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BGH legt EuGH weitere Fragen zur Unionsrechtswidrigkeit der HOAI-Mindestsätze zur Entscheidung vor

BGH
Beschluss vom 14.05.2020
VII ZR 174/19


Der BGH hat dem EuGH weitere Fragen zur Unionsrechtswidrigkeit der HOAI-Mindestsätze zur Entscheidung vorgelegt.

(siehe auch zum Thema EuGH: Verbindliche Honorare mit Mindest- und Höchstsätzen in HOAI für Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren sind unionsrechtswidrig)

Die Pressemitteilung des BGH:

Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zur Frage der Unionsrechtswidrigkeit der HOAI-Mindestsätze

Beschluss vom 14. Mai 2020 - VII ZR 174/19

Der Bundesgerichtshof hat heute ein Verfahren über die Vergütung eines Ingenieurs ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mehrere Fragen zu den Folgen der vom EuGH in seinem Urteil vom 4. Juli 2019 (C-377/17) angenommenen Unionsrechtswidrigkeit der Mindestsätze in der HOAI für laufende Gerichtsverfahrens zwischen Privatpersonen vorgelegt.

Der EuGH hatte in diesem Urteil in einem von der Europäischen Kommission betriebenen Vertragsverletzungsverfahren entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchstabe g) und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (Dienstleistungsrichtlinie) verstoßen hat, dass sie verbindliche Honorare für die Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren beibehalten hat.

Sachverhalt:

Der Kläger, der ein Ingenieurbüro betreibt, verlangt von der Beklagten die Zahlung restlicher Vergütung aufgrund eines im Jahre 2016 abgeschlossenen Ingenieurvertrages, in dem die Parteien für die vom Kläger zu erbringenden Ingenieurleistungen bei einem Bauvorhaben der Beklagten ein Pauschalhonorar in Höhe von 55.025 € vereinbart hatten.

Nachdem der Kläger den Ingenieurvertrag gekündigt hatte, rechnete er im Juli 2017 seine erbrachten Leistungen in einer Honorarschlussrechnung auf Grundlage der Mindestsätze der Verordnung über die Honorare für Architekten- und Ingenieurleistungen (HOAI) in der Fassung aus dem Jahr 2013 ab. Mit der Klage hat er eine noch offene Restforderung in Höhe von 102.934,59 € brutto geltend gemacht.

Bisheriger Prozessverlauf:

Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung von 100.108,34 € verurteilt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Beklagte zur Zahlung von 96.768,03 € verurteilt. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung weiter.

Das Oberlandesgericht hat die Auffassung vertreten, dem Kläger stehe ein restlicher vertraglicher Zahlungsanspruch nach den Mindestsätzen der HOAI (2013) zu. Die im Ingenieurvertrag getroffene Pauschalpreisvereinbarung sei wegen Verstoßes gegen den Mindestpreischarakter der HOAI als zwingendes Preisrecht unwirksam. Das in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland ergangene Urteil des EuGH ändere nichts an der Anwendbarkeit der maßgeblichen Bestimmungen der HOAI zum Mindestpreischarakter. Das Urteil binde nur den Mitgliedstaat, der den europarechtswidrigen Zustand beseitigen müsse, entfalte hingegen für den einzelnen Unionsbürger keine Rechtswirkung. Eine Nichtanwendung der Mindestsätze der HOAI in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen könne auch nicht auf die Dienstleistungsrichtlinie gestützt werden, der keine unmittelbare Wirkung zu Lasten einzelner Unionsbürger zukomme. Es bestehe kein Anwendungsvorrang der Dienstleistungsrichtlinie gegenüber den unionsrechtswidrigen Regelungen der HOAI. Eine richtlinienkonforme Auslegung des zwingenden Preisrechts gemäß § 7 HOAI sei ausgeschlossen.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der unter anderem für Rechtsstreitigkeiten über Architekten- und Ingenieurverträge zuständige VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH in einem Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV folgende Fragen vorgelegt:

Folgt aus dem Unionsrecht, dass Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchstabe g) und Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie im Rahmen eines laufenden Gerichtsverfahrens zwischen Privatpersonen in der Weise unmittelbare Wirkung entfaltet, dass die dieser Richtlinie entgegenstehenden nationalen Regelungen in § 7 HOAI, wonach die in dieser Honorarordnung statuierten Mindestsätze für Planungs- und Überwachungsleistungen der Architekten und Ingenieure - abgesehen von bestimmten Ausnahmefällen - verbindlich sind und eine die Mindestsätze unterschreitende Honorarvereinbarung in Verträgen mit Architekten oder Ingenieuren unwirksam ist, nicht mehr anzuwenden sind?

Sofern Frage 1 verneint wird:

Liegt in der Regelung verbindlicher Mindestsätze für Planungs- und Überwachungsleistungen von Architekten und Ingenieuren in § 7 HOAI durch die Bundesrepublik Deutschland ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV oder gegen sonstige allgemeine Grundsätze des Unionsrechts?

Sofern Frage 2 a) bejaht wird: Folgt aus einem solchen Verstoß, dass in einem laufenden Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen die nationalen Regelungen über verbindliche Mindestsätze (hier: § 7 HOAI) nicht mehr anzuwenden sind?

Bei Anwendung der deutschen Regelungen in § 7 HOAI hätte die Revision der Beklagten keinen Erfolg, weil die Pauschalhonorarvereinbarung der Parteien unwirksam wäre und dem Kläger auf Grundlage der Mindestsätze der HOAI ein Anspruch auf Zahlung von 96.768,03 € zustünde.

§ 7 HOAI kann nicht unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils vom 4. Juli 2019 (C-377/17) richtlinienkonform dahin ausgelegt werden, dass die Mindestsätze der HOAI im Verhältnis zwischen Privatpersonen grundsätzlich nicht mehr verbindlich sind und daher einer die Mindestsätze unterschreitenden Honorarvereinbarung nicht entgegenstehen. Die Auslegung des nationalen Rechts darf nicht dazu führen, dass einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Norm ein entgegengesetzter Sinn gegeben oder der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt wird. Demgemäß kommt eine richtlinienkonforme Auslegung nur in Frage, wenn eine Norm tatsächlich unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten im Rahmen dessen zulässt, was der gesetzgeberischen Zweck- und Zielsetzung entspricht. Der Gesetz- und Verordnungsgeber hat mit den Regelungen in § 7 HOAI und der dieser Bestimmung zu Grunde liegenden Ermächtigungsgrundlage eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass eine unterhalb der verbindlichen Mindestsätze liegende Honorarvereinbarung für Architekten und Ingenieurgrundleistungen - von bestimmten Ausnahmen abgesehen - unwirksam ist und sich die Höhe des Honorars in diesem Fall nach den Mindestsätzen bestimmt.

Die Entscheidung über die Revision hängt maßgeblich von der Beantwortung der dem EuGH vorgelegten ersten Frage zur unmittelbaren Wirkung von Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchstabe g) und Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie im Rahmen eines laufenden Gerichtsverfahrens zwischen Privatpersonen ab. Angesichts zahlreicher gegenläufiger obergerichtlicher Entscheidungen sowie Meinungsäußerungen im Schrifttum, die ihre inhaltlich konträren Standpunkte jeweils aus der bisherigen Rechtsprechung des EuGH ableiten, ist die richtige Anwendung des Unionsrechts nicht von vornherein derart eindeutig ("acte claire") oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ("acte éclairé"), dass kein vernünftiger Zweifel verbleibt.

Der Bundesgerichtshof neigt dazu, keine unmittelbare Wirkung von Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchstabe g) und Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie in der Weise anzunehmen, dass die dieser Richtlinie entgegenstehenden nationalen Regelungen in § 7 HOAI in laufenden Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen nicht mehr angewendet werden können. Zwar ist Art. 15 der Dienstleistungsrichtlinie auch auf rein innerstaatliche Sachverhalte - wie im Streitfall - anwendbar. Zudem ist in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt, dass sich der Einzelne gegenüber dem Mitgliedstaat in bestimmten Fällen unmittelbar auf eine Richtlinie berufen kann, wenn diese nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt wurde und die Richtlinienbestimmung inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheint. Allerdings kann eine Richtlinie grundsätzlich nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist. Eine Richtlinie kann demgemäß grundsätzlich auch nicht in einem Rechtsstreit zwischen Privaten angeführt werden, um die Anwendung der Regelung eines Mitgliedstaats, die gegen die Richtlinie verstößt, auszuschließen.

Soweit der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung in bestimmten Ausnahmefällen - bei Unmöglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung - eine Nichtanwendung unionsrechtswidriger nationaler Vorschriften zwischen Privatpersonen bejaht hat, wird der Streitfall nach Auffassung des Bundesgerichtshofs hiervon nicht erfasst.

Für den Fall, dass die erste Vorlagefrage verneint wird, hängt die Entscheidung des Rechtsstreits von der Beantwortung der weiteren Vorlagefragen zu einem möglichen Verstoß der in der HOAI festgelegten Mindestsätze gegen die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV oder gegen sonstige allgemeine Grundsätze des Unionsrechts sowie den Folgen eines solchen Verstoßes für ein laufendes Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen ab. Ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit kann nach Einschätzung des Bundesgerichtshofs nicht ausgeschlossen werden. Der EuGH hat diese Frage in seinem Urteil vom 4. Juli 2019 (C-377/17) ausdrücklich offengelassen.

Urteil vom 14. Mai 2020 - VII ZR 205/19

In dem weiteren am heutigen Tag verhandelten Rechtsstreit, in dem die dortige Klägerin gegen die in diesem Verfahren Beklagten Honorarnachforderungen aus mehreren in den Jahren 2010 bis 2012 geschlossenen Verträgen über die Erbringung von Architekten- und Ingenieurleistungen im Zusammenhang mit der Konzeption und Errichtung einer Biogasanlage geltend gemacht hat (vgl. Pressemitteilung Nr. 10/2020 vom 22. Januar 2020), hat der Bundesgerichtshof die klageabweisenden Entscheidungen der Vorinstanzen bestätigt und die Revision der Klägerin zurückgewiesen. In diesem Verfahren kam es auf die zwischen den Parteien auch hier im Streit stehenden Rechtsfragen zu den Folgen der vom EuGH in seinem Urteil vom 4. Juli 2019 (C-377/17) angenommenen Unionsrechtswidrigkeit der Mindestsätze in der HOAI für laufende Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen nicht entscheidungserheblich an. Vielmehr war das Berufungsurteil des Oberlandesgerichts bereits auf Grundlage der diese Entscheidung selbständig tragenden Erwägung, wonach eine Unwirksamkeit der Pauschalhonorarvereinbarungen wegen Mindestsatzunterschreitung gemäß § 7 Abs. 1 HOAI (2009) aufgrund des insoweit nicht schlüssigen Vortrags der Klägerin nicht festgestellt werden konnte, jedenfalls im Ergebnis zutreffend.

Vorinstanzen:

VII ZR 174/19

LG Essen - Urteil vom 28. Dezember 2017 - 6 O 351/17

OLG Hamm - Teilverzichts- und Schlussurteil vom 23. Juli 2019 - 21 U 24/18 (BauR 2019, 1810)

VII ZR 205/19

LG Hildesheim - Urteil vom 7. Dezember 2018 - 4 O 296/17

OLG Celle - Urteil vom 14. August 2019 - 14 U 198/18 (BauR 2019, 1957)

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

Honorarordnung für Architekten und Ingenieure

§ 1 Anwendungsbereich

Diese Verordnung regelt die Berechnung der Entgelte für die Grundleistungen der Architekten und Architektinnen und der Ingenieure und Ingenieurinnen (Auftragnehmer oder Auftragnehmerinnen) mit Sitz im Inland, soweit die Grundleistungen durch diese Verordnung erfasst und vom Inland aus erbracht werden.

§ 7 Honorarvereinbarung

(1) Das Honorar richtet sich nach der schriftlichen Vereinbarung, die die Vertragsparteien bei Auftragserteilung im Rahmen der durch diese Verordnung festgesetzten Mindest- und Höchstsätze treffen.

(2) …

(3) Die in dieser Verordnung festgesetzten Mindestsätze können durch schriftliche Vereinbarung in Ausnahmefällen unterschritten werden.

(4) …

(5) Sofern nicht bei Auftragserteilung etwas anderes schriftlich vereinbart worden ist, wird unwiderleglich vermutet, dass die jeweiligen Mindestsätze gemäß Absatz 1 vereinbart sind.

(6) …

Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (Dienstleistungsrichtlinie)

Art. 15 Zu prüfende Anforderungen

(1) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnungen die in Absatz 2 aufgeführten Anforderungen vorsehen, und stellen sicher, dass diese Anforderungen die Bedingungen des Absatzes 3 erfüllen. Die Mitgliedstaaten ändern ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um sie diesen Bedingungen anzupassen.

(2) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnung die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit von folgenden nicht diskriminierenden Anforderungen abhängig macht:



g) der Beachtung von festgesetzten Mindest- und/oder Höchstpreisen durch den Dienstleistungserbringer;



(3) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob die in Absatz 2 genannten Anforderungen folgende Bedingungen erfüllen:

a) Nicht-Diskriminierung: die Anforderungen dürfen weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder - bei Gesellschaften - aufgrund des Orts des satzungsmäßigen Sitzes darstellen;

b) Erforderlichkeit: die Anforderungen müssen durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein;

c) Verhältnismäßigkeit: die Anforderungen müssen zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels geeignet sein; sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist; diese Anforderungen können nicht durch andere weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden, die zum selben Ergebnis führen.

(5-7) …

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)

Art. 267

Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet im Wege der Vorabentscheidung

a) über die Auslegung der Verträge,

b) …

Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen.

Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet. …

Art. 49

Die Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats sind nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen verboten. Das Gleiche gilt für Beschränkungen der Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften durch Angehörige eines Mitgliedstaats, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig sind.

Vorbehaltlich des Kapitels über den Kapitalverkehr umfasst die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von Gesellschaften im Sinne des Artikels 54 Absatz 2, nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen.



EuGH: Widerrufsbelehrung muss nur dann zwingend eine Telefonnummer enthalten wenn Anbieter Eindruck erweckt Telefonnummer für Kontakte mit Verbrauchern zu nutzen

EuGH
Urteil vom 14.05.2020
C‑266/19
EIS GmbH gegen TO


Der EuGH hat entschieden, dass eine Widerrufsbelehrung nur dann zwingend eine Telefonnummer enthalten muss, wenn der Anbieter den Eindruck erweckt, die Telefonnummer für Kontakte mit Verbrauchern zu nutzen.

Tenor der Entscheidung:

Art. 6 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates ist dahin auszulegen, dass die nach dieser Bestimmung „gegebenenfalls“ anzugebende Telefonnummer eines Unternehmers in einer Situation, in der sie dergestalt auf seiner Website zu finden ist, dass einem Durchschnittsverbraucher, d. h. einem normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Verbraucher, suggeriert wird, dass der Unternehmer diese Telefonnummer für seine Kontakte mit Verbrauchern nutzt, als verfügbar anzusehen ist. In einem solchen Fall ist Art. 6 Abs. 1 Buchst. c und h und Abs. 4 der Richtlinie in Verbindung mit deren Anhang I Teil A dahin auszulegen, dass der Unternehmer, der einem Verbraucher, bevor dieser durch einen Fernabsatzvertrag oder einen außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrag gebunden ist, die Informationen zur Ausübung des Widerrufsrechts zur Verfügung stellt und hierbei auf die Muster-Widerrufsbelehrung in Anhang I Teil A zurückgreift, die betreffende Telefonnummer darin angeben muss, damit der Verbraucher ihm seine etwaige Entscheidung, von dem Widerrufsrecht Gebrauch zu machen, auf diesem Weg mitteilen kann.

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:



LAG Nürnberg: Abberufung und Kündigung des internen Datenschutzbeauftragten aus wichtigem Grund - §§ 38 Abs. 2 iVm § 6 Abs. 4 Satz 1 BDSG mit Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO vereinbar

LAG Nürnberg
Urteil vom 19.02.2020
2 Sa 274/19

Das LAG Nürnberg hat entschieden, dass die Abberufung und Kündigung des internen Datenschutzbeauftragten aus wichtigem Grund möglich ist. §§ 38 Abs. 2 iVm § 6 Abs. 4 Satz 1 BDSG ist insoweit mit Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO vereinbar.

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Beklagte zu 1) bedurfte auch für die Abberufung der Klägerin als ihre interne Datenschutzbeauftragte eines wichtigen Grundes. Diese nunmehr in §§ 38 Abs. 2 iVm § 6 Abs. 4 Satz 1 BDSG enthaltene nationale Regelung verstößt nicht gegen Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DS-GVO.

1. Auch die Abberufung des Datenschutzbeauftragten ist in der DS-GVO nicht abschließend geregelt. Nach Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DS-GVO darf der Datenschutzbeauftragte zwar nicht wegen der Erfüllung seiner Aufgaben abberufen oder benachteiligt werden. Damit ist aber nicht geregelt, unter welchen weitergehenden Voraussetzungen eine Abberufung des Datenschutzbeauftragten tatsächlich erfolgen kann. Mit der Bestellung zum Datenschutzbeauftragten überträgt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die entsprechenden Aufgaben als Teil seiner arbeitsvertraglichen Pflichten. Der Arbeitsvertragsinhalt ändert sich (BAG 23.03.2011 - 10 AZR 652/09 - Rn 30; 13.03.2007 - 9 AZR 612/05 - Rn 23). Die Abberufung als interner Datenschutzbeauftragter zielt damit im Umkehrschluss ebenfalls auf eine Änderung der arbeitsvertraglichen Pflichten. Damit handelt es sich auch beim besonderen nationalen Abberufungsschutz nach § 38 Abs. 2 iVm § 6 Abs. 4 Satz 1 BDSG im Kern um eine arbeitsrechtliche Regelung. Es bedurfte daher auch bezüglich der arbeitsrechtlichen Regeln über die Abberufung keiner ausdrücklichen Öffnungsklausel (a.A. Kühling/Buchner/Kühling/Sackmann, 2. Aufl., 2018, BDSG § 38 Rn 20; Ehmann/Sehmayr/Heberlein, 2.Aufl., 2018, DS-GVO Art. 38 Rn 28), da die europarechtliche Kompetenznorm sich insoweit in Art. 153 Abs. 1 lit. b AEUV („Arbeitsbedingungen“) findet. In diesem Bereich wird die EU jedoch nicht durch Verordnung, sondern durch Richtlinien tätig und hindert strengere Schutzmaßnahmen der Mitgliedstaaten nicht (Art. 153 Abs. 4, 2. Spiegelstrich). Ebenso wie der Kündigungsschutz dient auch verstärkte nationale Abberufungsschutz gerade dem Ziel, dass der als Arbeitnehmer abhängig beschäftigte interne Datenschutzbeauftragte seine Pflichten und Aufgaben in vollständiger Unabhängigkeit ausüben kann (s. Erwägungsgrund 97 der DS-GVO). Der externe Datenschutzbeauftrage steht hingegen nicht in einem Arbeitsverhältnis zum Verantwortlichen und ist somit gerade nicht abhängig beschäftigt. Dies alles spricht dafür, dass die DS-GVO bezogen auf interne Datenschutzbeauftragte einen national verstärkten Abberufungsschutz nicht ausschließen wollte.

Mit dem Bundesgesetzgeber (BT-Drs. 18/11326, 82) vertritt die Berufungskammer daher die Auffassung, dass es sich auch bei dem besonderen Abberufungsschutz eines internen Datenschutzbeauftragten um eine arbeitsrechtliche Regelung handelt, die ergänzend zu den Vorgaben der DS-GVO auch im BDSG n. F. beibehalten werden kann (LAG Sachsen 19.08.2019 - 9 Sa 268/18 Rn 49; ErfK/Franzen, 20. Aufl., 2020, BDSG § 38 Rn 7; BeckOK DatenschutzR/Moos BDSG § 38 Rn 18; Pauly in Paal/Pauly, DS-GVO BDSG, 2. Aufl. 2018, § 38 BDSG Rn 17; Körffer in Paal/Pauly, a.a.O § 6 BDSG, Rn 3).

2. Ein wichtiger Grund für die Abberufung der Klägerin als Datenschutzbeauftragte lag nicht vor. Dies hat das Arbeitsgericht überzeugend unter Bezugnahme auf die Entscheidung des BAG vom 23.03.2011 - 10 AZR 562/09 herausgearbeitet. Ein wichtiger Grund liegt insbesondere nicht darin, einen internen Datenschutzbeauftragten durch einen externen Datenschutzbeauftragten aus organisatorischen, finanziellen oder personalpolitischen Gründen zu ersetzen. Weitere Ausführungen seitens des Berufungsgerichts sind hierzu nicht veranlasst.

3. Unabhängig davon folgt nach Überzeugung des erkennenden Gerichts auch aus dem Vortrag der Beklagten zu 1), dass die Abberufung jedenfalls auch wegen der Erfüllung der Aufgaben der Klägerin als Datenschutzbeauftragte erfolgte und damit nicht in Einklang mit Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DS-GVO stand. Die Beklagte zu 1) beruft sich darauf, dass die Abberufung der Klägerin als Datenschutzbeauftragte wegen des relativ hohen Risiko- und Haftungspotenzials für Anwendungs- und Ausführungsfehler im Bereich Datenschutz und der daraus resultierenden Notwendigkeit der dringend notwendigen Professionalisierung für den Aufgabenbereich des Datenschutzbeauftragten erfolgt sei.

Diese Risiken und Notwendigkeiten lagen jedoch bereits bei der Einstellung der Klägerin zum 15.01.2018 vor. Die DS-GVO stammt vom 27.04.2016. Das diese ergänzende BDSG wurde am 30.06.2017 verkündet. In beiden Regelungswerken ist als Datum des Inkrafttretens von Anfang an der 25.05.2018 bestimmt gewesen. Die Klägerin wurde praktisch unmittelbar nach Beginn des Arbeitsverhältnisses mit Datum vom 15.01./31.01.2018 zur Datenschutzbeauftragten gem. § 4f BDSG aF bestellt. Die Bestellung zur Datenschutzbeauftragten war Teil der Aufgabenbeschreibung 9155, aus der sich gem. § 3 Abs. 1 des Arbeitsvertrages die Arbeitsaufgaben der Klägerin ergaben. Wenn die Beklagte zu 1) nunmehr anführt, die Verlagerung der Aufgaben auf einen externen Datenschutzbeauftragten sei aus Gründen der Professionalisierung notwendig, die Klägerin andererseits aber von Anfang an mit der Aufgabe der Datenschutzbeauftragten betraut wurde, so heißt das, dass die Klägerin ihre Aufgaben insoweit nicht ausreichend professionell wahrgenommen hat, um die von Anfang an absehbaren Risiken zu beherrschen.

Dies steht im Widerspruch zu der Behauptung, die Abberufung der Klägerin als Datenschutzbeauftragte sei nicht im Zusammenhang damit erfolgt, wie die Klägerin ihre Aufgaben als Datenschutzbeauftragte erfüllt habe. Die Beklagte zu 1) hat keinerlei Gründe vorgetragen, warum eine ausreichende Professionalisierung nicht durch Einräumung von mehr Zeit für die Klägerin für den Datenschutz hätte erreicht werden können. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund des behaupteten Wegfalls anderer Arbeitsaufgaben auf Grund der unternehmerischen Entscheidung. Werden jedoch nach Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DS-GVO nicht explizit verbotene Gründe für die Abberufung nur vorgeschoben, ist die Abberufung unwirksam (Kühling/Buchner/Bergt, 2. Aufl., 2018, DS-GVO Art. 38 Rn 30).

Im Übrigen wird der europarechtlich gewährte Abberufungsschutz weit auszulegen sein, um zu gewährleisten, dass der Datenschutzbeauftragte seine Pflichten und Aufgaben in vollständiger Unabhängigkeit ausüben kann, wie in Erwägungsgrund 97 des DS-GVO festgehalten ist (vgl. hierzu EuArbRK/Franzen 3. Aufl., 2020, DS-GVO Art. 38, Rn 4).


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:



LAG Köln: Umfangreiche private Internetnutzung am Dienst-PC während der Arbeitszeit trotz Verbot rechtfertigt außerordentliche Kündigung

LAG Köln
Urteil vom 07.02.2020
4 Sa 329/19


Das LAG Köln hat entschieden, dass die umfangreiche private Internetnutzung am Dienst-PC während der Arbeitszeit trotz Verbot eine außerordentliche Kündigung rechtfertigt.

Aus den Entscheidungsgründen:

" a) Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann.

aa) Das Vorliegen eines wichtigen Grundes iSv. § 626 Abs. 1 BGB ist in zwei Stufen zu prüfen (vgl. bspw. BAG, Urteil vom 29. Juni 2017 – 2 AZR 597/16, Rn. 13, NZA 2017, 1179, 1180; BAG, Urteil vom 7. Juli 2005 – 2 AZR 581/04, NZA 2006, 98 ff.). Im Rahmen von § 626 Abs. 1 BGB ist zunächst zu prüfen, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalls als wichtiger Kündigungsgrund an sich geeignet ist (1. Stufe). Liegt ein solcher Sachverhalt vor, bedarf es der weiteren Prüfung, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile - jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist - zumutbar ist oder nicht (2. Stufe) (st. Rspr., siehe bspw. BAG, Urteil vom 16. Juli 2015 – 2 AZR 85/15, Rn. 21 mwN, juris; BAG, Urteil vom 19. April 2012 – 2 AZR 186/11, Rn. 20 mwN, NJW 2013, 104 ff.).

bb) Sowohl die Nichteinhaltung von vorgegebenen Arbeitszeiten als auch die Verrichtung von Privattätigkeiten während der Arbeitszeit unter Nutzung des dienstlichen PCs als auch ausufernde Privattelefonate während der Arbeitszeit können an sich einen wichtiger Grund im Sinn des § 626 Abs. 1 BGB darstellen (vgl. BAG, Urteil vom 31. Mai 2007 – 2 AZR 200/06, Rn. 19, NZA 2007, 922 ff.; BAG, Urteil vom 7. Juli 2005 – 2 AZR 581/04, Rn. 27 mwN, NZA 2006, 98 ff.; Kramer, NZA 2004, 457, 459; Mengel, NZA 2005, 752, 753). Bei einer privaten Internetnutzung ebenso wie Privattelefonaten oder der Verrichtung von Neben- und privaten Tätigkeiten während der Arbeitszeit verletzt der Arbeitnehmer seine arbeitsvertragliche (Hauptleistungs-)Pflicht zur Arbeit, nämlich die Pflicht zur Erbringung der geschuldeten Arbeitsleistung. Private Telefonate und die private Internetnutzung während der Arbeitszeit dürfen die Erbringung der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung nicht erheblich beeinträchtigen. Die Pflichtverletzung wiegt dabei umso schwerer, je mehr der Arbeitnehmer bei der privaten Nutzung des Internets seine Arbeitspflicht in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht vernachlässigt (BAG, Urteil vom 31. Mai 2007 – 2 AZR 200/06, Rz. 19, juris; BAG, Urteil vom 27. April 2006 – 2 AZR 386/05, Rz. 25; BAG, Urteil vom 7. Juli 2005 – 2 AZR 581/04, Rz. 27, NZA 2006, 98 ff.; Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2018 – 7 Sa 406/17, Rn. 78, juris; LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. Januar 2016 – 5 Sa 657/15, Rn. 76, juris). Nutzt der Arbeitnehmer während seiner Arbeitszeit den Dienst-PC in erheblichem zeitlichen Umfang für private Angelegenheiten, kann er grundsätzlich nicht darauf vertrauen, der Arbeitgeber werde dies tolerieren. Er muss vielmehr damit rechnen, dass der Arbeitgeber nicht damit einverstanden ist, wenn sein Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung in dieser Zeit nicht erbringt und gleichwohl eine entsprechende Vergütung dafür beansprucht (vgl. nur BAG, Urteil vom 7. Juli 2005 – 2 AZR 581/04, Rz. 27, NZA 2006, 98 ff.; Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 17. Juni 2016 – 16 Sa 1711/15, Rn. 84, juris).

cc) Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zuzumuten ist oder nicht, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind (BAG, Urteil vom 19. April 2012 – 2 AZR 186/11, Rn. 21 mwN, NJW 2013, 104 ff.).

dd) Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Einer entsprechenden Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 in Verbindung mit § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist (BAG, Urteil vom 19. April 2012 – 2 AZR 186/11, Rn. 22 mwN, NJW 2013, 104 ff.).

b) Hieran gemessen stellt der dem Kläger durch die Beklagte vorgeworfene Arbeitszeitbetrug durch private Nutzung von Internet und E-Mail vom 28.11.2017, 29.11.2017 und 01.03.2018 sowie in den Monaten November 2017 bis einschließlich Februar 2018 einen an sich geeigneten Kündigungsgrund dar (1. Stufe). Die Täuschung des Arbeitgebers darüber, dass ein Arbeitnehmer gearbeitet habe, während tatsächlich – wegen Privattätigkeiten – keine Arbeitsleistung erbracht wurde, stellt regelmäßig einen Grund dar, der geeignet ist, das Arbeitsverhältnis durch Arbeitgeberkündigung ohne Einhaltung der Kündigungsfrist zu beenden (vgl. unter anderem Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 29. September 2014 – 2 Sa 181/14, Rn. 27, NZA-RR 2015 128, 129). Der Kläger hat den ihm vorgeworfenen Arbeitszeitbetrug zulasten der Beklagten zur Überzeugung der Berufungskammer begangen.

aa) Die Beklagte hat den Arbeitszeitbetrug des Klägers durch private Tätigkeiten während der Arbeitszeit, indem der Kläger entgegen des am 23.11.2017 – nachträglich – vereinbarten ausdrücklichen Verbots der Privatnutzung des dienstlichen Laptops zu privaten Zwecken im Internet „gesurft“ ist und E-Mails zu privaten Zwecke von Dritten gelesen und an diese geschrieben hat, in Ergänzung zu der unstreitigen E-Mail-Korrespondenz mit dem Vater am 29.11.2017, wie folgt begründet und dargelegt:

Am 28.11.2017 habe der Kläger ab 08:40 Uhr bis 17:17 Uhr über den Browser Mozilla Firefox insgesamt 616 Webseiten zu privaten Zwecken aufgerufen, zB. Facebook, Spiegel-Online, Whatsapp, Booking.com, Landal Ferienparks, Kinderhotels, Familien Parks, Bild.de, 1&1-Email (für Frau V W = Mutter des Klägers) und softeware–billiger.de (Suche für den Vater des Klägers, insgesamt 15 URLs im Zusammenhang mit einer Lizenz für Windows 10). Im Zeitraum von 11:47 Uhr bis ca. 15:42 Uhr entfallen nahezu sämtliche Web-Aufrufe auf die Homepages von Autoscout24, Autohaus S , Autohaus H , Peugeot, Autohaus K , RKG Autohaus, Autocenter D und automobile.de. Insgesamt wurden in dem zuletzt genannten Zeitraum über 290 URLs in Bezug auf Autorecherchen aufgerufen. Mit allen drei Browsern habe der Kläger an dem Tag über 860 URLs aufgerufen, dh. im Schnitt alle 33,49 Sekunden. Bzgl. der URL-Aufrufe wird auf den Internet-Browser-Verlauf auf Bl. 97-107 d.A. (= Anlage B 7 zum Schriftsatz der Beklagten vom 03.07.20118) Bezug genommen. Am 28.11.2017 habe der Geschäftsführer der Beklagten zudem einen auswärtigen Gesprächstermin gehabt, wo allein die Anreisezeit mit dem Auto zwei Stunden betrage, dh. der Kläger habe die Beklagte bewusst hintergehen wollen.

Am 29.11.2017 habe der Kläger zwischen 8:28 Uhr und 14:55 Uhr insgesamt 174 URLs im Zusammenhang mit Autorecherchen aufgerufen. Zwischenzeitlich erfolgte die unstreitige E-Mail-Korrespondenz mit dem seinem Vater, wobei der Kläger die in den E-Mails genannten URLs aufgerufen habe.

Am 01.03.2018 habe der Kläger zwischen 10:24 Uhr und 17:40 Uhr 205 Webseiten zu privaten Zwecken aufgerufen, ua. Facebook, Spiegel-Online, Kunde S D , Videos auf Youtube, Bild.de, Express.de. Insofern wird auf die Daten aus dem Log-File des Internet-Browsers auf Bl. 122-125 d.A. (= Anlage B 8 zum Schriftsatz der Beklagten vom 03.07.2018)

Ferner habe der Kläger in der Zeit vom 21.11.2017 bis zum 27.02.2018 über den Internet-Browser insgesamt 500 Aufrufe der Outlook Web App bzgl. einer E-Mail-Adresse aufgerufen, die bei seinem vormaligen Arbeitgeber (Firma S D ) gehostet wird. Bzgl. der Daten (Tag, Uhrzeit) der einzelnen Aufrufe wird auf Bl. 258-264 d.A. Bezug genommen.

Des Weiteren habe der Kläger im Zeitraum vom 06.11.2017 bis zum 28.02.2018 an 32 unterschiedlichen Tagen während der Arbeitszeit über 80 Änderungen an der Webseite der Mutter (https://www.m .de/) vorgenommen und dafür insgesamt rund 9 Stunden aufgewandt. Hinzu kämen noch rund 35 E-Mails an die Mutter bzgl. der Änderungen. Bzgl. der einzelnen Zeiträume der Änderungen wird auf Bl. 412-418 d.A. Bezug genommen.

Zwischen dem 02.11.2017 und dem 01.03.2018 habe der Kläger zudem 559 Mal sein E-Mail-Konto ( w @p .de) seiner privaten Firma (P ) von seinem Laptop aufgerufen, wobei der Kläger insofern 90 E-Mails bearbeitet habe. Diese Aufrufe fanden zu allen Uhrzeiten des Arbeitstages statt.

bb) Die diesbezüglichen Einlassungen des Klägers sind nicht erheblich. Der von der Beklagten vorgetragene Sachverhalt zum Umfang der privaten Nutzung von Internet und E-Mail über den dienstlichen Laptop ist daher gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen. Einer Beweisaufnahme bedurfte es nicht.

Im Hinblick auf die allgemeinen Grundsätze der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Zivilprozess ist zunächst an den Wortlaut des § 138 ZPO zu erinnern, der wie folgt lautet:

„(1) Die Parteien haben ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben.

(2) Jede Partei hat sich über die von dem Gegner behaupteten Tatsachen zu erklären.

(3) Tatsachen, die nicht ausdrücklich bestritten werden, sind als zugestanden anzusehen, wenn nicht die Absicht, sie bestreiten zu wollen, aus den übrigen Erklärungen der Partei hervorgeht.

(4) Eine Erklärung mit Nichtwissen ist nur über Tatsachen zulässig, die weder eigene Handlungen der Partei noch Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen sind.“

Die aus Absatz 1 folgende Wahrheitspflicht obliegt den Parteien und ihren Bevollmächtigten im Interesse einer geordneten Rechtspflege dem Gericht und dem Gegner gegenüber. Sie ist Pflicht zur subjektiven Wahrhaftigkeit im Sinne eines Verbots der wissentlichen Falschaussage und erstreckt sich auf Behauptung und Bestreiten tatsächlicher Umstände. Ein Verstoß gegen die Wahrheitspflicht ist die bewusste Behauptung unwahrer Tatsachen, ebenso das Verschweigen bekannter Tatsachen, deren Vortrag für die begehrte Entscheidung erforderlich ist, sowie das eigener Überzeugung widersprechende Bestreiten. Erkennbar unwahres Vorbringen bleibt im Rahmen der Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO unberücksichtigt.

Die Pflicht zum vollständigen Vortrag im Sinne des § 138 Abs. 1 ZPO besagt, dass die darlegungspflichtige Partei keine relevanten Tatsachen unterdrücken darf, was im Grunde schon aus der Wahrheitspflicht folgt, sich aber insbesondere auf die Frage auswirkt, wie umfangreich der Gegner nach § 138 Abs. 2 ZPO zu erwidern hat. Diese Erklärungslast des Gegners nach Abs. 2 ist in Bestehen und Umfang im Übrigen davon abhängig, wie die darlegungspflichtige Partei zuvor vorgetragen hat und welche Tatsachen unstreitig sind. Die Erklärungen müssen gleichermaßen den Anforderungen des Abs. 1 folgen, sie müssen also wahr und vollständig sein.

Die Verteilung der Darlegungslast zwischen der klagenden und der beklagten Partei folgt im Übrigen grundsätzlich aus der allgemeinen Beweislastregelung, der zufolge jeder, der sich auf eine ihm günstige Norm beruft, deren Voraussetzungen darlegen und beweisen muss. Dieser Grundsatz ist in den letzten Jahren zunehmend durch die Rechtsprechung des BGH zur sogenannten „sekundären Darlegungslast“ geprägt und teilweise aufgehoben worden. Ihr zufolge darf sich der Gegner der primär darlegungspflichtigen Partei nicht auf ein einfaches Bestreiten beschränken, wenn die darlegungspflichtige Partei außerhalb des von ihr darzulegenden Geschehensablaufes steht und keine nähere Kenntnis der maßgebenden Tatsachen besitzt, während der Prozessgegner sie hat und ihm nähere Angaben zumutbar sind (BGH, Urteil vom 1. Dezember 1982 – VIII ZR 279/81, juris; BGH, Urteil vom 14. Juni 2005 – VI ZR 179/04, juris). In diesen Fällen kann vom Prozessgegner im Rahmen des Zumutbaren das substantiierte Bestreiten der behaupteten Tatsache unter Darlegung der für das Gegenteil sprechenden Tatsachen und Umstände verlangt werden (BGH, Urteil vom 17. Januar 2008 – III ZR 239/06, juris). Genügt er dem nicht, ist der gegnerische Vortrag gemäß Abs. 3 als zugestanden anzusehen (st. Rspr; vgl. nur BGH, Urteil vom 19. Februar 2014 – I ZR 230/12, juris; siehe hierzu und mit weiteren Nachweisen: Greger in Zöller, Zivilprozessordnung, 32. Aufl. 2018, § 138 ZPO, Rn. 7 ff.; Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 31. Oktober 2018 – 6 Sa 652/18, Rn. 147, juris). In diesem Falle bedarf es also keiner Beweisaufnahme zum Beweis der von beweisbelasten Hauptpartei behaupteten Tatsachen.


cc) Hieran gemessen steht zur Überzeugung der erkennenden Berufungskammer iSv. § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO aufgrund des konkreten Sachvortrags der Beklagten und des nicht hinreichend substantiierten Bestreitens des Klägers sowie der unstrittigen E-Mail-Korrespondenz zwischen ihm und seinem Vater fest, folgendes Ausmaß eines Arbeitszeitbetruges fest:

(1) Am 28.11.2017 hat der Kläger von 08:40 Uhr bis 17:17 Uhr über den Browser Firefox von seinem Laptop insgesamt 616 Webseiten zu privaten Zwecken – zB. Facebook, Spiegel-Online, Whatsapp, Booking.com, Landal Ferienparks, Kinderhotels, Familien Parks, Bild.de, 1&1-Email (für Frau V W = Mutter des Klägers) – und damit im Schnitt alle 50 Sekunden (= 517 Minuten = 31.020 Sekunden / 616) eine andere URL aufgerufen. Im Zeitraum von 11:47 Uhr bis ca. 15:42 Uhr entfallen 290 URL-Aufrufe auf die Homepages von Autoscout24, Autohaus S , Autohaus H , Peugeot, Autohaus K , RKG Autohaus, Autocenter D und automobile.de, was einen URL-Aufruf alle 49 Sekunden durchschnittlich bedeutet. Und mit allen drei Browsern hat der Kläger an dem Tag über 860 URLs aufgerufen, was im Schnitt alle 36 Sekunden einen URL-Aufruf bedeutet. Die Beklagte hat in der Anlage B 7zum Schriftsatz vom 03.07.2018 (Bl. 97-107 d.A.) die einzelnen URL-Aufrufe und die Uhrzeiten dargelegt. Hierzu gehören auf die 15 URL-Aufrufe im Zusammenhang mit der Lizenz für Windows 10 für den Vater des Klägers (www.software-billiger.de). Dem ist der Kläger nicht erheblich entgegen getreten. Er hat sich zu den einzelnen Seiten-Aufrufen nicht näher eingelassen, weil er es aus seiner Erinnerung heraus nicht mehr könnte. Dies ist mit § 138 ZPO nicht zu vereinbaren, denn die Beklagte kann nicht mehr tun, als die unerlaubten URL-Aufrufe aufzuzeigen. Soweit der Kläger behauptet, er habe URLs zu privaten Zwecken nur während der Pausenzeiten aufgerufen, ist dies offensichtlich unzutreffend, denn der Kläger hat nicht den ganzen Arbeitstag oder zumindest – soweit es die Autoseiten-Aufrufe betrifft – von 11:47 bis 15:42 Uhr Mittagspause gemacht. Der Kläger hat daher mittlerweile eine halbe Stunde insgesamt (dh. am 28./29.11.2017 zusammen) für Privatnutzung des Internets zugestanden, ohne allerdings klar darzulegen, wann diese im Einzelnen gewesen sein soll. Auch hat er nicht dargelegt, ob und wann er dann an dem Tag seine Mittagspause genommen soll. Insgesamt steht damit zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger den gesamten 28.11.2017 nicht gearbeitet hat, denn bei der durchschnittlichen Zeitspanne der einzelnen URL-Aufrufe kann dazwischen keine sinnvolle Arbeitsleistung des Klägers liegen. Soweit der Kläger behauptet, dass er während der Dauer des Arbeitsverhältnisses ganz viele und umfangreiche Projekte und Tätigkeiten ausgeübt hat, hat der Kläger nicht konkret dargelegt, welche Arbeitsleistung er denn konkret am 28.11.2017 erbracht haben will. Er hat sich im Übrigen auch nicht dagegen gewandt, dass der Zeitraum von 08:40 Uhr bis 17:17 Uhr Arbeitszeit gewesen wäre, denn der Kläger hat sich sogar einer Mehrarbeit an diesem Tag berühmt und er hat auch die Vergütung für diesen Arbeitstag erhalten.

(2) Am 29.11.2017 hat der Kläger – während er mit seinem Vater diverse E-Mails bzgl. des beabsichtigten Autokaufs schrieb – zwischen 8:28 Uhr und 14:55 Uhr insgesamt 174 URLs im Zusammenhang mit Autorecherchen aufgerufen, was durchschnittlich alle zwei Minuten einen URL-Aufruf bedeutet. Zwischenzeitlich erfolgte die unstreitige E-Mail-Korrespondenz mit seinem Vater, wobei der Kläger die in den E-Mails genannten URLs aufgerufen hat. Ausgehend von drei Minuten Arbeitszeit für das Lesen einer E-Mail und deren Beantwortung (vgl. hierzu Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 15. Mai 2010 – 12 Sa 875/09, Rn. 43, NZA-RR 2010, 505 ff. = MMR 2010, 639 ff.), ergibt sich bei isolierter Betrachtung der insgesamt 13 E-Mails bereits ein Zeitaufwand von 39 Minuten. Nach Überzeugung der Berufungskammer hat jedoch der Kläger auch an diesem Tag keine Arbeitsleistung erbracht. Dies ergibt sich daraus, dass der Kläger zwischen 8:28 Uhr und 14:55 Uhr insgesamt 174 URLs im Zusammenhang mit seiner Autorecherche aufrief und mit seinem Vater regen E-Mail-Korrespondenz betreffend die Autorecherche führte. Insoweit genügt das pauschale Bestreiten des Klägers zu den konkreten Vorhaltungen der Beklagten nicht, sondern hat gemäß § 138 Abs. 3 ZPO die Geständnisfiktion zur Folge. Dies folgt daraus, dass der Kläger selbst am 29.11.2017 um 09:47 Uhr an seinen Vater schrieb, dass bei ihm langsam aber stetig der Gedanke, sein Auto zu wechseln, reift. In der gesamten E-Mail-Korrespondenz zwischen ihm und seinem Vater, die sich über den gesamten Arbeitstag zog, ging es ausschließlich um die Anschaffung eines neuen Privatwagens. Zudem ergibt sich aus den E-Mails, dass der Kläger sich u.a. die von seinem Vater vorgeschlagenen Autos auch auf dem Firmenrechner der Beklagten während seiner Arbeitszeit ansah. Dies ergibt sich beispielsweise daraus, dass er in der E-Mail von 10:50 Uhr seinem Vater schrieb, dass beide Autos zu seinen Anforderungen passen. Hätte sich der Kläger die von seinem Vater vorgeschlagenen Kfz nicht angesehen, wäre ihm eine entsprechende Beurteilung nicht möglich gewesen. Dasselbe ergibt sich aus den E-Mails von 15:39 Uhr und von 15:57 Uhr, wo der Vater dem Kläger eine Kfz-Konfiguration samt Rabatt übersendet, auf die der Kläger antwortet. Auch hat der Kläger an diesem Tag Arbeitszeit darauf verbracht, selbst Kfz im Internet zu recherchieren. Dies zeigt sich unter anderem an seiner E-Mail an seinen Vater von 13.17 Uhr in der er schreibt: „Was hältst Du denn von dem Wagen"? Der E-Mail war ein Link auf ein bestimmtes Auto beigefügt. Des Weiteren schrieb der Kläger in dieser E-Mail, dass es ihm sehr gut gefällt, dass die Türen sich nach hinten öffnen, da er vor der Tür nicht so viel Platz hat. Eine Genehmigung für die Internetrecherche durch die Beklagte gab es nicht. Einen dienstlichen Zweck, wonach der Besuch u.a. der Internetseite Mobile.de zu Recherchezwecken für die Beklagte erfolgt sei, ist eine nicht näher dargelegt Behauptung des Klägers, die die Berufungskammer als reine Schutzbehauptung bewertet. Der Kläger hat nicht dargelegt, welche programmiertechnischen Features dieser Homepage für die – nach den Behauptungen der Beklagten zu diesem Zeitpunkt noch nicht begonnene – Skylife-App relevant gewesen sein sollen. Soweit der Kläger mittlerweile eine halbe Stunde insgesamt (dh. am 28./29.11.2017 zusammen) für die Privatnutzung des Internets zugestanden hat, hat er allerdings nicht dargelegt, wann diese im Einzelnen gewesen sein soll. Auch hat er nicht dargelegt, ob und wann er dann an dem Tag seine Mittagspause genommen soll, so dass es unsubstantiiert ist, wenn der Kläger behauptet, er habe die gesamte Suche nach einem Auto innerhalb seiner Pausenzeit vorgenommen. Dies würde nämlich bedeuten, dass der Kläger von 08:28 Uhr (Beginn der Internetrecherche zu Kfz) bis einschließlich 16:04 Uhr (= Uhrzeit der letzten E-Mails des Vaters des Klägers an diesem Tag) Pause hat. Die Berufungskammer ist zudem – ebenso wie das Arbeitsgericht – zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger sich nicht nur minutenweise mit dem Thema der Autorecherche an diesem Tag auseinandergesetzt hat, sondern vielmehr den gesamten Arbeitstag hierauf verwendete. Bei einem durchschnittlichen Aufrufe einer neuen URL alle zwei Minuten und einem durchgehenden und nicht nur knappen E-Mail-Verkehr mit dem Vater, wobei alle E-Mails jeweils auf die vorherige E-Mail antworten oder zumindest damit im Zusammenhang stehen, bleibt für eine Arbeitsleistung an diesem Tag nichts übrig. Die Auswertung der Angaben auf einer URL, auf der Gebrauchtwagen abgebildet und bei denen es teilweise um die genaue Autokonfiguration (zB. Klimaanlage, Navigationssystem, Sitzheizung) und den Endpreis, ggfls. mit Rabatt, geht, nimmt erheblich Zeit in Anspruch, wobei die Kammer insofern durchschnittlich drei Minuten veranschlagt. Dies entspricht der Lebenserfahrung der Berufungskammer, da alle erkennenden Richter bereits selbst Autorecherche im Internet vorgenommen haben. Soweit der Kläger behauptet, dass er während der Dauer des Arbeitsverhältnisses ganz viele und umfangreiche Projekte und Tätigkeiten ausgeübt hat, hat der Kläger nicht konkret dargelegt, welche Arbeitsleistung er denn konkret am 29.11.2017 erbracht haben will. Er hat sich im Übrigen auch nicht dagegen gewandt, dass der Zeitraum von 08:28 Uhr bis 16:04 Uhr Arbeitszeit gewesen wäre, denn der Kläger hat sich sogar einer Mehrarbeit an diesem Tag berühmt und er hat auch die Vergütung für diesen Zeitraume erhalten.

(3) Am 01.03.2018 hat der Kläger zwischen 10:24 Uhr und 17:40 Uhr 205 Webseiten zu privaten Zwecken aufgerufen, ua. Facebook, Spiegel-Online, Kunde S D , Videos auf Youtube, Bild.de, Express.de, dh. im Schnitt alle zwei Minuten eine neue URL. Die Beklagte hat in der Anlage B 8 zum Schriftsatz vom 03.07.2018 (Bl. 122-125 d.A.) die einzelnen URL-Aufrufe und die Uhrzeiten dargelegt. Dem ist der Kläger nicht erheblich entgegen getreten. Er hat sich zu den einzelnen Seiten-Aufrufen nicht näher eingelassen, weil er es aus seiner Erinnerung heraus nicht mehr könnte. Dies ist mit § 138 ZPO nicht zu vereinbaren, denn die Beklagte kann nicht mehr tun, als die unerlaubten URL-Aufrufe aufzuzeigen. Soweit der Kläger behauptet, er habe URLs zu privaten Zwecken nur während der Pausenzeiten aufgerufen, ist dies offensichtlich unzutreffend, denn der Kläger hat nicht den ganzen Arbeitstag von 10:24 bis 17:40 Uhr Mittagspause gemacht, zumal der Kläger nicht dargelegt hat, ob und wann er dann an dem Tag seine Mittagspause genommen soll. Insgesamt steht damit zur Überzeugung der Berufungskammer fest, dass der Kläger damit auch den gesamten 01.03.2018 nicht gearbeitet hat, denn bei der durchschnittlichen Zeitspanne der einzelnen URL-Aufrufe kann dazwischen keine sinnvolle Arbeitsleistung des Klägers liegen. Soweit der Kläger behauptet, dass er während der Dauer des Arbeitsverhältnisses ganz viele und umfangreiche Projekte und Tätigkeiten ausgeübt hat, hat der Kläger nicht konkret dargelegt, welche Arbeitsleistung er denn konkret am 01.03.2018 erbracht haben will. Er hat sich im Übrigen auch nicht dagegen gewandt, dass der Zeitraum von 10:24 Uhr bis 17:40 Uhr Arbeitszeit gewesen wäre, denn der Kläger hat auch die Vergütung für diesen Zeitraum erhalten.

(4) Ferner hat der Kläger in der Zeit vom 21.11.2017 bis zum 27.02.2018 über den Internet-Browser insgesamt 500 Aufrufe der Outlook Web App bzgl. einer E-Mail-

Adresse aufgerufen, die bei seinem vormaligen Arbeitgeber (Firma S D ) gehostet wird. Bzgl. der Daten (Tag, Uhrzeit) der einzelnen Aufrufe wird auf Bl. 258-264 d.A. Bezug genommen. Auch hier ist der Kläger dem Sachvortrag der Beklagten nicht erheblich entgegen getreten. Er hat sich mit den einzelnen Zeitangaben der Beklagten nicht näher auseinandergesetzt. Der Sachvortrag der Beklagten gilt insofern gemäß den obigen Ausführungen gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden. Eine dienstliche Veranlassung ist nicht zu erkennen. Der Kläger hat in diesem Zusammenhang lediglich eine Konkurrenztätigkeit bei seinem früheren Arbeitgeber bestritten, nicht aber insofern die nicht-dienstliche und damit private Nutzung des Internets während der Arbeitszeit. Die Kammer geht insofern bezogen auf den Login-Vorgang und den E-Mail-Check von durchschnittlich einer Minute aus und damit von insgesamt 500 Minuten (was mehr als ein ganzen Arbeitstag á acht Stunden ausmacht) an Zeit aus, die der Kläger in dem Zeitraum nicht gearbeitet hat und damit die Beklagte geschädigt hat.

(5) Ferner hat der Kläger im Zeitraum vom 06.11.2017 bis zum 28.02.2018 an 32 unterschiedlichen Tagen während der Arbeitszeit über 80 Änderungen an der Webseite der Mutter (https://www.m .de/) vorgenommen und dafür insgesamt rund 9 Stunden aufgewandt. Hinzu kommen noch rund 35 E-Mails an die Mutter bzgl. der Änderungen. Bzgl. der einzelnen Zeiträume der Änderungen und der E-Mails wird auf Bl. 412-418 d.A. Bezug genommen. Auch hier ist der Kläger dem Sachvortrag der Beklagten nicht erheblich entgegen getreten. Er hat sich mit den einzelnen Zeitangaben der Beklagten nicht näher auseinandergesetzt. Der Sachvortrag der Beklagten gilt insofern gemäß den obigen Ausführungen gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden Eine dienstliche Veranlassung ist nicht zu erkennen. Der Kläger hat in diesem Zusammenhang lediglich eine Konkurrenztätigkeit bestritten, nicht aber insofern die nicht-dienstliche und damit private Nutzung. Auch dem von der Beklagten geschätzten Zeitumfang der Privatnutzung ist der Kläger nicht entgegen getreten und für die Berufungskammer erscheint dieser plausibel.

(6) Schließlich hat der Kläger im Zeitraum vom 02.11.2017 bis zum 01.03.2018 insgesamt 559 Mal sein E-Mail-Konto ( .w @ .de) seiner privaten Firma (P ) von seinem Laptop aufgerufen, wobei der Kläger insofern 90 E-Mails bearbeitet hat, wobei diese Aufrufe zu allen Uhrzeiten des Arbeitstages stattfanden. Auch hier ist der Kläger dem Sachvortrag der Beklagten nicht erheblich entgegen getreten. Der Sachvortrag der Beklagten gilt insofern gemäß den obigen Ausführungen gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden Eine dienstliche Veranlassung ist nicht zu erkennen. Ausgehend von geschätzten drei Minuten für das Lesen und Beantworten einer E-Mail (vgl. hierzu Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 15. Mai 2010 – 12 Sa 875/09, Rn. 43, NZA-RR 2010, 505 ff. = MMR 2010, 639 ff.) ist insofern von weiteren 270 Minuten und damit weiteren 4,5 Stunden auszugehen, an denen der Kläger nicht gearbeitet hat.

(7) Damit hat der Kläger im Ergebnis an drei Tagen (28.11.2017, 29.11.2017 und 01.03.2018) sowie im Zwischenzeitraum über kumuliert mehrere Stunden und damit an mehr als fünf kompletten Arbeitstagen, was wiederum mindestens einer Arbeitswoche entspricht, aufgrund von als exzessiv zu bewertenden privaten Tätigkeiten im Internet während der Arbeitszeit seine Hauptleistungspflicht verletzt.

(8) Soweit der Kläger den genannten URL-Aufrufen, die an den einzelnen Tagen bzw. in den genannten Zeiträumen erfolgt ist, generell entgegen hält, dass aus Erfahrung der gesuchten Seiten im Nachhinein die Webseite erneut besucht wurde um zu schauen, wie ein entsprechendes Feature programmiertechnisch umgesetzt wurde, ist dies für die Berufungskammer nicht nachvollziehbar. Entsprechendes gilt für seine Einlassung, wonach verschiedene Features für die App gewünscht gewesen seien, die auf diesen Seiten teilweise vorzufinden waren. Der Kläger hat damit keinen dienstlichen Bezug hinreichend substantiiert dargelegt. Er hätte dafür vielmehr darlegen müssen, mit welcher konkreten Tätigkeit er im Zeitpunkt des jeweiligen URL-Aufrufs betraut war und welches Feature von welcher URL er für seine Arbeit benötigt hätte, damit die Beklagte sich ihrerseits im Rahmen von § 138 ZPO darauf hätte einlassen können.

(9) Soweit der Kläger der Beklagten die Manipulation der Log-Dateien der Internet-Browser durch Veränderung der Zeitangaben vorwirft, ist dies als eine Behauptung ins Blaue hinein zu bewerten. Dieser Vorwurf ist durch nichts belegt. Selbst wenn es generell relativ einfach wäre, die Browserchronik zu verändern, bedeutet dies nicht, dass die Beklagte dies getan hätte. Dies gilt umso mehr, als der Kläger dem Geschäftsführer der Beklagten ohnehin attestiert, ein Quereinsteiger in die IT zu sein und damit über keine IT-Kenntnisse zu verfügen. Soweit der Kläger einzelne URL-Aufrufe benannt hat, die nicht von ihm stammen können, weil sich aus den GPS-Standortdaten seines Mobiltelefons abweichende Ortsangaben ergeben sollen, ist darauf hinzuweisen, dass es um die Auswertung eines Laptops, dh. eines transportablen Computers geht. Der Kläger hat nicht dargelegt, dass er den Laptop nicht dabei gehabt hätte. Außerdem ist auch nicht zu erkennen, dass die Standortdaten des Mobiltelefons des Klägers zwingend richtig sind. Und selbst wenn einzelne URL-Aufrufe nicht vom Kläger stammen sollten, bedeutete dies nicht, dass die restlichen Angaben bzgl. der URL-Aufrufe unzutreffend wären. Der Kläger kann jedenfalls mit dem nicht belegten Manipulationsvorwurf seine sekundäre Darlegungs- und Beweislast nicht wiederum auf die Beklagte verlagern.

(10) Letztlich schließen auch etwaige geleistete Überstunden des Klägers entgegen dessen Auffassung den dargelegten Arbeitszeitbetrug nicht aus. Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, er habe nicht alle tatsächlich geleisteten Überstunden geltend gemacht, so dass er Privattätigkeiten während der Arbeitszeit nicht „einfach“ mit Überstunden „verrechnen kann“. Abgesehen davon, dass schon nicht zu erkennen ist, ob diese behaupteten Überstunden überhaupt geleistet und von der Beklagten angeordnet oder zumindest geduldet wurden oder sonst wie zur Erbringungen der Arbeitsleistung erforderlich waren, ist der vorsätzliche Verstoß eines Arbeitnehmers gegen seine Verpflichtung zur Ableistung der geschuldeten Arbeitszeit nicht dadurch gerechtfertigt, dass die Arbeitsleistung ggfls. zu anderen Zeiten erbracht wurde (vgl. BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 2 AZR 370/18, Rn. 22, juris).

dd) Soweit die vorliegenden Sachverhalte der Beklagten, gesetzlich vertreten durch ihren Geschäftsführer K , bei Ausspruch der streitgegenständlichen Kündigung am 07.03.2018 noch nicht – vollständig – bekannt gewesen sein sollten, sondern erst durch den IT-Sachverständigen und dessen Gutachten vom 01.07.2018 bekannt wurden, hat dies vorliegend keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit der Kündigung, da es durchweg um tatsächliche Umstände handelt, die bereits vor Ausspruch der Kündigung objektiv vorlagen. Wenn und soweit diese erst später bekannt gewordenen Umstände in den Kündigungsschutzprozess eingeführt werden, handelt sich insofern um ein sog. Nachschieben von Kündigungsgründen, das in nicht-mitbestimmten Betrieben – wie bei der Beklagten – nach der Rechtsprechung des BAG ohne weiteres zulässig ist. Dies gilt auch bei § 626 BGB, denn die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB gilt nur für die Erklärung der Kündigung. Ist die Kündigung als solche rechtzeitig erklärt, schließt § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB ein Nachschieben nachträglich bekannt gewordener Gründe nicht aus (BAG, Urteil vom 23. Mai 2013 – 2 AZR 102/12, Rn. 33, juris; siehe bereits BAG, Urteil vom 4. Juni 1997 – 2 AZR 362/96, zu II 3 b der Gründe, BAGE 86, 88). Für die Beurteilung, ob ein nachgeschobener Sachverhalt dem Arbeitgeber schon im Kündigungszeitpunkt bekannt war, kommt es auf den Wissensstand des Kündigungsberechtigten an, dh. vorliegend ausschließlich Herrn K . Zu fordern ist in sachlicher Hinsicht - wie im Rahmen von § 626 Abs. 2 BGB - eine positive, vollständige Kenntnis der für die Kündigung maßgebenden Tatsachen. In personeller Hinsicht kommt es hier - wie bei § 626 Abs. 2 BGB - auf die entsprechende Kenntnis in der Person des Kündigungsberechtigten an. Handelt es sich bei dem Arbeitgeber um eine juristische Person, ist grundsätzlich maßgeblich die Kenntnis des gesetzlich oder satzungsgemäß für die Kündigung zuständigen Organs (siehe BAG, Urteil vom 18. Juni 2015 – 2 AZR 256/14 –, Rn. 48, juris).

ee) Einer prozessualen Verwertung der Inhalte der E-Mails auf dem dienstlichen Laptop und der Einträge in den Log-Dateien der Internet-Browser steht auch kein sog. prozessuales Verwertungsverbot (vgl. GMP/Prütting, 9. Aufl. 2018, § 58 ArbGG Rn. 34 ff, wobei die jüngste Rechtsprechung des 2. Senats des BAG dies umfassender als sein „Sachvortrags- oder Beweisverwertungsverbot“ bezeichnet, vgl. BAG, Urteil vom 27 Juli .2017 – 2 AZR 681/16, Rn. 16, NZA 2017, 1327, 1328) entgegen. Auch wenn der Kläger als betroffener Arbeitnehmer sich vorliegend – vorsorglich – weder auf die Rechtswidrigkeit der Informations- und Beweismittelbeschaffung berufen noch deren prozessuale Verwertung gem. § 295 ZPO gerügt hat, um dadurch die Rechtswirkungen des § 138 Abs. 3 ZPO (siehe oben) zu verhindern (vgl. HWK/Lembke, 8. Aufl. 2018, Vorb. BDSG, Rn. 112; Pötters/Wybitul, NJW 2014, 2074 (2079); vgl. auch BAG, Urteil vom 16. Dezember 2010 – 2 AZR 485/08, Rn. 32 und 34, NZA 2011, 571, 574; Schreiber ZZP 122 (2009), 227, 241), müssen die erkennenden Gerichte aufgrund der verfassungsrechtlichen Determinierung von Amts wegen prüfen, ob ein prozessuales Verwertungsverbot eingreift, sobald sich aus dem Vorbringen des Prozessgegners und seiner Beweisantritte Anhaltspunkte für „Verwertbarkeitszweifel“ ergeben (Niemann, JbArbR Bd. 55 S. 41, 63 f.). Solche Zweifel werden vorliegend zugunsten des Klägers unterstellt, da er „massive Datenverstöße“ der Beklagten gerügt hat.

(1) Weder die ZPO noch das ArbGG enthalten – ausdrückliche – Regelungen zur prozessualen Unverwertbarkeit rechtswidrig erlangter Informationen oder Beweise. Vielmehr gebieten der Anspruch auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 GG und der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO iVm § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG) durch die Tatsachengerichte grundsätzlich die Berücksichtigung des Sachvortrags der Parteien und der von ihnen angebotenen Beweismittel. Im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren gelten wie im Zivilprozess die Dispositionsmaxime und der Verhandlungs- oder Beibringungsgrundsatz. Das Zivil- oder Arbeitsgericht darf nur die von den Parteien vorgebrachten Tatsachen verwerten. Umgekehrt ist es zugleich an den Vortrag der Parteien und einen ihm unterbreiteten, entscheidungserheblichen Sachverhalt gebunden. Der Tatsachenvortrag einer Partei kann nicht ohne gesetzliche Grundlagen unbeachtet und „unverwertet“ bleiben. Ordnungsgemäß in den Prozess eingeführten Sachvortrag muss das Gericht grundsätzlich berücksichtigen. Das Zivilprozessrecht kennt grundsätzlich kein Verbot der „Verwertung” von entscheidungserheblichem Sachvortrag. Dementsprechend bedarf es für die Annahme eines Beweisverwertungsverbots, das zugleich die Erhebung der angebotenen Beweise hindern soll, einer besonderen Legitimation und gesetzlichen Grundlage (BAG, Urteil vom 20. Juni 2013 – 2 AZR 546/12, Rn. 20, NZA 2014, 143, 145). Dies gilt ebenso für ein etwaiges Sachvortragsverwertungsverbot (BAG, Urteil vom 22. September 2016 – 2 AZR 848/15, Rn. 21 mwN, NZA 2017, 112, 113; siehe auch Reitz NZA 2017, 273, 277). Prozessuale Verwertungsverbote stellen also die begründungsbedürftige Ausnahme dar (Zöller/Greger, 33. Aufl. 2020, § 286 ZPO Rn. 15 ff.).

Ein das Gericht bindendes Beweisverwertungsverbot oder ein Verbot, selbst unstreitigen Sachvortrag zu verwerten, kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn dies auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, oder weil dies aufgrund einer verfassungsrechtlich geschützten Position einer Prozesspartei zwingend geboten ist („verfassungsrechtliches Verwertungsverbot“) (Schreiber ZZP 122 (2009), 227, 229; BAG, Urteil vom 16. Dezember 2010 – 2 AZR 485/08, Rn. 29, NZA 2011, 571 ff.). Das Gericht tritt den Verfahrensbeteiligten im Zivil- und Arbeitsgerichtsprozess in Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt gegenüber. Es ist daher nach Art. 1 Abs. 3 GG bei der Urteilsfindung an die insoweit maßgeblichen Grundrechte gebunden und zu einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung (Art. 20 Abs. 3 GG), insbesondere zur fairen Handhabung des Prozess- und Beweisrechts bzw. einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung (BAG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16, Rn. 16, NZA 2017, 1327, 1328) verpflichtet (BVerfG, Beschluss vom 13. Februar 2007 – 1 BvR 421/05, Rn. 93 mwN, BVerfGE 117, 202ff. = NJW 2007, 753 ff.; BAG, Urteil vom 16. Dezember 2010 – 2 AZR 485/08, Rn. 31, NZA 2011, 571, 573). Dabei können sich auch aus materiellen Grundrechten wie dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG) Anforderungen an das gerichtliche Verfahren ergeben, wenn es um die Offenbarung und Verwertung von persönlichen Daten des Arbeitnehmers geht, die grundrechtlich vor der Kenntnis durch Dritte geschützt sind (BAG, Urteil vom 22. September 2016 – 2 AZR 848/15, Rn. 23, NZA 2017, 112, 113). Das Gericht hat deshalb zu prüfen, ob die Verwertung von persönlichen Daten und Erkenntnissen, die bspw. heimlich beschafft wurden, mit datenschutzrechtlichen Belangen (insbesondere Art. 88 DSGVO iVm. § 26 BDSG) oder mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des hiervon betroffenen Beweisgegners vereinbar sind (BAG, Urteil vom 21. Juni 2012 – 2 AZR 153/11, Rn. 28, NZA 2012, 1025, 1027); BGH, Urteil vom 15. Mai 2013 – XII ZB 107/08, Rn. 21, NJW 2013, 2668 ff.), selbst wenn die rechtswidrige Beschaffung nicht vom Gericht veranlasst wurde. Auch wenn keine spezielle Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts betroffen ist, greift die Verwertung von personenbezogenen Daten in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein, das die Befugnis garantiert, selbst über die Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten zu befinden (BAG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16, Rn. 16, NZA 2017, 1327, 1328); BAG, Urteil vom 20. Juni 2013 – 2 AZR 546/12, Rn. 21, NZA 2014, 143, 145). Dem Schutz des Grundrechts eines jeden, selbst zu entscheiden, ob persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden, dienen auch Art. 8 Abs. 1 EMRK sowie Art. 7 und 8 GRCh (BAG, Urteil vom 22. September 2016 – 2 AZR 848/15, Rn. 23, NZA 2017, 112, 113). Im Ergebnis bedeutet dies eine Prüfung dahingehend, dass eine rechtswidrige Sachverhalts- bzw. Beweismittelbeschaffung wegen der Bindung an die Grundrechte der Gerichte nicht noch um eine grundrechtswidrige prozessuale Verwertung ergänzt werden soll.

Greift die prozessuale Verwertung eines Beweismittels in das allgemeine Persönlichkeitsrecht eines Arbeitnehmers ein (1. Stufe), das – jedenfalls außerhalb des unantastbaren Kernbereich privater Lebensführung – nicht schrankenlos gewährleistet wird, überwiegt bei einer Güterabwägung das Interesse des Arbeitgebers an seiner Verwertung und der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege das Interesse am Schutz dieses Grundrechts nur dann, wenn weitere, über das schlichte Beweisinteresse hinausgehende Umstände auf Seiten des Arbeitgebers hinzutreten (2. Stufe). Anderenfalls würde die (Grund )Rechtsverletzung, die der Arbeitgeber bei der Informationsbeschaffung begangen hat, durch das Gericht perpetuiert, weil mit der prozessualen Verwertung der Beweismittel durch Beweiserhebung ein – erneuter bzw. fortgesetzter – Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers einherginge (BAG, Urteil vom 20. Juni 2013 – 2 AZR 546/12, Rn. 19, NZA 2014, 143, 145). Mitentscheidend für die Frage der Perpetuierung ist auch die Intensität des Eingriffs (BAG, Urteil vom 20. Juni 2013 – 2 AZR 546/12, Rn. 26, NZA 2014, 143, 146); ErfK/Schmidt, 20. Aufl. 2020, Art. 2 GG, Rn. 96), wobei die Heimlichkeit typischerweise das Gewicht der Freiheitsbeeinträchtigung erhöht (BAG, Urteil vom 20. Juni 2013 – 2 AZR 546/12, Rn. 31 mwN, NZA 2014, 143, 147). Das Interesse, sich ein Beweismittel für zivilrechtliche Ansprüche zu sichern, reicht für sich allein nicht aus (BVerfG, Beschluss vom 13. Februar 2007 – 1 BvR 421/05, Rn. 94, BVerfGE 117, 202ff. = NJW 2007, 753 ff.; BAG, Urteil vom 22. September 2016 – 2 AZR 848/15, Rn. 24, NZA 2017, 112, 114), denn damit liefe der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht weitgehend leer. Vielmehr müssen diese weiteren Umstände gerade die Art der Informationsbeschaffung und Beweiserhebung als gerechtfertigt und damit als schutzbedürftig erweisen (vgl. BAG, Urteil vom 21. Juni 2012 – 2 AZR 153/11, Rn. 29,

BMI: Referentenentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Erhöhung der Sicherheit informationstechnischer Systeme - IT-Sicherheitsgesetz 2.0 – IT-SiG 2.0

Es liegt der Referentenentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Erhöhung der Sicherheit informationstechnischer Systeme - IT-Sicherheitsgesetz 2.0 – IT-SiG 2.0 vor.

Sie finden den Entwurf hier:
Referentenentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Erhöhung der Sicherheit informationstechnischer Systeme - (IT-Sicherheitsgesetz 2.0 – IT-SiG 2.0


OLG Brandenburg: Wettbewerbswidrige Verunglimpfung durch Bezeichnung "Lügen Airline" - Zwischen Legal-Tech-Anbieter zur Durchsetzung von Fluggastrechten und Fluglinie besteht Wettbewerbsverhältnis g

OLG Brandenburg
Beschluss vom 17.04.2020
6 W 31/20


Das OLG Brandenburg hat entschieden, dass zwischen einem Legal-Tech-Anbieter zur Durchsetzung von Fluggastrechten und einer Fluglinie ein Wettbewerbsverhältnis gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 UWG besteht und die Bezeichnung einer Fluglinie als "Lügen Airline" ein wettbewerbswidrige Verunglimpfung darstellt.

Aus den Entscheidungsgründen:

2) Der Antrag auf Unterlassung des im Einzelnen bezeichneten Verhaltens ist auch begründet.

a) Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass ihr gegen die Antragsgegnerin ein Anspruch auf Unterlassung der inkriminierten Werbung, wie aus dem Tenor ersichtlich, aus

§ 8 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 Nr. 1, § 3 Abs. 1, § 4 Nr. 1 UWG zusteht.

aa) Die vorgenannten Rechtsnormen sind hier anwendbar. Nach Art. 6 Abs. 1 VO (EG) Nr. 864/2007 vom 11.07.2007 (Rom-II-VO) kommt auf den Streitfall deutsches Recht zur Anwendung, weil die Wettbewerbsbeziehungen der Parteien durch die Werbung der Antragsgegnerin auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt werden.

bb) Die Antragstellerin ist als Mitbewerberin der Antragsgegnerin zur Geltendmachung des wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsanspruches berechtigt, § 8 Abs. 3 Nr. 1 UWG. Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist das Bestehen eines Wettbewerbsverhältnisses zwischen Antragstellerin und Antragsgegnerin gegeben.

Ein konkretes Wettbewerbsverhältnis i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 3 UWG liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes vor, wenn beide Parteien gleichartige Waren oder Dienstleistungen innerhalb desselben Endverbraucherkreises abzusetzen versuchen und daher das Wettbewerbsverhalten des einen den anderen beeinträchtigen, das heißt im Absatz hindern oder stören kann. An die Annahme eines solchen Wettbewerbsverhältnisses sind im Sinne eines effektiven lauterkeitsrechtlichen Schutzes keine hohen Anforderungen zu stellen.

Allerdings reicht eine bloße Beeinträchtigung zur Begründung eines Wettbewerbsverhältnisses nicht aus, wenn es an jeglichem Konkurrenzmoment im Angebots- oder Nachfragewettbewerb fehlt. Das ist dann zu bejahen, wenn die in Rede stehenden (Waren oder) Dienstleistungen vollständig ungleichartig sind (BGH Urteil vom 26.01.2017 - I ZR 217/15 - Wettbewerbsbezug, Rn 16 ff, zit. nach juris). So liegt der Fall hier nicht, das notwendige Konkurrenzmoment ist gegeben. Die angebotenen Dienstleistungen der Antragstellerin einerseits und der Antragsgegnerin andererseits sind nicht vollständig ungleichartig. Denn die angebotene Dienstleistung der Antragstellerin, die darin besteht, Kundenansprüche auf Entschädigung nach der VO (EG) Nr. 261/2004 (FluggastrechteVO) unmittelbar entgegen zu nehmen und zu bearbeiten, ist ersetzbar durch diejenige der Antragsgegnerin. Für die Definition des Angebots der Regulierung der Fluggastrechte als Dienstleistung auf Seiten der Antragstellerin ist es nach den im UWG maßgeblichen Begrifflichkeiten unerheblich, ob sie freiwillig oder auf gesetzlicher Grundlage erbracht werden. Auch Nebenleistungen zu Warenlieferungen oder anderen Dienstleistungen stellen Dienstleistungen im Sinne von § 4 Nr. 1 UWG dar (Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 38. Aufl., § 4 Rn 1.25, § 6 Rn 94).

Wollte man dem nicht folgen, weil unter Dienstleistungen solche Leistungen zu verstehen sind, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden (vgl. auch Art. 57 S. 1 AEUV), die Antragstellerin aber die in Rede stehenden Regulierungsleistungen unentgeltlich zu erbringen hat, so ist jedenfalls unter einem anderen Gesichtspunkt vom Vorliegen eines Wettbewerbsverhältnisses auszugehen.

Für die Annahme eines solchen Verhältnisses reicht es auch aus, wenn der Verletzer sich durch seine Verletzungshandlung im konkreten Fall in irgendeiner Weise in Wettbewerb zu dem Betroffenen stellt und dass zwischen den Vorteilen, welche die eine Partei durch eine Maßnahme für ihr Unternehmen oder das eines Dritten zu erreichen sucht, und den Nachteilen, die die andere Partei dadurch erleidet, eine Wechselwirkung in dem Sinne besteht, dass der eigene Wettbewerb gefördert und der fremde Wettbewerb beeinträchtigt werden kann (BGH, Urteil vom 10.04.2014 - I ZR 43/13 - nickelfrei Rn 32; Urteil vom 19.03.2015 - I ZR 94/13 - Hotelbewertungsportal Rn 19; jew. zit. nach juris).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, auch wenn die Parteien Dienstleistungen mit unterschiedlicher Zielrichtung anbieten, nämlich die Antragstellerin als Fluggesellschaft den Transport von Passagieren, die Antragsgegnerin die Durchsetzung von Regressansprüchen von Passagieren, deren Flug verspätet oder annulliert worden ist. Denn die Parteien werben um denselben Kundenkreis, nämlich Fluggäste, und stehen, soweit die Antragsgegnerin ihr Angebot an Fluggäste der Antragstellerin richtet, gerade in Wettbewerb zueinander, als die Antragstellerin auch Regressforderungen bearbeitet, die unmittelbar von ihren Kunden/Fluggästen bei ihr geltend gemacht werden. Werden, wie die Antragstellerin glaubhaft gemacht hat, in solchen Fällen berechtigte Forderungen wegen Flugunregelmäßigkeiten unverzüglich innerhalb von 10 bis 14 Tagen ausgezahlt, kann dies von Seiten der - dann zufrieden gestellten - Passagiere nicht nur zu neuerlichen Buchungen bei der Antragstellerin, also neuerlichen Kundenbeziehungen führen, sondern auch zu einer geringeren Inanspruchnahme des Angebots der Antragsgegnerin, die - gerichtsbekannt - im Erfolgsfalle einen Teil der von den Fluggesellschaften ausgezahlten Entschädigungsleistungen als Provision einbehält.

cc) Die Antragstellerin hat weiter glaubhaft gemacht, dass die Antragsgegnerin sie durch die inkriminierte Handlung in unlauterer Weise verunglimpft, § 3 Abs. 1, § 4 Nr. 1 UWG.

Mit der Darstellung eines Flugzeugs, dessen äußeres Erscheinungsbild in Farbauswahl und Schriftzug dem Design der Corporate Identity der Antragstellerin nachempfunden ist unter Verwendung eines erfundenen Namens, der - der Firma der Antragstellerin lautmalerisch angelehnt - die englische Bezeichnung für „Lügner“ enthält, suggeriert die von der Antragsgegnerin aufgestellte Aussage, dass die Antragstellerin im Geschäftsverkehr nicht die Wahrheit sagt und stellt ihre Seriosität in Zweifel. Diese Äußerung ist - bei der gebotenen, nach Maßgabe des Verständnisses der angesprochenen Verkehrskreise vorzunehmenden Bewertung im Gesamtzusammenhang von Form und Inhalt (BGH, Urteil vom 01.03.2018 - I ZR 264/16 - Verkürzter Versorgungsweg II, Rn 29; zit. nach juris) - jedenfalls als Meinungskundgabe zu werten, auch wenn grundsätzlich die Feststellung, ob jemand die Wahrheit sagt oder lügt, der objektiven Klärung zugänglich ist. Fehlt es an jeglichem sachlichen Anknüpfungspunkt für die Behauptung, ein anderer sage die Unwahrheit, stellt die Bezeichnung als „Lügner“ ein pauschales Werturteil dar, dem es an inhaltlicher Substanz fehlt und bei dem der tatsächliche Gehalt gegenüber der Wertung zurücktritt (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 28.07.2004 -1 BvR 2566/95 - „gerlach Report“ Rn 30; BGH, Urteil vom 19.05.2011 - I ZR 147/09 - Coaching Newsletter Rn 20, zit. nach juris). Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt, der neben der inkriminierten Werbung auf dem Werbeträger befindliche Zusatz „Flight delayed?“ genügt nicht, um den von der Antragstellerin erhobenen Vorwurf einer objektiven Klärung unterziehen zu können.

Die inkriminierte Darstellung stellt ein herabsetzendes, dh die Wertschätzung sachlich ungerechtfertigt verringerndes, bzw. verächtlich machendes (verunglimpfendes) Werturteil dar, das entgegen der Ansicht des Landgerichts von der Antragstellerin nicht hinzunehmen ist (vgl. für die Definition: Köhler/Bornkamm, a.a.O., § 6 Rn 166).

Die von der Antragstellerin angegriffene Äußerung ist auch durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art 5 Abs. 1 GG) nicht legitimiert, das allerdings grundsätzlich Äußerungen zu kommerziellen Zwecken, wie die vorliegende Werbung, schützt (BVerfGE 102, 347 - Benetton Werbung I; BGH, Urteil vom 19.05.2011 - Coaching Newsletter Rn 27; zit. nach juris). Ob eine Äußerung im Lichte der Grundrechte als zulässig anzusehen ist, ist auf Grundlage einer Würdigung aller Umstände des Gesamtzusammenhangs unter Einbeziehung der wechselseitigen Interessen der Parteien bzw. denen der Allgemeinheit und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu beurteilen. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass sich Gewerbetreibende wertende Kritik an ihrer gewerblichen Leistung in der Regel auch dann gefallen lassen müssen, wenn sie scharf formuliert wird (BGH, Urteil vom 16.12.2014 - VI ZR 39/14 - Hochleistungsmagneten - Rn 21 mwN; zit. nach juris), dass Werbung auch von Humor bzw. Ironie lebt und begleitet wird und dass der Durchschnittsverbraucher zunehmend an pointierte Werbeaussagen gewöhnt ist und sie als Ausdruck lebhaften Wettbewerbs empfindet (BGH, Urteil vom 01.10.2009 - I ZR 134/07 - Gib mal Zeitung Rn 20; Urteil vom 12.07.2001 - I ZR 89/94 - Preisgegenüberstellung im Schaufenster Rn 39; zit. nach juris).

Gleichwohl ist vorliegend bei Einbeziehung aller Umstände und der Abwägung der gegenläufigen Interessen die Grenze zulässiger Kritik überschritten. Maßgebend dafür ist, dass die inkriminierte Darstellung als Lügner mangels jeglicher tatsächlicher Informationen keinen erkennbaren sachlichen Kontext aufweist und keine Auseinandersetzung in der Sache enthält. Es ist deshalb nicht erkennbar, ob und ggf. welches Aufklärungsinteresse der Allgemeinheit an dem Werturteil bestehen könnte und ob die Äußerung der Antragsgegnerin möglicherweise durch nachvollziehbare Motive veranlasst ist. Hinzu kommt, dass das inkriminierte Werturteil nicht etwa nur einem überschaubaren Kreis eröffnet wird, sondern einer breiten, nicht eingrenzbaren Öffentlichkeit, die der Werbung der Antragsgegnerin auf großflächigen Trägern bei Nutzung der Infrastruktur des Flughafens und des angrenzenden Bahnhofs ohne Weiteres gewahr wird. In die Abwägung ist ferner einzustellen, dass die Antragsgegnerin die Herabsetzung des angegriffenen Mitbewerbers ausschließlich zur Werbung für eigene Zwecke verwendet, ohne dabei - etwa durch einen Vergleich - eigene Vorteile herauszustellen. Unter diesen Gegebenheiten kann dem Interesse der Antragsgegnerin an der Äußerung ihrer Meinung kein Vorrang zukommen gegenüber dem Interesse der Antragstellerin auf Schutz ihres sozialen Geltungsanspruches als Wirtschaftsunternehmen.

b) Wollte man einen wettbewerblichen Anspruch der Antragstellerin verneinen, wovon der Senat nicht ausgeht, wäre das Unterlassungsbegehren der Antragstellerin jedenfalls begründet nach § 823 Abs. 1 BGB iVm § 1004 BGB wegen eines unzulässigen Eingriffes in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb.

Auch insoweit fehlte es nicht an einem Verfügungsgrund. Nach der im Beschwerdeverfahren vorgelegten Eidesstattlichen Versicherung des Director of Legal T… Mc… vom 10.04.20 hat die Antragstellerin erstmals am 24.03.20 Kenntnis von der inkriminierten Werbung der Antragsgegnerin erhalten. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ist am 31.03.2020 bei dem Landgericht Potsdam eingegangen.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:





LG Berlin: Deutsches Wettbewerbsrecht Recht und deutsche Zuständigkeit für ausländische Internetapotheke die sich auch an Kunden in Deutschland richtet

LG Berlin
Urteil vom 04.11.2019
102 O 58/19


Das LG Berlin hat entschieden, dass deutsches Wettbewerbsrecht Recht für eine ausländische Internetapotheke gilt, die sich auch an Kunden in Deutschland richtet. Insofern sind auch die deutschen Gericht international zuständig.

Aus den Entscheidungsgründen:

"A. Die internationale und die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Berlin waren nach Maßgabe der einschlägigen Vorschriften gegeben.

1. Die internationale Zuständigkeit ergab sich aus der im Verhältnis der EU-Mitgliedsstaaten Deutschland und Niederlande maßgeblichen Vorschrift des Art. 7 Ziff. 2 der VO (EU) 1215/2012.

Danach kann eine Person, die ihren Wohnsitz in einem Vertragsstaat hat, vor einem Gericht in einem anderen Vertragsstaat verklagt werden, wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichsteht, vor dem Gericht des Ortes, in dem das schädigende Ereignis eingetreten ist, den Gegenstand des Verfahrens bildet. Die Vorschrift erstreckt sich nach ihrem weit gefassten Wortlaut auf vielfältige Arten von Deliktstypen und Schadensersatzansprüchen. In dem Gerichtsstand des Art. 7 Ziff. 2 VO (EU) 1215/2012 können alle Klagen angebracht werden, mit denen eine Schadenshaftung des Beklagten geltend gemacht wird und die nicht an einen Vertrag. Hierunter fallen auch Ansprüche aus unlauterem Wettbewerb (vgl. BGH, NJW 1988, 1466, 1467; BGH, GRUR 2005, 431, 432; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 7. Aufl., Rz. 66 zu Art. 5 EuGVÜ).

Der Ort des schädigenden Ereignisses kann sowohl der Handlungs- als auch der Erfolgsort sein, so dass dem Kläger nach seiner Wahl sowohl vor dem Gericht des Ortes, an dem der Schaden eingetreten ist als auch vor dem Gericht des Ortes des dem Schaden zu Grunde liegenden ursächlichen Geschehens verklagen. Erfolgsort ist dabei der Ort, an dem die Verletzung des geschützten Rechtsguts eintritt. Dieser ist vorliegend im Inland belegen, da hier sowohl die Bestellung von Medikamenten durch den Verbraucher erfolgt als auch deren bestimmungsgemäße Auslieferung erfolgt. Zudem ist der Internetauftritt der Beklagten

2. Die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Berlin ergibt sich aus § 14 Abs. 2 Satz 2 UWG. Die beanstandete Werbung ist nach dem unbestritten gebliebenen Vorbringen des Klägers konnte damit auch im Bezirk des hiesigen Gerichts bestimmungsgemäß eingesehen werden. Damit ist auch Berlin Begehungsort im Sinne des § 14 Abs. 2 Satz 2 UWG.

Auf diese Norm kann sich vorliegend auch der Kläger berufen, obwohl er seine Klagebefugnis nicht unmittelbar als durch die Wettbewerbshandlung Verletzter, sondern vielmehr aus § 8 Abs. 3 Nr. 3 UWG herleitet. Die Beklagte unterhält nämlich „im Inland“, das heißt in der Bundesrepublik Deutschland, soweit ersichtlich, keine gewerbliche Niederlassung.

B. Auf den Rechtsfall fand auch das materielle Wettbewerbsrecht der Bundesrepublik Deutschland Anwendung.

Die Frage des anwendbaren Rechts beantwortet sich nach den europarechtlichen Vorgaben der Verordnung über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anwendbaren Rechts („ROM-II“). Nach Art. 6 Abs. 1 dieser Verordnung ist auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus unlauterem Wettbewerbsverhalten das Recht des Staates anzuwenden, in dessen Gebiet die Wettbewerbsbeziehungen oder die kollektiven Interessen der Verbraucher beeinträchtigt worden sind. Dies ist stets anzunehmen, wenn sich die Maßnahme an eine Vielzahl von Verbrauchern richtet, etwa bei einer Werbung im Internet. Letztlich gilt damit, wie auch im Rahmen des Art. 40 EGBGB, bei Wettbewerbsverstößen die allgemeine Tatortregel, wobei die obergerichtliche Rechtsprechung als Begehungsort durchgängig den Marktort angesehen hat, an dem die wettbewerblichen Interessen der Konkurrenten aufeinandertreffen (vgl. etwa BGH, NJW 1998, 1227 und 2531). Insoweit kann auf die obigen Ausführungen zur bestimmungsgemäßen Auswirkung der von der Beklagten unterhaltenen Internetseiten verwiesen werden."


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

VG Bremen: Anspruch aus Art. 16 DSGVO auf Berichtigung eines fehlerhaften Eintrags im Melderegister

VG Bremen
Beschluss vom 21.04.2020
2 V 164/20


Das VG Bremen hat entschieden, dass Anspruch aus Art. 16 DSGVO auf Berichtigung eines fehlerhaften Eintrags im Melderegister besteht.


OLG München: Anspruch auf Wiederveröffentlichung einer positiven Bewertung in Arztbewertungsportal wenn diese zu Unrecht durch Algorithmus als Fake-Bewertung eingestuft und gelöscht wurde

OLG München
Urteil vom 27.02.2020
29 U 2584/19


Das OLG München hat entschieden, dass ein Anspruch auf Wiederveröffentlichung einer positiven Bewertung in einem Arztbewertungsportal besteht, wenn diese zu Unrecht durch Algorithmus als Fake-Bewertung eingestuft und gelöscht wurde. Im vorliegend Fall hat das Gericht aber einen Anspruch verneint.

Aus den Entscheidungsgründen:

"Die Berufung ist zulässig, aber nicht begründet. Der Kläger ist durch die Löschung der positiven Bewertungen nicht in seinen Rechten verletzt.

1. Dem Kläger stehen gegen die Beklagte keine vertraglichen Schadensersatzansprüche zu. Die Beklagte hat mit der Löschung der positiven Bewertungen unabhängig davon, ob diese zu Recht oder zu Unrecht erfolgte, keine vertraglichen Schutzpflichten verletzt.

Zwar erwachsen aus dem vertraglichen Schuldverhältnis gemäß § 241 Abs. 2 BGB auch Rücksichtnahme- und Schutzpflichten, insbesondere die Pflicht, sich bei Abwicklung des Schuldverhältnisses so zu verhalten, dass Körper, Leben, Eigentum und sonstige Rechtsgüter des anderen Teils nicht verletzt werden. Die hier streitgegenständliche Löschung der positiven Bewertungen erfolgte aber nicht in Abwicklung des Schuldverhältnisses, sondern steht mit diesem in keinerlei Zusammenhang. Hinsichtlich der Löschung eingestellter Bewertungen ergeben sich aus dem vertraglichen Schuldverhältnis keine Besonderheiten.

Ausweislich der für den Inhalt der vertraglichen Hauptleistungspflichten vom Kläger vorgelegten Anlage K 3 umfasste das von ihm gebuchte Premium-Paket Gold die Option, auf jameda.de ein persönliches Portraitbild, individuelle Inhalte und Bilder sowie eine eigene PraxisHomepage zu hinterlegen. Darüber hinaus besteht für Premium-Paket Gold Kunden die Möglichkeit, Artikel im Experten Ratgeber zu publizieren und für Fachgebiete auffälliger dargestellt zu werden. Zudem umfasst das Angebot, mit dem Profil bei Google auf Seite 1 gefunden zu werden und den Profil-Service (Erstellung & Pflege) zu genießen sowie die OnlineTerminvergabe zu nutzen. Die streitgegenständliche Löschung der Bewertungen erfolgte nicht bei oder im Zusammenhang mit der Erbringung dieser Hauptleistungspflichten, sondern völlig losgelöst und unabhängig von diesen, sodass die Löschung der Bewertungen keine Vertragspflichtverletzung begründen kann.

2. Die Löschung der positiven Bewertungen verletzt den Kläger auch nicht in seinen Rechten am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb gemäß § 823 Abs. 1 BGB.

Beim Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbetrieb handelt es sich um einen offenen Auffangtatbestand, der auch die Angehörigen freier Berufe, die eigentlich kein Gewerbe betreiben, wie Zahnärzte, schützt (vgl. Palandt-Sprau, BGB, 79. Aufl., § 823 Rn. 134 m.w.N.).

Schutzgegenstand des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbetrieb ist alles, was in seiner Gesamtheit den Betrieb zur Entfaltung und Betätigung in der Wirtschaft befähigt und damit den wirtschaftlichen Wert des Betriebs als bestehender Einheit ausmacht, also nicht nur den Bestand des Betriebs, sondern auch einzelne Erscheinungsformen, Geschäftsideen und Tätigkeitskreise, Kundenstamm und Geschäftsbeziehungen, Organisationsstruktur, Know-How und good will (vgl. Palandt-Sprau, a.a.O. § 823 Rn. 134 m.w.N.). Entgegen der Auffassung der Beklagten sind auch von Dritten auf Bewertungsportalen eingestellte Meinungen vom Schutz des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbetrieb umfasst, auch wenn sie nicht vom Bewerteten initiiert worden sind. Schutzgegenstand des Rechts ist auch der „gute Ruf“ eines Unternehmens, das unternehmerische Ansehen (vgl. BGH, Urteil vom 14.01.2020, Az. VI ZR 496/18 juris, dort Rn. 41), und dieses wird maßgeblich durch Bewertungen auf Bewertungsportalen mitbestimmt, so dass in einer Löschung von positiven Bewertungen auch ein Eingriff in den Schutzbereich liegen kann.

In der Löschung positiver Bewertungen auf einem Bewertungsportal kann auch ein betriebsbezogener Eingriff liegen, denn er führt zur Beeinträchtigung des Betriebs als solchem. Durch die Löschung können wesentliche Geschäftsaktivitäten, wie die Kundenakquise, unmittelbar beeinträchtigt sein (vgl. PalandtSprau, a.a.O. § 823 Rn. 135 m.w.N).

Die Löschung der streitgegenständlichen Bewertungen stellt vorliegend aber keinen rechtswidrigen Eingriff in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbetrieb des Klägers dar. Inhalt und Grenzen des Schutzes einschließlich der Rechtswidrigkeit des Eingriffs ergeben sich, entsprechend der Natur als offener Tatbestand, erst aus einer Interessen- und Güterabwägung mit den im Einzelfall konkret kollidierenden Interessensphären Dritter gemäß den zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht entwickelten Grundsätzen (PalandtSprau, a.a.O. § 823 Rn. 133 m.w.N; vgl. BGH, Urteil vom 14.01.2020, Az. VI ZR 496/18 juris, dort Rn. 43).

Das von der Beklagten betriebene Ärztebewertungsportal erfüllt eine von der Rechtsordnung gebilligte und gesellschaftlich erwünschte Funktion und der Portalbetrieb ist vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG erfasst (BGH GRUR 2016, 855, Rn. 40 - jameda.de II; vgl. auch BGH, Urteil vom 14.01.2020, Az. VI ZR 496/18 juris, dort Rn. 46). Der Wert des Bewertungsportals der Beklagten hängt maßgeblich davon ab, dass es ihr entsprechend den von ihr selbst formulierten Ansprüchen (vgl. Anlage K 1) gelingt, manipulierte Bewertungen, also käuflich erworbene oder in sonstiger Weise von dem bewerteten Arzt beeinflusste Bewertungen, von ihrem Portal zu verbannen, sei es dadurch, dass sie gar nicht erst eingestellt werden, sei es dadurch, dass sie, wenn entsprechende Verdachtsmomente auftauchen, gelöscht werden.

Entgegen der Auffassung des Klägers ist die Beklagte nicht verpflichtet, offenzulegen, wie der von ihr eingesetzte Algorithmus zum Aufspüren verdächtiger, also nicht „authentischer“, sondern vom Arzt beeinflusster Bewertungen funktioniert. Hierbei handelt es sich um ein nicht zu offenbarendes Geschäftsgeheimnis der Beklagten, denn wenn dem Verkehr dies bekannt würde, würden seitens der Ärzte bzw. der seitens von diesen beauftragten Agenturen Umgehungsmöglichkeiten entwickelt (vgl. Büscher, Soziale Medien, Bewertungsplattformen & Co, GRUR 2017, 433, 441 m.w.N.). Die Beklagte könnte dann dem von ihr selbst formulierten Anspruch, für „echte Bewertungen“ zu sorgen, nicht mehr gerecht werden, die Plattform würde für die Nutzer an Wert verlieren und die Beklagte würde somit durch die Offenlegung der Prüfungskriterien ihr eigenes Geschäftsmodell gefährden.

Eine über die hier erfolgten allgemeinen Ausführungen zur Prüfung der Echtheit von Bewertungen hinausgehende (sekundäre) Darlegungslast hinsichtlich der Löschung von positiven Bewertungen würde die Beklagte erst dann treffen, wenn der Kläger konkrete Anhaltspunkte dafür vorgetragen und ggf. unter Beweis gestellt hätte, dass die Löschung nicht aufgrund eines begründeten Verdachts hinsichtlich der Validität der Bewertungen erfolgt ist, sondern entweder willkürlich oder aus sachfremden Gründen. Denn bei einer willkürlichen oder auf sachfremden Erwägungen erfolgten Löschung der Bewertungen würden die Interessen des Klägers, durch die Löschung nicht in seiner Kundenakquise behindert zu werden, die dann nicht schützenswerten Interessen der Beklagten an der Löschung überwiegen.

Ein Anhaltspunkt für die Löschung der Bewertungen aus sachfremden Motiven könnte sich vorliegend aus dem nahen zeitlichen Zusammenhang der Kündigung des Premium-Pakets Gold am 10.01.2018 seitens des Klägers und der Löschung der Bewertungen in der Zeit vom 11.18.01.2018 ergeben. Insoweit trifft die Beklagte eine sekundäre Darlegungslast. Dieser ist die Beklagte jedoch nachgekommen, denn sie hat im Einzelnen dargestellt und unter Nennung einer der für das Qualitätsmanagement zuständigen Mitarbeiterin Beweis dafür angeboten, dass der Prüfalgorithmus der Beklagten die streitgegenständlichen Bewertungen schon vor Ausspruch der Kündigung „gelb“, also dahingehend, dass ein Verdacht auf Manipulationen bei der Bewertung erfolgt ist, eingestuft hat, und die Beklagte hinsichtlich der Bewertungen schon am 28.12.2017 dem Qualitätsmanagementteam den Auftrag zur Überprüfung der Bewertungen erteilt hat. Der Kläger hat diesen Vortrag schon nicht substantiiert bestritten, geschweige denn vorgetragen und unter Beweis gestellt, dass die Bewertungen nicht schon deutlich vor Ausspruch seiner Kündigung als „verdächtig“ eingestuft worden seien und eine entsprechende Überprüfung angeordnet worden sei. Dies wäre ihm, nachdem die Beklagte zu den Umständen der Löschung vorgetragen und die zuständige Mitarbeiterin benannt hatte, ohne weiteres möglich gewesen. Hiervon hat er jedoch abgesehen.

Tatsächlich bestehen vorliegend unter Berücksichtigung des Vortrags der Beklagten, dass die Bewertungen schon vor der Kündigung als „verdächtig“ eingestuft worden sind und das Verifikationsverfahren bereits eingeleitet worden ist, keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die streitgegenständlichen Bewertungen willkürlich oder aus sachfremden Gründen gelöscht wurden. Es ist schon nicht ersichtlich und vom Kläger auch nicht dargelegt, welches Interesse die Beklagte daran gehabt haben könnte, die bestehenden Bewertungen des Klägers, bei dem es sich um einen ihrer zahlenden „Premium-Paket Gold“-Kunden handelte, ohne dass sich ein begründeter Verdacht der Manipulation ergeben hätte, einer - letztlich nicht erfolgreichen - Verifikationsprüfung zu unterziehen.

Das Interesse der Beklagten und ihrer Nutzer daran, die streitgegenständlichen „verdächtigen“ Bewertungen zu löschen, um das sich auf der Plattform ergebende Meinungsbild nicht zu verfälschen, überwiegt das Interesse des Klägers daran, nicht durch die Löschung nicht ausschließbar doch valider Bewertungen in seiner Kundenakquise beeinträchtigt zu werden.

3. Der geltend gemachte Anspruch auf Wiederveröffentlichung der gelöschten Bewertungen ergibt sich auch nicht aus § 9, § 3, § 5 Abs. 1 UWG.

a) Der Anspruch besteht schon nicht, weil die Parteien keine Mitbewerber sind. Die Eigenschaft als Mitbewerber erfordert ein konkretes Wettbewerbsverhältnis i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 3 UWG. Das ist gegeben, wenn beide Parteien gleichartige Waren oder Dienstleistungen innerhalb desselben Endverbraucherkreises abzusetzen versuchen und daher das Wettbewerbsverhalten des einen den anderen beeinträchtigen, das heißt im Absatz behindern oder stören kann (BGHZ 168, 314 = NJW 2006, 3490 Rn. 14 - Kontaktanzeigen; BGH, GRUR 2012, 193 = WRP 2012, 201 Rn. 17 - Sportwetten im Internet II); auch wenn die Parteien keine gleichartigen Waren oder Dienstleistungen abzusetzen versuchen, besteht ein konkretes Wettbewerbsverhältnis, wenn zwischen den Vorteilen, die die eine Partei durch eine Maßnahme für ihr Unternehmen oder das Dritter zu erreichen sucht, und den Nachteilen, die die andere Partei dadurch erleidet, eine Wechselwirkung in dem Sinne besteht, dass der eigene Wettbewerb gefördert und der fremde Wettbewerb beeinträchtigt werden kann und die von den Parteien angebotenen Waren oder Dienstleistungen einen wettbewerblichen Bezug zueinander aufweisen (BGH NJW 2019, 3065 Rn. 232; BGH GRUR 2017, 918 = WRP 2017, 1085 Rn. 16 u. 19 m.w.N. - Wettbewerbsbezug; BGH NJW 2019, 763 = GRUR 2019, 189 = WRP 2019, 317 Rn. 58 - Crailsheimer Stadtblatt II). Nicht ausreichend ist es, wenn die Maßnahme den anderen nur irgendwie in seinem Marktstreben betrifft. Eine bloße Beeinträchtigung reicht zur Begründung eines Wettbewerbsverhältnisses nicht aus, wenn es an jeglichem Konkurrenzmoment im Angebots- oder Nachfragewettbewerb fehlt (BGH GRUR 2017, 918 Rn. 16 - Wettbewerbsbezug).

aa) Die Parteien versuchen nicht, gleichartige Waren oder Dienstleistungen innerhalb desselben Endverbraucherkreises abzusetzen. Der Kläger bietet zahnärztliche Leistungen an. Die Beklagte betreibt ein Ärztebewertungsportal und bietet Ärzten auf diesem Präsentationsmöglichkeiten und die Nutzung einer Online-Terminvergabe über das Portal an. Es handelt sich nicht um gleichartige Dienstleistungen.

bb) Ein konkretes Wettbewerbsverhältnis ergibt sich auch nicht aus der angegriffenen Maßnahme, der Löschung der streitgegenständlichen Bewertungen. Zwar wird der Kläger durch die Löschung in seinem Bestreben, Patienten zu akquirieren, beeinträchtigt. Da es jedoch an jeglichem Konkurrenzmoment zwischen den Parteien im Angebots- und Nachfragewettbewerb fehlt, ist diese Beeinträchtigung in dem Marktstreben des Klägers zur Begründung eines konkreten Wettbewerbsverhältnisses nicht ausreichend.

cc) Die Mitbewerbereigenschaft ergibt sich vorliegend auch nicht unter dem Aspekt der Förderung fremden Wettbewerbs. Zwar werden andere gleichartige Leistungen wie der Kläger anbietende Zahnärzte durch die Löschung der streitgegenständlichen Bewertungen mittelbar begünstigt. Es handelt sich jedoch nur um eine gleichsam reflexartige Begünstigung, die nur dadurch eintritt, dass die Beklagte als Plattformbetreiberin, um ihr Geschäftsmodell zu erhalten, dafür sorgen muss, dass manipulierte Bewertungen möglichst erkannt und von dem Portal gelöscht werden. Die mit der aus diesen Gründen erfolgenden Löschung von Bewertungen einhergehende Begünstigung der Konkurrenten desjenigen, dessen Bewertungen gelöscht wurden, reicht zur Begründung eines Wettbewerbsverhältnisses unter dem Gesichtspunkt der Förderung fremden Wettbewerbs nicht aus (vgl. Büscher, a.a.O., GRUR 2017, 433, 436)."


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BGH: A-z-Garantie von Amazon für Marketplace-Händler gegenüber Käufer nicht bindend - Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises lebt wieder auf

BGH
Urteil vom 01.02.2020
VIII ZR 18/19
BGB § 133, § 157, § 433 Abs. 2


Der BGH hat entschieden, dass die A-z-Garantie von Amazon für Marketplace-Händler gegenüber dem Käufer nicht bindend ist und der Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises nach Rückbuchung des Kaufpreises wieder auflebt.

Leitsätze des BGH:

a) Der Erklärungsgehalt der bei Abschluss eines Kaufvertrags über die Plattform Amazon Marketplace abgegebenen Willenserklärungen richtet sich auch nach den den Kauf von Marketplace-Artikel betreffenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Amazon, soweit beide Vertragsparteien deren Geltung bei Vertragsschluss zugestimmt haben (Fortführung des Senatsurteils vom 22. November 2017 - VIII ZR 83/16, BGHZ 217, 33 Rn. 31 mwN).

b) Die geschuldete Kaufpreiszahlung ist mit der von Amazon veranlassten Gutschrift des Kaufpreises auf dem Amazon-Konto des Verkäufers bewirkt, so dass die Kaufpreisforderung erlischt. Mit der einverständlichen Vertragsabwicklung über Amazon Marketplace vereinbaren die Kaufvertragsparteien jedoch zugleich stillschweigend, dass die Kaufpreisforderung wiederbegründet wird, wenn das Amazon-Konto des Verkäufers aufgrund eines erfolgreichen A-bis-Z-Garantieantrags rückbelastet wird (Fortführung des Senatsurteils vom 22. November 2017 - VIII ZR 83/16, BGHZ 217, 33 Rn. 32 ff.).

BGH, Urteil vom 1. April 2020 - VIII ZR 18/19 - LG Leipzig - AG Leipzig

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ArbG Wesel: Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei Videoüberwachung zur Überprüfung der Einhaltung der Sicherheitsabstände im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie

Arbeitsgericht Wesel
Beschluss vom 24.04.2020
2 BVGa 4/20


Das Arbeitsgericht Wesel hat entschieden, dass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei Einführung der Videoüberwachung zur Überprüfung der Einhaltung der Sicherheitsabstände im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie besteht.

Die Pressemitteilung des Gerichts:

Arbeitsgericht Wesel: Unterlassungsverfügung gegen die Nutzung von Kameraaufnahmen zum Zwecke der Abstandsüberwachung

Der Betriebsrat eines Logistik- und Versandunternehmen mit Sitz in Rheinberg, das einem internationalen Konzern angehört, hat den Arbeitgeber im Wege eines einstweiligen Verfügungsverfahrens wegen der Verletzung seiner Mitbestimmungsrechte auf Unterlassung in Anspruch genommen.

Der Arbeitgeber kontrolliert anhand Bildaufnahmen der Arbeitnehmer die Einhaltung der im Rahmen der Corona Pandemie empfohlenen Sicherheitsabstände von mindestens 2 Metern im Betrieb. Dazu verwendet er die im Rahmen der betrieblichen Videoüberwachung erstellen Aufnahmen, die er auf im Ausland gelegenen Servern mittels einer Software anonymisiert.

Das Arbeitsgericht hat dem Unterlassungsanspruch des Betriebsrates teilweise stattgegeben. Hierbei ist das Arbeitsgericht davon ausgegangen, dass die Übermittlung der Daten ins Ausland der im Betrieb geltenden Betriebsvereinbarung zur Installation und Nutzung von Überwachungskameras widerspricht. Zudem hat das Gericht bei seiner Entscheidung darauf abgestellt, dass die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 und 7 BetrVG verletzt sind.

Der Beschluss ist nicht rechtskräftig.


BGH: Relevante Markenrechtsverletzung im Inland regelmäßig bereits dann wenn im Inland unter dem Zeichen Waren oder Dienstleistungen angeboten werden

BGH
Urteil vom 07.11.2019
I ZR 222/17
Club Hotel Robinson
MarkenG § 14 Abs. 2, Abs. 5, Abs. 6, § 19 Abs. 1


Der BGH hat entschieden, dass eine relevante Markenrechtsverlerzung im Inland regelmäßig bereits dann gegeben ist, wenn im Inland unter dem Zeichen Waren oder Dienstleistungen angeboten werden

Leitsatz des BGH:

Zur Beantwortung der Frage, ob eine relevante Verletzungshandlung im Inland vorliegt, bedarf es nicht in jedem Fall einer inländischen Kennzeichenbenutzung mit Auslandsberührung besonderer, im Wege der Gesamtabwägung der betroffenen Interessen und Umstände zu treffenden Feststellungen. Solche Feststellungen sind nur erforderlich, wenn das dem Inanspruchgenommenen vorgeworfene Verhalten seinen Schwerpunkt im Ausland hat. Fehlt es an einem solchen ausländischen Schwerpunkt, kann eine Verletzungshandlung im Inland nach den allgemeinen Grundsätzen auch in Fällen mit Auslandsberührung regelmäßig bereits dann gegeben sein, wenn im Inland unter dem Zeichen Waren oder Dienstleistungen angeboten werden (Fortführung von BGH, Urteil vom 19. Januar 1989 - I ZR 217/86, GRUR 1990, 361, 363 [juris Rn. 21] - Kronenthaler; Urteil vom 13. Oktober 2004 - I ZR 163/02, GRUR 2005, 431, 432 [juris Rn. 21] - HOTEL MARITIME; Urteil vom 8. März 2012 - l ZR 75/10, GRUR 2012, 621 Rn. 34 - OSCAR; Urteil vom 9. November 2017 - I ZR 134/16, GRUR 2018, 417
Rn. 37 - Resistograph).

BGH, Urteil vom 7. November 2019 - I ZR 222/17 - Kammergericht - LG Berlin

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LG Braunschweig: Schadensersatzklage des Legal-Tech-Anbieters Financialright Gmbh - myRight gegen VW wegen Verstoßes gegen Rechtsdienstleistungsgesetz abgewiesen

LG Braunschweig
Urteil vom 30.04.2020
11 O 3092/19

Das LG Braunschweig hat entschieden, dass eine Schadensersatzklage des Legal-Tech-Anbieters Financialright Gmbh - myRight gegen VW im Zusammenhang mit der Dieselaffäre wegen eines Verstoßes gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz abzuweisen ist.

Die Pressemitteilung des Gerichts:

Schadensersatzklage des Rechtsdienstleisters Financialright gegen VW

Die 11. Zivilkammer des Landgerichts Braunschweig hat mit Urteil vom 30.04.2020 (Az. 11 O 3092/19) die Schadensersatzklage der Financialright GmbH gegen die Volkswagen AG abgewiesen.

Gegenstand des Verfahrens war der fiduziarisch abgetretene Anspruch eines einzelnen Schweizer Autokäufers, der in der Schweiz ein Fahrzeug der Beklagten mit einem Dieselmotor vom Typ EA189 gekauft haben soll. Dieser Anspruch war zuvor aus Praktikabilitätsgrün-den aus der Ende Dezember 2017 eingegangenen „Sammelklage“, mit der die Klägerin Ansprüche von insgesamt 2004 Schweizern mit einem Streitwert von mehr als 800.000 Euro im Wege der objektiven Klagehäufung geltend gemacht hatte (Az. 11 O 3136/17), abgetrennt worden.

Nach den Ausführungen der Kammer sei die Klägerin – ihre Darlegungen zum Kauf des Fahrzeugs und zur Abtretung unterstellt - nicht aktivlegitimiert, weil die streitgegenständliche Abtretung wegen Verstoßes gegen § 3 RDG (Rechtsdienstleistungsgesetz) gemäß § 134 BGB nichtig sei. Mit dem streitgegenständlichen Geschäftsmodell überschreite die Klägerin die Befugnisse zur Erbringung von Inkassodienstleistungen. Als Folge führe dies zur Nichtigkeit der Abtretung.

Die Klägerin verfüge über eine deutsche Inkassoerlaubnis und sei entsprechend seit dem 23.10.2014 in Deutschland im Rechtsdienstleistungsregister eingetragen.

Die Erbringung von Rechtsdienstleistungen im ausländischen – Schweizer – Recht durch die Klägerin führe nach Ansicht der Kammer zu einem Wertungswiderspruch, der in der Annahme der Überschreitung der Dienstleistungsbefugnis münde. Im Rahmen des Registrierungsvorganges seien Kenntnisse im Schweizer Recht nicht abverlangt, geprüft und für genügend befunden worden. Dennoch erbringe die Klägerin im Rahmen ihres streitgegenständlichen Geschäftsmodells Rechtsdienstleistungen im Schweizer Recht. Jedenfalls auf die seitens der Klägerin primär (wenn nicht gar ernsthaft ausschließlich) verfolgten deliktischen Ansprüche sei schweizerisches Recht anzuwenden.

Die Kammer führt weiter aus, dass die vorgenannte Überschreitung der Inkassodienstleistungsbefugnis gem. § 134 BGB zur Nichtigkeit der Abtretung führe. Zwar habe nicht ohne weiteres bereits jede auch geringfügige Überschreitung der Inkassodienstleistungsbefugnis stets auch die Nichtigkeit der auf die Verletzung des Rechtsdienstleistungsgesetzes gerichteten Rechtsgeschäfte nach § 134 BGB zur Folge. So könne es Fälle geben, bei denen die Überschreitung der Inkassodienstleistungsbefugnis so geringfügig sei, dass noch nicht einmal ein Verstoß gegen § 3 RDG vorliege. Daneben könne es Fälle geben, bei denen ein solcher Verstoß zwar vorliege, aber aufgrund einer verfassungsgemäßen Auslegung und Anwendung des § 134 BGB jedenfalls eine Nichtigkeit der diesem Verstoß zugrundeliegenden Rechtsgeschäfte aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht angenommen werden könne. Selbst wenn eine eindeutige, nicht nur geringfügige Überschreitung der Inkassodienstleistungsbefugnis vorliege, sei eine Nichtigkeit gem. § 134 BGB – bei objektiver Betrachtung – schließlich nur in der Regel anzunehmen.

Die Kammer geht davon aus, dass der vorliegende Verstoß einen schwerwiegenden Verstoß im Sinne der Rechtsprechung darstelle, weil gegen das „Grundprinzip“ des RDG - „Befugnis besteht nur, soweit Kenntnisse verlangt, überprüft und für genügend befunden wurden“ – verstoßen worden sei.

Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Die Klägerin kann binnen eines Monats Berufung beim Oberlandesgericht Braunschweig einlegen.



Internet World Business-Beitrag von Rechtsanwalt Marcus Beckmann: Mitgehangen, Mitgefangen - Wer als Händler über eine Plattform verkauft ist für Rechtsverstöße des Plattformbetreibers mitverantw

In Ausgabe 6/20, S. 50-51 der Zeitschrift Internet World Business erschien ein Beitrag von Rechtsanwalt Marcus Beckmann mit dem Titel "Mitgehangen, Mitgefangen - Wer als Händler über eine Plattform verkauft ist für Rechtsverstöße des Plattformbetreibers mitverantwortlich."



BVerfG: Beschlüsse der EZB zum Staatsanleihekaufprogramm (Public Sector Purchase Programme – PSPP) kompetenzwidrig

BVerfG
Urteil vom 05. Mai 2020
2 BvR 859/15, 2 BvR 980/16, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 1651/15


Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Beschlüsse der EZB zum Staatsanleihekaufprogramm (Public Sector Purchase Programme – PSPP) kompetenzwidrig waren.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Beschlüsse der EZB zum Staatsanleihekaufprogramm kompetenzwidrig

Mit heute verkündetem Urteil hat der Zweite Senat mehreren Verfassungsbeschwerden gegen das Staatsanleihekaufprogramm (Public Sector Purchase Programme – PSPP) stattgegeben. Danach haben Bundesregierung und Deutscher Bundestag die Beschwerdeführer in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG verletzt, indem sie es unterlassen haben, dagegen vorzugehen, dass die Europäische Zentralbank (EZB) in den für die Einführung und Durchführung des PSPP erlassenen Beschlüssen weder geprüft noch dargelegt hat, dass die hierbei getroffenen Maßnahmen verhältnismäßig sind. Dem steht das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 11. Dezember 2018 nicht entgegen, da es im Hinblick auf die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit der zur Durchführung des PSPP erlassenen Beschlüsse schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar und damit ebenfalls ultra vires ergangen ist. Einen Verstoß gegen das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung konnte der Senat dagegen nicht feststellen. Aktuelle finanzielle Hilfsmaßnahmen der Europäischen Union oder der EZB im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Corona-Krise sind nicht Gegenstand der Entscheidung.

Sachverhalt:

Das PSPP ist Teil des Expanded Asset Purchase Programme (EAPP), eines Rahmenprogramms des Eurosystems zum Ankauf von Vermögenswerten. Ausweislich seiner Begründung zielt das EAPP auf eine Ausweitung der Geldmenge; hierdurch sollen Konsum und Investitionen gefördert und die Inflationsrate in der Eurozone auf knapp unter 2 % erhöht werden. Das PSPP wurde durch Beschluss der EZB vom 4. März 2015 aufgelegt, der in der Folgezeit durch fünf weitere Beschlüsse geändert wurde. Mit dem PSPP werden – unter im Einzelnen in den Beschlüssen der EZB festgelegten Rahmenbedingungen – Staatsanleihen und ähnliche marktfähige Schuldtitel erworben, die von der Zentralregierung eines Euro-Mitgliedstaats, „anerkannten Organen“, internationalen Organisationen und multilateralen Entwicklungsbanken mit Sitz im Euro-Währungsgebiet begeben werden. Das PSPP macht den weitaus größten Teil des EAPP aus. Zum 8. November 2019 hatte das Eurosystem im Rahmen des EAPP Wertpapiere im Gesamtwert von 2.557.800 Millionen Euro erworben, wovon 2.088.100 Millionen Euro auf das PSPP entfielen.

Die Beschwerdeführer machen mit ihren Verfassungsbeschwerden geltend, dass das PSPP gegen das Verbot monetärer Staatsfinanzierung (Art. 123 AEUV) und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 119, 127 ff. AEUV) verstoße. Mit Beschluss vom 18. Juli 2017 hat der Senat dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt; diese betrafen insbesondere das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung, das Mandat der EZB für die Währungspolitik und einen möglichen Übergriff in die Zuständigkeit und Haushaltshoheit der Mitgliedstaaten. Mit Urteil vom 11. Dezember 2018 hat der EuGH entschieden, dass das PSPP nicht über das Mandat der EZB hinausgehe und auch nicht gegen das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung verstoße. Vor diesem Hintergrund fand am 30./31 Juli 2019 eine mündliche Verhandlung in Karlsruhe statt (vgl. PM Nr. 43/2019 vom 25. Juni 2019).

Wesentliche Erwägungen des Senats:

I. Der Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank vom 4. März 2015 (EU) 2015/774 sowie die hierauf folgenden Beschlüsse (EU) 2015/2101, (EU) 2015/2464, (EU) 2016/702 und (EU) 2017/100 sind – trotz des anderslautenden Urteils des Gerichtshofs – mit Blick auf Art. 119 und Art. 127 ff. AEUV sowie Art. 17 ff. EZB-Satzung als Ultra-vires-Maßnahmen zu qualifizieren

1. Nach stetiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 126, 286 <302 ff.; 134, 366 <382 ff. Rn. 22 ff. >; 142, 123 <198 ff. Rn. 143 ff.>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2019 - 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14 -, Rn. 140 ff.) ist seine Pflicht, substantiierten Rügen eines Ultra-vires-Handelns der europäischen Organe und Einrichtungen nachzugehen, mit der vertraglich dem Gerichtshof übertragenen Aufgabe zu koordinieren, die Verträge auszulegen und anzuwenden und dabei die Einheit und Kohärenz des Unionsrechts zu wahren (vgl. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV, Art. 267 AEUV). Wenn jeder Mitgliedstaat ohne weiteres für sich in Anspruch nähme, durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von Rechtsakten der Union zu entscheiden, könnte der Anwendungsvorrang praktisch unterlaufen werden, und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts wäre gefährdet. Würden aber andererseits die Mitgliedstaaten vollständig auf die Ultra-vires-Kontrolle verzichten, so wäre die Disposition über die vertragliche Grundlage allein auf die Unionsorgane verlagert, und zwar auch dann, wenn deren Rechtsverständnis im Ergebnis auf eine Vertragsänderung oder Kompetenzausweitung hinausliefe. Dass in den - wie nach den institutionellen und prozeduralen Vorkehrungen des Unionsrechts zu erwarten - seltenen Grenzfällen möglicher Kompetenzüberschreitung seitens der Unionsorgane die verfassungsrechtliche und die unionsrechtliche Perspektive nicht vollständig harmonieren, ist dem Umstand geschuldet, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Herren der Verträge bleiben und die Schwelle zum Bundesstaat nicht überschritten wurde (vgl. BVerfGE 123, 267 <370 f.>). Die nach dieser Konstruktion im Grundsatz unvermeidlichen Spannungslagen sind im Einklang mit der europäischen Integrationsidee kooperativ auszugleichen und durch wechselseitige Rücksichtnahme zu entschärfen. Dies kennzeichnet die Zusammenarbeit in der Europäischen Union, die ein Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbund ist (BVerfGE 140, 317 <338 Rn. 44).

Die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts einschließlich der Bestimmung der dabei anzuwendenden Methode ist zuvörderst Aufgabe des Gerichtshofs, dem es gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV obliegt, bei der Auslegung und Anwendung der Verträge das Recht zu wahren. Die vom Gerichtshof entwickelten Methoden richterlicher Rechtskonkretisierung beruhen dabei auf den gemeinsamen (Verfassungs-)Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten (vgl. auch Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 340 Abs. 2 AEUV), wie sie sich nicht zuletzt in der Rechtsprechung ihrer Verfassungs- und Höchstgerichte sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte niedergeschlagen haben Die Handhabung dieser Methoden und Grundsätze kann - und muss - derjenigen durch innerstaatliche Gerichte nicht vollständig entsprechen, sie kann sich über diese aber auch nicht ohne weiteres hinwegsetzen. Die Eigentümlichkeiten des Unionsrechts bedingen allerdings nicht unbeträchtliche Abweichungen hinsichtlich der Bedeutung und Gewichtung der unterschiedlichen Interpretationsmittel. Eine offenkundige Außerachtlassung der im europäischen Rechtsraum überkommenen Auslegungsmethoden oder allgemeiner, den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamer Rechtsgrundsätze ist vom Mandat des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV nicht umfasst. Es ist vor diesem Hintergrund nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, bei Auslegungsfragen im Unionsrecht, die auch bei methodengerechter Bewältigung im üblichen rechtswissenschaftlichen Diskussionsrahmen zu verschiedenen Ergebnissen führen können, seine Auslegung an die Stelle derjenigen des Gerichtshofs zu setzen (BVerfGE 126, 286 <307>). Es muss die Entscheidung des Gerichtshofs vielmehr auch dann respektieren, wenn dieser zu einer Auffassung gelangt, der sich mit gewichtigen Argumenten entgegentreten ließe, solange sie sich auf anerkannte methodische Grundsätze zurückführen lässt und nicht objektiv willkürlich erscheint.

2. Die Auffassung des Gerichtshofs, der Beschluss des EZB-Rates über das PSPP und seine Änderungen seien noch kompetenzgemäß, verkennt in offensichtlicher Weise Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV) und ist wegen der vollständigen Ausklammerung der tatsächlichen Auswirkungen des Programms auf die Wirtschaftspolitik methodisch schlechterdings nicht mehr vertretbar.

Der Ansatz des Gerichtshofs, bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung die tatsächlichen Wirkungen außer Acht zu lassen und auf eine wertende Gesamtbetrachtung zu verzichten, verfehlt die Anforderungen an eine nachvollziehbare Überprüfung der Einhaltung des währungspolitischen Mandats des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und der EZB. Bei dieser Handhabung kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV) die ihm zukommende Korrektivfunktion zum Schutz mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten nicht erfüllen, was das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV) im Grunde leerlaufen lässt.

Das völlige Ausblenden aller wirtschaftspolitischen Auswirkungen widerspricht auch der methodischen Herangehensweise des Gerichtshofs in nahezu sämtlichen sonstigen Bereichen der Unionsrechtsordnung. Das wird der Schnittstellenfunktion des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und den Rückwirkungen, die dieses auf die methodische Kontrolle seiner Einhaltung haben muss, nicht gerecht.

3. Die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und die darauf gestützte Bestimmung des Mandats des ESZB überschreiten deshalb das ihm in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV erteilte Mandat. Die Selbstbeschränkung seiner gerichtlichen Prüfung darauf, ob ein „offensichtlicher“ Beurteilungsfehler der EZB vorliegt, ob eine Maßnahme „offensichtlich“ über das zur Erreichung des Ziels Erforderliche hinausgeht oder ob deren Nachteile „offensichtlich“ außer Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehen, vermag die auf die Währungspolitik begrenzte Zuständigkeit der EZB nicht einzuhegen. Sie gesteht ihr vielmehr selbstbestimmte, schleichende Kompetenzerweiterungen zu oder erklärt diese jedenfalls für gerichtlich nicht oder nur sehr eingeschränkt überprüfbar. Die Wahrung der kompetenziellen Grundlagen der Europäischen Union hat jedoch entscheidende Bedeutung für die Gewährleistung des demokratischen Prinzips und die rechtliche Verfasstheit der Europäischen Union.

II. Da der Senat somit nicht an die Entscheidung des Gerichtshofs gebunden ist, hat er eigenständig zu beurteilen, ob das Eurosystem mit den Beschlüssen zur Errichtung und Durchführung des PSPP noch innerhalb der ihm primärrechtlich eingeräumten Kompetenzen gehandelt hat. Das ist mangels hinreichender Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit nicht der Fall.

Ein Programm zum Ankauf von Staatsanleihen wie das PSPP, das erhebliche wirtschaftspolitische Auswirkungen hat, setzt insbesondere voraus, dass das währungspolitische Ziel und die wirtschaftspolitischen Auswirkungen jeweils benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Die unbedingte Verfolgung des mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziels, eine Inflationsrate von unter, aber nahe 2 % zu erreichen, unter Ausblendung der mit dem Programm verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen missachtet daher offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Die erforderliche Abwägung des währungspolitischen Ziels mit den mit dem eingesetzten Mittel verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen ergibt sich nicht aus den verfahrensgegenständlichen Beschlüssen. Sie verstoßen deshalb gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV und sind von der währungspolitischen Kompetenz der EZB nicht gedeckt.

Die Beschlüsse beschränken sich auf die Feststellung, dass das angestrebte Inflationsziel nicht erreicht sei und weniger belastende Mittel nicht zur Verfügung stünden. Sie enthalten keine Prognose zu den wirtschaftspolitischen Auswirkungen des Programms sowie dazu, ob sie in einem angemessenen Verhältnis zu den erstrebten währungspolitischen Vorteilen stehen. Es ist nicht ersichtlich, dass der EZB-Rat die im PSPP angelegten und mit ihm unmittelbar verbundenen Folgen erfasst und abgewogen hätte, die dieses aufgrund seines Volumens von über zwei Billionen Euro und einer Laufzeit von mittlerweile mehr als drei Jahren zwangsläufig verursacht. Die negativen Auswirkungen des PSPP nehmen mit wachsendem Umfang und fortschreitender Dauer zu, sodass sich mit der Dauer auch die Anforderungen an eine solche Abwägung erhöhen.

Das PSPP verbessert die Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten, weil sich diese zu deutlich günstigeren Konditionen Kredite am Kapitalmarkt verschaffen können; es wirkt sich daher erheblich auf die fiskalpolitischen Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten aus. Es kann insbesondere dieselbe Wirkung haben wie Finanzhilfen nach Art. 12 ff. des ESM-Vertrags. Umfang und Dauer des PSPP können dazu führen, dass selbst primärrechtskonforme Wirkungen unverhältnismäßig werden. Das PSPP wirkt sich auch auf den Bankensektor aus, indem es risikobehaftete Staatsanleihen in großem Umfang in die Bilanzen des Eurosystems übernimmt, dadurch die wirtschaftliche Situation der Banken verbessert und ihre Bonität erhöht. Zu den Folgen des PSPP gehören zudem ökonomische und soziale Auswirkungen auf nahezu alle Bürgerinnen und Bürger, die etwa als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer jedenfalls mittelbar betroffen sind. So ergeben sich etwa für Sparvermögen deutliche Verlustrisiken. Wirtschaftlich an sich nicht mehr lebensfähige Unternehmen bleiben aufgrund des auch durch das PSPP abgesenkten allgemeinen Zinsniveaus weiterhin am Markt. Schließlich begibt sich das Eurosystem mit zunehmender Laufzeit des Programms und steigendem Gesamtvolumen in eine erhöhte Abhängigkeit von der Politik der Mitgliedstaaten, weil es das PSPP immer weniger ohne Gefährdung der Stabilität der Währungsunion beenden und rückabwickeln kann.

Diese und andere erhebliche wirtschaftspolitische Auswirkungen hätte die EZB gewichten, mit den prognostizierten Vorteilen für die Erreichung des von ihr definierten währungspolitischen Ziels in Beziehung setzen und nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten abwägen müssen. Eine solche Abwägung ist, soweit ersichtlich, weder zu Beginn des Programms noch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt. Ohne die Dokumentation, dass und wie diese Abwägung stattgefunden hat, lässt sich die rechtliche Einhaltung des Mandats der EZB gerichtlich nicht effektiv kontrollieren.

III. Ob Bundesregierung und Bundestag ihre Integrationsverantwortung auch dadurch verletzt haben, dass sie nicht auf eine Beendigung des PSPP gedrungen haben, kann dagegen nicht abschließend beurteilt werden, weil sich erst nach einer nachvollziehbar dargelegten Verhältnismäßigkeitsprüfung durch den EZB-Rat endgültig feststellen lässt, ob das PSPP in der Sache mit Art. 127 Abs. 1 AEUV vereinbar ist.

IV. Soweit das Urteil des Gerichtshofs einen Verstoß gegen Art. 123 Abs. 1 AEUV verneint, begegnet die Handhabung der seinem Urteil in der Rechtssache Gauweiler entwickelten „Garantien“ für ein Ankaufsprogramm zwar erheblichen Einwänden, da der Gerichtshof darauf verzichtet, die im PSPP enthaltenen Vorkehrungen gegen Umgehungen einer näheren Prüfung zu unterziehen, und sich nicht mit gegenläufigen Indikatoren auseinandersetzt. Der Senat sieht sich insofern aber an die Auffassung des Gerichtshofs gebunden, da angesichts der realen Möglichkeit, dass jedenfalls die vom Gerichtshof anerkannten Garantien von der EZB eingehalten wurden, ein offensichtlicher Verstoß gegen Art. 123 Abs. 1 AEUV noch nicht festgestellt werden kann.

Zwar hat der Gerichtshof einzelnen „Garantien“ wie dem Ankündigungsverbot, der Sperrfrist, dem Verbot des grundsätzlichen Haltens der Anleihen bis zur Endfälligkeit und der Notwendigkeit eines Ausstiegsszenarios ihre Wirkung in der Praxis weitgehend genommen. Ob ein Anleiheankaufprogramm wie das PSPP eine offenkundige Umgehung von Art. 123 Abs. 1 AEUV darstellt, entscheidet sich allerdings nicht an der Einhaltung eines einzelnen Kriteriums, sondern auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung. Im Ergebnis ist eine offensichtliche Umgehung des Verbots monetärer Haushaltsfinanzierung vor allem deshalb nicht feststellbar, weil

- das Volumen der Ankäufe im Voraus begrenzt ist,

- die vom Eurosystem getätigten Käufe nur in aggregierter Form bekannt gegeben werden,

- eine Obergrenze von 33 % je Internationaler Wertpapierkennnummer eingehalten wird,

- Ankäufe nach dem Kapitalschlüssel der nationalen Zentralbanken getätigt werden,

- nur Anleihen von Körperschaften erworben werden, die aufgrund eines Mindestratings Zugang zum Anleihemarkt besitzen und

- Ankäufe begrenzt oder eingestellt und erworbene Schuldtitel wieder dem Markt zugeführt werden sollen, wenn eine Fortsetzung der Intervention zur Erreichung des Inflationsziels nicht mehr erforderlich ist.

V. Eine Verletzung der Verfassungsidentität des Grundgesetzes im Allgemeinen und der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages im Besonderen ist nicht ersichtlich. Zwar würde eine (nachträgliche) Änderung der Risikoverteilung zwischen der EZB und den nationalen Zentralbanken mit Blick auf den Umfang des PSPP von mehr als zwei Billionen Euro die vom Senat entwickelten Grenzen der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages berühren und wäre mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbar. Für die von den nationalen Zentralbanken erworbenen Staatsanleihen ihrer Mitgliedstaaten sieht das PSPP eine solche – primärrechtlich ohnehin verbotene – Risikoteilung jedoch nicht vor.

VI. Bundesregierung und Deutscher Bundestag sind aufgrund der ihnen obliegenden Integrationsverantwortung verpflichtet, der bisherigen Handhabung des PSPP entgegenzutreten.

1. Im Falle offensichtlicher und strukturell bedeutsamer Kompetenzüberschreitungen durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union sind die Verfassungsorgane verpflichtet, im Rahmen ihrer Kompetenzen und mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln aktiv auf die Einhaltung des Integrationsprogramms und die Aufhebung der vom Integrationsprogramm nicht gedeckten Maßnahmen hinzuwirken sowie – solange die Maßnahmen fortwirken – geeignete Vorkehrungen zu treffen, damit die innerstaatlichen Auswirkungen der Maßnahmen so weit wie möglich begrenzt bleiben.

2. Konkret bedeutet dies, dass die Bundesregierung und der Bundestag aufgrund ihrer Integrationsverantwortung verpflichtet sind, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken. Entsprechendes gilt für die am 1. Januar 2019 begonnene Reinvestitionsphase des PSPP und seine Wiederaufnahme zum 1. November 2019. Insoweit dauert auch die Pflicht, die Entscheidungen des Eurosystems über Ankäufe von Staatsanleihen unter dem PSPP zu beobachten und mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln auf die Einhaltung des dem ESZB zugewiesenen Mandats hinzuwirken, fort.

3. Deutsche Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte dürfen weder am Zustandekommen noch an Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung von Ultra-vires-Akten mitwirken. Der Bundesbank ist es daher untersagt, nach einer für die Abstimmung im Eurosystem notwendigen Übergangsfrist von höchstens drei Monaten an Umsetzung und Vollzug der verfahrensgegenständlichen Beschlüsse mitzuwirken, wenn nicht der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen. Unter derselben Voraussetzung ist die Bundesbank verpflichtet, für eine im Rahmen des Eurosystems abgestimmte – auch langfristig angelegte – Rückführung der Bestände an Staatsanleihen Sorge zu tragen.


Leitsätze des Bundesverfassungsgerichts:

1. Stellt sich bei einer Ultra-vires- oder Identitätskontrolle die Frage nach der Gültigkeit oder Auslegung einer Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, so legt das Bundesverfassungsgericht seiner Prüfung grundsätzlich den Inhalt und die Beurteilung zugrunde, die die Maßnahme durch den Gerichtshof der Europäischen Union erhalten hat.

2. Der mit der Funktionszuweisung des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV verbundene Rechtsprechungsauftrag des Gerichtshofs der Europäischen Union endet dort, wo eine Auslegung der Verträge nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich ist. Überschreitet der Gerichtshof diese Grenze, ist sein Handeln vom Mandat des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz nicht mehr gedeckt, so dass seiner Entscheidung jedenfalls für Deutschland das gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG erforderliche Mindestmaß an demokratischer Legitimation fehlt.

3. Bei der Berührung fundamentaler Belange der Mitgliedstaaten, wie dies bei der Auslegung der Verbandskompetenz der Europäischen Union und ihres demokratisch legitimierten Integrationsprogramms in der Regel der Fall ist, darf die gerichtliche Kontrolle die behaupteten Absichten der Europäischen Zentralbank nicht unbesehen übernehmen.

4. Die Kombination eines weiten Ermessens des handelnden Organs und einer Begrenzung der gerichtlichen Kontrolldichte durch den Gerichtshof der Europäischen Union trägt dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung offensichtlich nicht hinreichend Rechnung und eröffnet den Weg zu einer kontinuierlichen Erosion mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten.

5. Die Wahrung der kompetenziellen Grundlagen der Europäischen Union hat entscheidende Bedeutung für die Gewährleistung des demokratischen Prinzips. Die Finalität des Integrationsprogramms darf nicht dazu führen, dass das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung als eines der Fundamentalprinzipien der Europäischen Union faktisch außer Kraft gesetzt wird.

6. a) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten und die damit verbundene wertende Gesamtbetrachtung besitzen ein für das Demokratieprinzip und den Grundsatz der Volkssouveränität erhebliches Gewicht. Ihre Missachtung ist geeignet, die kompetenziellen Grundlagen der Europäischen Union zu verschieben und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu unterlaufen.
b) Die Verhältnismäßigkeit eines Programms zum Ankauf von Staatsanleihen setzt neben seiner Eignung zur Erreichung des angestrebten Ziels und seiner Erforderlichkeit voraus, dass das währungspolitische Ziel und die wirtschaftspolitischen Auswirkungen benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Die unbedingte Verfolgung des währungspolitischen Ziels unter Ausblendung der mit dem Programm verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen missachtet offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV.
c) Dass das Europäische System der Zentralbanken keine Wirtschafts- und Sozialpolitik betreiben darf, schließt es nicht aus, unter dem Gesichtspunkt des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV die Auswirkungen zu erfassen, die ein Ankaufprogramm für Staatsanleihen etwa für die Staatsverschuldung, Sparguthaben, Altersvorsorge, Immobilienpreise, das Überleben wirtschaftlich nicht überlebensfähiger Unternehmen hat, und sie – im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung – zu dem angestrebten und erreichbaren währungspolitischen Ziel in Beziehung zu setzen.

7. Ob ein Programm wie das PSPP eine offenkundige Umgehung von Art. 123 Abs. 1 AEUV darstellt, entscheidet sich jedoch nicht an der Einhaltung eines einzelnen Kriteriums, sondern nur auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung. Vor allem die Ankaufobergrenze von 33 % und die Verteilung der Ankäufe nach dem Kapitalschlüssel der Europäischen Zentralbank verhindern, dass unter dem PSPP selektive Maßnahmen zugunsten einzelner Mitgliedstaaten getroffen werden und dass das Eurosystem zum Mehrheitsgläubiger eines Mitgliedstaats wird.

8. Eine (nachträgliche) Änderung der Risikoverteilung für die unter dem PSPP erworbenen Staatsanleihen würde die Grenzen der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages berühren und wäre mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbar. Sie stellte in der Sache eine vom Grundgesetz verbotene Haftungsübernahme für Willensentscheidungen Dritter mit schwer kalkulierbaren Folgen dar. (227)
9. Bundesregierung und Bundestag sind aufgrund ihrer Integrationsverantwortung verpflichtet, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Europäische Zentralbank hinzuwirken. Sie müssen ihre Rechtsauffassung gegenüber der Europäischen Zentralbank deutlich machen oder auf sonstige Weise für die Wiederherstellung vertragskonformer Zustände sorgen. (232)
10. Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte dürfen weder am Zustandekommen noch an Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung von Ultra-vires-Akten mitwirken. Das gilt grundsätzlich auch für die Bundesbank. (234)

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier: