wie im Ausgangsverfahren um die Gründung einer Zweigniederlassung, also
einer Zweitniederlassung, handele. Es sei falsch, bei der Prüfung der vorliegenden
Rechtssache von der Prämisse auszugehen, dass es aufgrund der bloßen
Abtretung der Geschäftsanteile an in Deutschland wohnende deutsche Staatsangehörige
zu einer Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes von Überseering
nach Deutschland gekommen sei. Eine solche Analyse sei nämlich eine solche
des deutschen Privatrechts. Nichts deute darauf hin, dass Überseering die
Absicht gehabt habe, ihren tatsächlichen Verwaltungssitz nach Deutschland
zu verlegen. Wenn so argumentiert werde, als handele es sich um eine Hauptniederlassung,
ziele dies darauf ab, dem Urteil Centros, in dem es um die sekundäre Form
der Niederlassung gegangen sei, die sich aus der Gründung einer Zweigniederlassung
ergebe, seine Bedeutung zu nehmen und zu versuchen, die vorliegende Rechtssache
mit der Rechtssache Daily Mail and General Trust gleichzusetzen.
50 Die Regierung des Vereinigten Königreichs weist darauf hin, dass Überseering
in den Niederlanden wirksam gegründet worden sei, immer im Handelsregister
von Amsterdam und Haarlem als Gesellschaft niederländischen Rechts eingetragen
gewesen sei und nicht versucht habe, ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
nach Deutschland zu verlegen. Sie habe lediglich aufgrund einer Eigentumsübertragung
seit 1994 den Großteil ihrer Tätigkeiten in Deutschland ausgeübt
und dort bestimmte Versammlungen abgehalten. Sie müsse in der Praxis also
so angesehen werden, als habe sie in Deutschland über eine Agentur oder
Zweigniederlassung gehandelt. Diese Sachlage unterscheide sich grundlegend von
derjenigen, die der Rechtssache Daily Mail and General Trust zugrunde gelegen
habe, in der es um einen bewussten Versuch gegangen sei, den Sitz einer Gesellschaft
englischen Rechts und die Kontrolle über die Gesellschaft aus dem Vereinigten
Königreich in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen und dabei zwar den
Status einer im Vereinigten Königreich wirksam gegründeten Gesellschaft
beizubehalten, aber nicht den steuerlichen Anforderungen unterworfen zu sein,
die im Vereinigten Königreich mit der Verlegung der Verwaltung einer Gesellschaft
und der Kontrolle über sie ins Ausland verbunden seien.
51 Nach Auffassung der EFTA-Überwachungsbehörde zeigt sich darin,
dass Überseering aufgrund der offenbar ungebetenen Verlegung ihres tatsächlichen
Verwaltungssitzes nach Deutschland dort ihre Parteifähigkeit abgesprochen
werde, die Unsicherheit, die die Anwendung der unterschiedlichen internationalen
Privatrechte der Mitgliedstaaten für grenzüberschreitende Geschäfte
mit sich bringen kann. Da die Bestimmung des tatsächlichen Verwaltungssitzes
weitgehend auf der Grundlage von Tatsachen erfolge, sei es immer möglich,
dass unterschiedliche nationale Rechtssysteme, und in diesen sogar verschiedene
Gerichte, unterschiedlich beurteilten, was einen tatsächlichen Verwaltungssitz
darstelle. Außerdem werde es immer schwieriger, den tatsächlichen
Verwaltungssitz in einer globalisierten und computerbeherrschten Wirtschaft
zu bestimmen, in der die persönliche Anwesenheit der Entscheidungsträger
immer weniger erforderlich sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
Zur Anwendbarkeit der Bestimmungen des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit
52 Vorab ist entgegen der Ansicht von NCC sowie der deutschen, der spanischen
und der italienischen Regierung klarzustellen, dass im Fall einer Gesellschaft,
die wirksam in einem ersten Mitgliedstaat gegründet worden ist, dort ihren
satzungsmäßigen Sitz hat und von der nach dem Recht eines zweiten
Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie nach der Abtretung aller ihrer Geschäftsanteile
an Staatsangehörige dieses Staates, in dem diese auch wohnen, ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz dorthin verlegt hat, die Regeln, die der zweite Mitgliedstaat
auf diese Gesellschaft anwendet, beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts
nicht aus dem Anwendungsbereich der Gemeinschaftsvorschriften über die
Niederlassungsfreiheit fallen.
53 Insoweit ist erstens das auf Artikel 293 EG gestützte Vorbringen von
NCC sowie der deutschen, der spanischen und der italienischen Regierung zurückzuweisen.
54 Wie der Generalanwalt in Nummer 42 seiner Schlussanträge ausführt,
stellt Artikel 293 EG nämlich keinen Rechtsetzungsvorbehalt zugunsten der
Mitgliedstaaten dar. Diese Vorschrift fordert die Mitgliedstaaten zwar auf,
Verhandlungen einzuleiten, u. a. um die Lösung der Probleme zu erleichtern,
die sich aus der Unterschiedlichkeit der Rechtsvorschriften über die gegenseitige
Anerkennung von Gesellschaften und über die Aufrechterhaltung ihrer Rechtspersönlichkeit
bei grenzüberschreitender Sitzverlegung ergeben, dies aber nur, "soweit
erforderlich", also für den Fall, dass die Bestimmungen des EG-Vertrags
nicht die Erreichung der Vertragsziele ermöglichen.
55 Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass zwar die Übereinkünfte,
zu deren Abschluss Artikel 293 EG anregt, genau wie die in Artikel 44 EG vorgesehenen
Harmonisierungsrichtlinien die Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit erleichtern
können, das Gebrauchmachen von dieser Freiheit aber nicht vom Abschluss
solcher Übereinkünfte abhängen kann.
56 Wie der Gerichtshof bereits bei anderer Gelegenheit ausgeführt hat,
umfasst die Niederlassungsfreiheit, die Artikel 43 EG den Gemeinschaftsangehörigen
zuerkennt, das Recht zur Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten
sowie zur Errichtung von Unternehmen und zur Ausübung der Unternehmertätigkeit
nach den Bestimmungen, die im Niederlassungsstaat für dessen eigene Angehörigen
gelten. Außerdem stehen nach dem Wortlaut des Artikels 48 EG für
"die Anwendung [der Bestimmungen des EG-Vertrags über das Niederlassungsrecht]
die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften,
die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung
innerhalb der Gemeinschaft haben, den natürlichen Personen gleich, die
Angehörige der Mitgliedstaaten sind".
57 Hieraus folgt unmittelbar, dass diese Gesellschaften das Recht haben, ihre
Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, wobei ihr satzungsmäßiger
Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung, ebenso wie die Staatsangehörigkeit
bei natürlichen Personen, dazu dient, ihre Zugehörigkeit zur Rechtsordnung
eines Mitgliedstaats zu bestimmen.
58 Auf diese Prämissen hat der Gerichtshof seine Erwägungen im Urteil
Centros (Randnrn. 19 und 20) gestützt.
59 Die Inanspruchnahme der Niederlassungsfreiheit setzt zwingend die Anerkennung
dieser Gesellschaften durch alle Mitgliedstaaten voraus, in denen sie sich niederlassen
wollen.
60 Es ist daher nicht erforderlich, dass die Mitgliedstaaten eine Übereinkunft
über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften schließen, damit
die Gesellschaften, die die in Artikel 48 EG genannten Voraussetzungen erfüllen,
von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch machen können, die ihnen in den
seit Ablauf der Übergangszeit unmittelbar anwendbaren Artikeln 43 EG und
48 EG zuerkannt wird. Folglich kann kein Rechtfertigungsgrund für eine
Beschränkung der vollen Wirksamkeit dieser Artikel daraus hergeleitet werden,
dass bis heute keine Übereinkunft über die gegenseitige Anerkennung
von Gesellschaften auf der Grundlage des Artikels 293 EG geschlossen worden
ist.
61 Zweitens ist das Vorbringen zu prüfen, das sich auf das Urteil Daily
Mail and General Trust, das im Mittelpunkt der Erörterungen vor dem Gerichtshof
gestanden hat, stützt. Dieses Vorbringen ist insoweit zu prüfen, als
es darauf gerichtet ist, der dem Urteil Daily Mail and General Trust zugrunde
liegenden Situation in gewisser Weise die Sachlage gleichzusetzen, aus der das
deutsche Recht den Verlust der Rechtsfähigkeit und den Verlust der Parteifähigkeit
einer nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft
ableitet.
62 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Urteil Daily Mail and General Trust
die Beziehungen zwischen einer Gesellschaft und einem Mitgliedstaat, nach dessen
Recht sie gegründet worden ist, in dem Fall betrifft, in dem die Gesellschaft
ihren tatsächlichen Verwaltungssitz unter Wahrung der ihr in ihrem Gründungsstaat
zuerkannten Rechtspersönlichkeit in einen anderen Mitgliedstaat verlegen
wollte. Hingegen handelt es sich im Ausgangsrechtsstreit um die Anerkennung
einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft durch
einen anderen Mitgliedstaat; dabei wird einer solchen Gesellschaft in diesem
Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit abgesprochen, da er davon ausgeht, dass
sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in sein Hoheitsgebiet verlegt hat,
ohne dass es hierfür darauf ankäme, ob die Gesellschaft tatsächlich
eine Sitzverlegung vornehmen wollte.
63 Wie sowohl die niederländische Regierung und die Regierung des Vereinigten
Königreichs als auch die Kommission und die EFTA-Überwachungsbehörde
geltend machen, hat Überseering nie die Absicht bekundet, ihren Sitz nach
Deutschland zu verlegen. Ihre rechtliche Existenz ist nach dem Recht ihres Gründungsstaats
durch die Abtretung ihrer sämtlichen Geschäftsanteile an in Deutschland
wohnende Personen nie in Frage gestellt worden. Insbesondere ist sie nicht Gegenstand
von Auflösungsmaßnahmen nach niederländischem Recht gewesen,
nach dem sie nie aufgehört hat, wirksam zu bestehen.
64 Selbst wenn man den Ausgangsrechtsstreit so verstünde, als ginge es
um die grenzüberschreitende Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes,
ist daher die von NCC sowie der deutschen, der spanischen und der italienischen
Regierung vertretene Auslegung des Urteils Daily Mail and General Trust unzutreffend.
65 In der Rechtssache, in der dieses Urteil erging, wollte die Daily Mail and
General Trust PLC, eine nach dem Recht des Vereinigten Königreich gegründete
Gesellschaft, die dort sowohl ihren satzungsmäßigen Sitz als auch
ihren tatsächlichen Verwaltungssitz hatte, Letzteren in einen anderen Mitgliedstaat
verlegen, ohne ihre Rechtspersönlichkeit oder ihre Eigenschaft als Gesellschaft
englischen Rechts zu verlieren; die dafür erforderliche Genehmigung der
zuständigen britischen Behörden wurde ihr verweigert. Sie verklagte
diese Behörden daher beim High Court of Justice, Queen's Bench Division
(Vereinigtes Königreich), und machte geltend, dass die Artikel 52 und 58
des EWG-Vertrags ihr das Recht zuerkennen würden, ihren tatsächlichen
Verwaltungssitz ohne vorherige Genehmigung und ohne Verlust ihrer Rechtspersönlichkeit
in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen.
66 Anders als im Ausgangsverfahren ging es somit in der Rechtssache, in der
das Urteil Daily Mail and General Trust erging, nicht darum, wie ein Mitgliedstaat
eine in einem anderen Mitgliedstaat wirksam gegründete Gesellschaft zu
behandeln hat, die im ersten Mitgliedstaat von ihrer Niederlassungsfreiheit
Gebrauch macht.
67 Im Zusammenhang mit der Frage des High Court of Justice, ob die Bestimmungen
des Vertrages über die Niederlassungsfreiheit einer Gesellschaft das Recht
zuerkennen, ihre Geschäftsleitung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen,
erinnert der Gerichtshof in Randnummer 19 des Urteils Daily Mail and General
Trust daran, dass eine aufgrund einer nationalen Rechtsordnung gegründete
Gesellschaft jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und
ihre Existenz regelt, keine Realität hat.
68 In Randnummer 20 dieses Urteils unterstreicht der Gerichtshof die Unterschiede
zwischen den nationalen Rechtsordnungen hinsichtlich dessen, was für die
Gründung einer Gesellschaft an Verknüpfung mit dem nationalen Gebiet
erforderlich ist, wie hinsichtlich der Möglichkeit einer nach einem nationalen
Recht gegründeten Gesellschaft, diese Verknüpfung nachträglich
zu ändern.
69 In Randnummer 23 dieses Urteils kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass
der EG-Vertrag diese Unterschiede als Probleme betrachtet, die durch die Bestimmungen
des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit nicht gelöst sind,
sondern einer Lösung im Wege der Rechtssetzung oder des Vertragsschlusses
bedürfen; eine solche war jedoch noch nicht gefunden worden.
70 Dabei hat sich der Gerichtshof darauf beschränkt, festzustellen, dass
sich die Möglichkeit für eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats
gegründete Gesellschaft, ihren satzungsmäßigen Sitz oder ihren
tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen,
ohne die ihr durch die Rechtsordnung des Gründungsmitgliedstaats zuerkannte
Rechtspersönlichkeit zu verlieren, und gegebenenfalls die Modalitäten
dieser Verlegung nach den nationalen Rechtsvorschriften beurteilen, nach denen
diese Gesellschaft gegründet worden ist. Er zog daraus den Schluss, dass
ein Mitgliedstaat die Möglichkeit hat, einer nach seiner Rechtsordnung
gegründeten Gesellschaft Beschränkungen hinsichtlich der Verlegung
ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes aus seinem Hoheitsgebiet aufzuerlegen,
damit sie die ihr nach dem Recht dieses Staates zuerkannte Rechtspersönlichkeit
beibehalten kann.
71 Der Gerichtshof hat sich dagegen nicht zu der Frage geäußert,
ob in einem Fall wie im Ausgangsverfahren, in dem von einer nach dem Recht eines
Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats
angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in diesen
verlegt hat, dieser andere Mitgliedstaat sich weigern darf, die Rechtspersönlichkeit
anzuerkennen, die ihr nach der Rechtsordnung ihres Gründungsstaats zuerkannt
wird.
72 Ungeachtet des allgemein gehaltenen Wortlauts der Randnummer 23 des Urteils
Daily Mail and General Trust wollte der Gerichtshof den Mitgliedstaaten nicht
die Möglichkeit einräumen, die tatsächliche Inanspruchnahme der
Niederlassungsfreiheit in ihrem Hoheitsgebiet durch in anderen Mitgliedstaaten
wirksam gegründete Gesellschaften, von denen sie annehmen, dass sie ihren
tatsächlichen Verwaltungssitz in ihr Hoheitsgebiet verlegt haben, von der
Beachtung ihres nationalen Gesellschaftsrechts abhängig zu machen.
73 Dem Urteil Daily Mail and General Trust kann daher nicht entnommen werden,
dass in dem Fall, dass eine Gesellschaft, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats
gegründet worden ist und der dort Rechtspersönlichkeit zuerkannt wird,
von ihrer Niederlassungsfreiheit in einem anderen Mitgliedstaat Gebrauch macht,
die Frage der Anerkennung ihrer Rechtsfähigkeit und ihrer Parteifähigkeit
im Mitgliedstaat der Niederlassung nicht den Bestimmungen des EG-Vertrags über
die Niederlassungsfreiheit unterliegt. Dies gilt selbst dann, wenn von dieser
Gesellschaft nach dem Recht des Mitgliedstaats der Niederlassung angenommen
wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz dorthin verlegt hat.
74 Drittens ist das Vorbringen der spanischen Regierung zurückzuweisen,
in einer Situation wie im Ausgangsverfahren mache das Allgemeine Programm in
seinem Titel I die Inanspruchnahme der durch den EG-Vertrag garantierten Niederlassungsfreiheit
vom Bestehen einer tatsächlichen und dauerhaften Verbindung mit der Wirtschaft
eines Mitgliedstaats abhängig.
75 Wie sich nämlich aus dem Wortlaut des Allgemeinen Programms ergibt,
verlangt dieses eine tatsächliche und dauerhafte Verbindung allein für
den Fall, dass die Gesellschaft nur ihren satzungsmäßigen Sitz innerhalb
der Gemeinschaft hat. Bei Überseering, die sowohl ihren satzungsmäßigen
Sitz als auch ihren tatsächlichen Verwaltungssitz innerhalb der Gemeinschaft
hat, verhält es sich unbestreitbar nicht so. Der Gerichtshof hat für
diese Fallkonstellation in Randnummer 19 des Urteils Centros festgestellt, dass
Artikel 58 EG-Vertrag die nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten
Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung
oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben, den natürlichen
Personen gleichstellt, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind.
76 Nach alledem beruft sich Überseering zu Recht auf die Niederlassungsfreiheit,
um sich dagegen zur Wehr zu setzen, dass das deutsche Recht sie nicht als parteifähige
juristische Person ansieht.
77 Ferner ist daran zu erinnern, dass der Erwerb von Geschäftsanteilen
an einer in einem Mitgliedstaat gegründeten und ansässigen Gesellschaft
durch eine oder mehrere natürliche Personen mit Wohnort in einem anderen
Mitgliedstaat grundsätzlich den Bestimmungen des EG-Vertrags über
den freien Kapitalverkehr unterliegt, wenn eine solche Beteiligung ihnen nicht
einen gewissen Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft verleiht und
sie deren Tätigkeiten nicht bestimmen können. Wenn dagegen der Erwerb
sämtliche Geschäftsanteile einer Gesellschaft mit satzungsmäßigem
Sitz in einem anderen Mitgliedstaat umfasst und eine solche Beteiligung einen
gewissen Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft verleiht und es diesen
Personen ermöglicht, deren Tätigkeiten zu bestimmen, sind die Bestimmungen
des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit anwendbar (vgl. in diesem
Sinne Urteil vom 13. April 2000 in der Rechtssache C-251/98, Baars, Slg. 2000,
I-2787, Randnrn. 21 und 22).
Zum Vorliegen einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
78 Sodann ist zu prüfen, ob die Weigerung der deutschen Gerichte, einer
nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats wirksam gegründeten Gesellschaft
die Rechts- und Parteifähigkeit zuzuerkennen, eine Beschränkung der
Niederlassungsfreiheit darstellt.
79 In einer Situation wie im Ausgangsverfahren hat eine Gesellschaft, die nach
dem Recht eines anderen Mitgliedstaats als der Bundesrepublik Deutschland wirksam
gegründet worden ist und in diesem anderen Mitgliedstaat ihren satzungsmäßigen
Sitz hat, nach deutschem Recht keine andere Wahl, als sich in Deutschland neu
zu gründen, wenn sie vor einem deutschen Gericht Ansprüche aus einem
Vertrag mit einer Gesellschaft deutschen Rechts geltend machen möchte.
80 Überseering, die in den Niederlanden wirksam gegründet worden ist
und dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat, genießt aufgrund der
Artikel 43 EG und 48 EG das Recht, als Gesellschaft niederländischen Rechts
in Deutschland von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen. Insoweit
ist es unbeachtlich, dass nach der Gründung dieser Gesellschaft deren gesamtes
Kapital von in Deutschland ansässigen deutschen Staatsangehörigen
erworben wurde, denn dieser Umstand hat offenbar nicht zum Verlust der Rechtspersönlichkeit
geführt, die ihr die niederländische Rechtsordnung zuerkennt.
81 Ihre Existenz hängt sogar untrennbar mit ihrer Eigenschaft als Gesellschaft
niederländischen Rechts zusammen, da eine Gesellschaft, wie bereits ausgeführt
wurde, jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre
Existenz regelt, keine Realität hat (in diesem Sinne Urteil Daily Mail
and General Trust, Randnr. 19). Das Erfordernis, dieselbe Gesellschaft in Deutschland
neu zu gründen, kommt daher der Negierung der Niederlassungsfreiheit gleich.
82 Unter diesen Umständen stellt es eine mit den Artikeln 43 EG und 48
EG grundsätzlich nicht vereinbare Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
dar, wenn ein Mitgliedstaat sich u. a. deshalb weigert, die Rechtsfähigkeit
einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründet
worden ist und dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat, anzuerkennen,
weil die Gesellschaft im Anschluss an den Erwerb sämtlicher Geschäftsanteile
durch in seinem Hoheitsgebiet wohnende eigene Staatsangehörigen, ihren
tatsächlichen Verwaltungssitz in sein Hoheitsgebiet verlegt haben soll,
mit der Folge, dass die Gesellschaft im Aufnahmemitgliedstaat nicht zu dem Zweck
parteifähig ist, ihre Ansprüche aus einem Vertrag geltend zu machen,
es sei denn, dass sie sich nach dem Recht dieses Aufnahmestaats neu gründet.
Zur eventuellen Rechtfertigung der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
83 Schließlich ist zu prüfen, ob eine solche Beschränkung der
Niederlassungsfreiheit durch die sowohl vom vorlegenden Gericht als auch von
der deutschen Regierung angeführten Gründe gerechtfertigt sein kann.
84 Die deutsche Regierung macht hilfsweise für den Fall, dass der Gerichtshof
die Anwendung der Sitztheorie als eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit
ansehen sollte, geltend, dass diese Beschränkung ohne Diskriminierung angewandt
werde, durch zwingende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sei und in
einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehe.
85 Der nicht diskriminierende Charakter ergebe sich daraus, dass die sich aus
der Sitztheorie ergebenden Rechtsregeln nicht nur für ausländische
Gesellschaften gelten würden, die sich durch Verlegung ihres tatsächlichen
Verwaltungssitzes nach Deutschland dort niederließen, sondern auch für
Gesellschaften deutschen Rechts, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
aus Deutschland heraus verlegten.
86 Zu den zwingenden Gründen des Gemeinwohls, die zur Rechtfertigung der
angeblichen Beschränkung angeführt würden, sei zu bemerken, dass
das abgeleitete Gemeinschaftsrecht in anderen Bereichen voraussetze, dass der
Verwaltungssitz und der satzungsmäßige Sitz identisch seien. Das
Gemeinschaftsrecht habe somit grundsätzlich anerkannt, dass die Einheit
von satzungsmäßigem Sitz und Verwaltungssitz berechtigt sei.
87 Die Regeln des deutschen internationalen Gesellschaftsrechts dienten der
Rechtssicherheit und dem Gläubigerschutz. Auf Gemeinschaftsebene seien
die Modalitäten des Schutzes des Gesellschaftskapitals von Gesellschaften
mit beschränkter Haftung nicht harmonisiert, und diese Gesellschaften unterlägen
in anderen Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland zum Teil wesentlich
geringeren Anforderungen. Die im deutschen Recht angewandte Sitztheorie stelle
in diesem Zusammenhang sicher, dass eine Gesellschaft, deren Tätigkeitsschwerpunkt
im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland liege, mit einem bestimmten Mindestkapital
ausgestattet sei, was zur Sicherung ihrer Vertragspartner und Gläubiger
beitrage. Außerdem würden damit Wettbewerbsverzerrungen verhindert,
da alle schwerpunktmäßig in Deutschland tätigen Gesellschaften
gleichen rechtlichen Rahmenbedingung unterworfen würden.
88 Eine weitere Rechtfertigung stelle der Schutz der Minderheitsgesellschafter
dar. Mangels eines Gemeinschaftsstandards für diesen Schutz müsse
es einem Mitgliedstaat möglich sein, bei allen Gesellschaften, deren Tätigkeitsschwerpunkt
in seinem Hoheitsgebiet liege, die gleichen rechtlichen Rahmenbedingungen für
den Schutz von Minderheitsgesellschaftern durchzusetzen.
89 Auch der Arbeitnehmerschutz durch die Mitbestimmung im Unternehmen gemäß
den gesetzlich festgelegten Bedingungen rechtfertige die Anwendung der Sitztheorie.
Die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer nach dem Recht
eines anderen Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft nach Deutschland
könnte, wenn die Gesellschaft ihre Eigenschaft als Gesellschaft dieses
Rechts bewahren würde, die Gefahr einer Umgehung der deutschen Mitbestimmungsvorschriften
mit sich bringen, die es den Arbeitnehmern unter bestimmten Voraussetzungen
ermöglichten, im Aufsichtsrat der Gesellschaft vertreten zu sein. Ein solches
Organ gebe es bei den Gesellschaften der anderen Mitgliedstaaten nicht immer.
90 Schließlich rechtfertigten die Fiskalinteressen die Beschränkung,
die sich eventuell aus der Anwendung der Sitztheorie ergebe. Die Gründungstheorie
ermögliche in größerem Umfang als die Sitztheorie die Gründung
von Gesellschaften mit doppelter Ansässigkeit, die deshalb in zwei oder
mehr Mitgliedstaaten unbeschränkt steuerpflichtig seien. Bei solchen Gesellschaften
bestehe die Gefahr, dass sie in mehreren Mitgliedstaten parallel Steuervorteile
beanspruchten und erlangten. Als Beispiel sei die grenzüberschreitende
Verrechnung von Verlusten auf Gewinne zwischen verbundenen Unternehmen zu nennen.
91 Nach Ansicht der niederländischen Regierung und der Regierung des Vereinigten
Königreichs, der Kommission und der EFTA-Überwachungsbehörde
ist die fragliche Beschränkung nicht gerechtfertigt. Das Ziel des Gläubigerschutzes
sei auch von den dänischen Behörden in der Rechtssache Centros angeführt
worden, um die Weigerung zu rechtfertigen, in Dänemark die Zweigniederlassung
einer Gesellschaft einzutragen, die im Vereinigten Königreich wirksam gegründet
worden sei und deren sämtliche Tätigkeiten in Dänemark hätten
ausgeübt werden sollen, ohne die Anforderungen des dänischen Rechts
in Bezug auf die Gründung und die Einzahlung eines Mindestgesellschaftskapitals
zu erfüllen. Es sei außerdem zweifelhaft, dass die Anforderungen
hinsichtlich eines Mindestgesellschaftskapitals ein wirksames Mittel zum Schutz
von Gläubigern darstellten.
92 Es lässt sich nicht ausschließen, dass zwingende Gründe des
Gemeinwohls, wie der Schutz der Interessen der Gläubiger, der Minderheitsgesellschafter,
der Arbeitnehmer oder auch des Fiskus, unter bestimmten Umständen und unter
Beachtung bestimmter Voraussetzungen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit
rechtfertigen können.
93 Solche Ziele können es jedoch nicht rechtfertigen, dass einer Gesellschaft,
die in einem anderen Mitgliedstaat ordnungsgemäß gegründet worden
ist und dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat, die Rechtsfähigkeit
und damit die Parteifähigkeit abgesprochen wird. Eine solche Maßnahme
kommt nämlich der Negierung der den Gesellschaften in den Artikeln 43 EG
und 48 EG zuerkannten Niederlassungsfreiheit gleich.
94 Auf die erste Frage ist daher zu antworten, dass es gegen die Artikel 43
EG und 48 EG verstößt, wenn einer Gesellschaft, die nach dem Recht
des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen
Sitz hat, gegründet worden ist und von der nach dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
dorthin verlegt hat, in diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit und damit
die Parteifähigkeit vor seinen nationalen Gerichten für das Geltendmachen
von Ansprüchen aus einem Vertrag mit einer in diesem Mitgliedstaat ansässigen
Gesellschaft abgesprochen wird.
Zur zweiten Vorlagefrage
95 Aus der Antwort auf die erste Vorlagefrage folgt, dass in dem Fall, dass
eine Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats gegründet worden
ist, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat,
in einem anderen Mitgliedstaat von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch macht,
dieser andere Mitgliedstaat nach den Artikeln 43 EG und 48 EG verpflichtet ist,
die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit zu achten, die diese
Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungstaats besitzt.
Kostenentscheidung
Kosten
96 Die Auslagen der deutschen, der spanischen, der italienischen und der niederländischen
Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission
und der EFTA-Überwachungsbehörde, die vor dem Gerichtshof Erklärungen
abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des
Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden
Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache
dieses Gerichts.
Urteilstenor
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 30. März 2000 vorgelegten
Fragen für Recht erkannt:
1. Es verstößt gegen die Artikel 43 EG und 48 EG, wenn einer Gesellschaft,
die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen
Sitz hat, gegründet worden ist und von der nach dem Recht eines anderen
Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz
dorthin verlegt hat, in diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit und damit
die Parteifähigkeit vor seinen nationalen Gerichten für das Geltendmachen
von Ansprüchen aus einem Vertrag mit einer in diesem Mitgliedstaat ansässigen
Gesellschaft abgesprochen wird.
2. Macht eine Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats gegründet
worden ist, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz
hat, in einem anderen Mitgliedstaat von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch,
so ist dieser andere Mitgliedstaat nach den Artikeln 43 EG und 48 EG verpflichtet,
die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit zu achten, die diese
Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungstaats besitzt.
Aufgabe der Sitztheorie - Ein Überblick über die Auswirkungen der Centros- und der Überseering-Entscheidung des EuGH
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