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BAG: Betriebsratsvorsitzender kann nicht zugleich betrieblicher Datenschutzbeauftragter sein da Interessenkonflikte bestehen können

BAG
Urteil vom 06.06.2023
9 AZR 383/19


Das BAG hat entschieden, dass ein Betriebsratsvorsitzender nicht zugleich betrieblicher Datenschutzbeauftragter sein kann, da Interessenkonflikte bestehen können.

Die Pressemitteilung des Gerichts:
Betriebsratsvorsitzender als Datenschutzbeauftragter ?
Der Vorsitz im Betriebsrat steht einer Wahrnehmung der Aufgaben des Beauftragten für den Datenschutz typischerweise entgegen und berechtigt den Arbeitgeber in aller Regel, die Bestellung zum Datenschutzbeauftragten nach Maßgabe des BDSG in der bis zum 24. Mai 2018 gültigen Fassung (aF) zu widerrufen.

Der bei der Beklagten angestellte Kläger ist Vorsitzender des Betriebsrats und in dieser Funktion teilweise von der Arbeit freigestellt. Mit Wirkung zum 1. Juni 2015 wurde er von der Beklagten und weiteren in Deutschland ansässigen Tochtergesellschaften zum Datenschutzbeauftragten bestellt. Auf Veranlassung des Thüringer Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit widerriefen die Beklagte und die weiteren Konzernunternehmen die Bestellung des Klägers am 1. Dezember 2017 wegen einer Inkompatibilität der Ämter mit sofortiger Wirkung. Nach Inkrafttreten der Verordnung (EU) 2016/679 vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie (RL) 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung; im Folgenden DSGVO) beriefen sie den Kläger vorsorglich mit Schreiben vom 25. Mai 2018 gemäß Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO als Datenschutzbeauftragten ab.

Der Kläger hat geltend gemacht, seine Rechtsstellung als betrieblicher Datenschutzbeauftragter der Beklagten bestehe unverändert fort. Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, Interessenkonflikte bei der Wahrnehmung der Aufgaben als Datenschutzbeauftragter und Betriebsratsvorsitzender ließen sich nicht ausschließen. Die Unvereinbarkeit beider Ämter stellten einen wichtigen Grund zur Abberufung des Klägers dar.

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Die dagegen erhobene Revision der Beklagten hatte vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Der Widerruf der Bestellung vom 1. Dezember 2017 war aus wichtigem Grund iSv. § 4f Abs. 3 Satz 4 BDSG aF iVm. § 626 Abs. 1 BGB gerechtfertigt. Ein solcher liegt vor, wenn der zum Beauftragten für den Datenschutz bestellte Arbeitnehmer die für die Aufgabenerfüllung erforderliche Fachkunde oder Zuverlässigkeit iSv. § 4f Abs. 2 Satz 1 BDSG aF nicht (mehr) besitzt. Die Zuverlässigkeit kann in Frage stehen, wenn Interessenkonflikte drohen. Ein abberufungsrelevanter Interessenkonflikt ist anzunehmen, wenn der Datenschutzbeauftragte innerhalb einer Einrichtung eine Position bekleidet, die die Festlegung von Zwecken und Mitteln der Verarbeitung personenbezogener Daten zum Gegenstand hat. Dabei sind alle relevanten Umstände des Einzelfalls zu würdigen. Diese vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH 9. Februar 2023 – C-453/21 – [X-FAB Dresden]) zu einem Interessenkonflikt iSv. Art. 38 Abs. 6 Satz 2 DSGVO vorgenommene Wertung gilt nicht erst seit Novellierung des Datenschutzrechts aufgrund der DSGVO, sondern entsprach bereits der Rechtslage im Geltungsbereich des BDSG aF.

Die Aufgaben eines Betriebsratsvorsitzenden und eines Datenschutzbeauftragten können danach typischerweise nicht durch dieselbe Person ohne Interessenkonflikt ausgeübt werden. Personenbezogene Daten dürfen dem Betriebsrat nur zu Zwecken zur Verfügung gestellt werden, die das Betriebsverfassungsgesetz ausdrücklich vorsieht. Der Betriebsrat entscheidet durch Gremiumsbeschluss darüber, unter welchen konkreten Umständen er in Ausübung seiner gesetzlichen Aufgaben welche personenbezogenen Daten vom Arbeitgeber fordert und auf welche Weise er diese anschließend verarbeitet. In diesem Rahmen legt er die Zwecke und Mittel der Verarbeitung personenbezogener Daten fest. Inwieweit jedes an der Entscheidung mitwirkende Mitglied des Gremiums als Datenschutzbeauftragter die Einhaltung der gesetzlichen Pflichten des Datenschutzes hinreichend unabhängig überwachen kann, bedurfte keiner abschließenden Entscheidung. Jedenfalls die hervorgehobene Funktion des Betriebsratsvorsitzenden, der den Betriebsrat im Rahmen der gefassten Beschlüsse vertritt, hebt die zur Erfüllung der Aufgaben eines Datenschutzbeauftragten erforderliche Zuverlässigkeit iSv. § 4f Abs. 2 Satz 1 BDSG aF auf.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 6. Juni 2023 – 9 AZR 383/19
Vorinstanz: Sächsisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 19. August 2019 – 9 Sa 268/18



EuGH-Generalanwalt: Google, Meta Platforms und Tik Tok dürfen zusätzliche Verpflichtungen in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres Sitzes nur im konkreten Einzelfall auferlegt werden

EuGH-Generalanwalt
Schlussanträge vom 08.06.2023
C-376/22
Google Ireland Limited, Tik Tok Technology Limited, Meta Platforms Ireland Limited


EuGH-Generalanwalt kommt in seinen Schlussanträge zu dem Ergebniss, dass Anbieter wie Google, Meta Platforms und Tik Tok zusätzliche Verpflichtungen in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres Sitzes nur im konkreten Einzelfall auferlegt werden dürfen.

Die Pressemitteilung des EuGH:
Plattformen wie Google, Meta Platforms und Tik Tok dürfen zusätzliche Verpflichtungen in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres Sitzes nur in Bezug auf einen konkreten Einzelfall ergriffene Maßnahmen auferlegt werden

Das Unionsrecht verwehrt es, den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft aus anderen Mitgliedstaaten durch gesetzliche Maßnahmen generell-abstrakter Natur zu beschränken.

Google, Meta Platforms und Tik Tok wenden sich vor den österreichischen Gerichten gegen die von der österreichischen Regulierungsbehörde für Kommunikation (KommAustria) getroffene Feststellung, dass das österreichische Bundesgesetz aus dem Jahr 2020 über Maßnahmen zum Schutz der Nutzer auf Kommunikationsplattformen (KoPl-G 1) auf sie anwendbar sei, obwohl sie in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich Irland, niedergelassen sind.

Mit diesem Gesetz soll die Verantwortlichkeit von Kommunikationsplattformen gestärkt werden. Im Einzelnen verpflichtet es allgemein die Betreiber von „Kommunikationsplattformen“, die in Österreich oder im Ausland niedergelassen sind, ein Melde- und Überprüfungssystem für angeblich rechtswidrige Inhalte einzurichten. Außerdem sind diese Betreiber verpflichtet, regelmäßig Berichte über die Behandlung solcher Meldungen zu erstellen. Die im KoPl-G festgelegten Verpflichtungen erfordern nicht den vorherigen Erlass eines individuellkonkreten Rechtsakts. Des Weiteren sieht das Gesetz Geldstrafen bei Verstößen gegen die gesetzlichen Verpflichtungen vor.

Google, Meta Platforms und Tik Tok machen geltend, dass das KoPl-G mit der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr2, insbesondere mit dem Herkunftslandprinzip, unvereinbar sei. Der österreichische Verwaltungsgerichtshof hat dem Gerichtshof hierzu Fragen vorgelegt. Er möchte wissen, ob ein Mitgliedstaat den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft aus anderen Mitgliedstaaten dadurch beschränken darf, dass er nationale Maßnahmen generell-abstrakter Natur ergreift, die sich auf eine allgemein umschriebene Kategorie bestimmter Dienste der Informationsgesellschaft – nämlich „Kommunikationsplattformen“ – beziehen, ohne dass diese Maßnahmen in Bezug auf einen konkreten Einzelfall ergriffen werden.

In seinen Schlussanträgen vom heutigen Tag weist Generalanwalt Maciej Szpunar darauf hin, dass seine Analyse auf der Prämisse beruht, dass es sich bei den von den drei Unternehmen in Österreich erbrachten Dienstleistungen um Dienste der Informationsgesellschaft handelt, wie dies für den österreichischen Verwaltungsgerichtshof feststeht.

Der Generalanwalt stellt fest, dass die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr es im koordinierten Bereich den Mitgliedstaaten verbietet, den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat einzuschränken. Vorbehaltlich von Ausnahmen lässt diese Richtlinie es nicht zu, dass der Anbieter eines Dienstes des elektronischen Geschäftsverkehrs strengeren Anforderungen unterliegt, als sie das in seinem Herkunftsmitgliedstaat geltende Recht vorsieht.

Zu den von der Richtlinie vorgesehenen Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip wiederholt der Generalanwalt die Ausführungen in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Airbnb Ireland. Seiner Ansicht nach darf ein anderer als der Herkunftsmitgliedstaat Ausnahmen vom freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft nur durch auf den konkreten Einzelfall bezogene Maßnahmen vorsehen, und zwar nach vorheriger Mitteilung an die Kommission und Aufforderung an den Herkunftsmitgliedstaat, Maßnahmen im Bereich der Dienste der Informationsgesellschaft zu ergreifen, was vorliegend nicht geschehen ist.

Ginge man davon aus, dass eine generell-abstrakte Regelung, die für alle Anbieter einer Kategorie von Diensten der Informationsgesellschaft gilt, eine „Maßnahme“ darstellt, liefe dies im Übrigen darauf hinaus, die Fragmentierung des Binnenmarkts durch nationale Regelungen zuzulassen. Die Anwendung unterschiedlicher Gesetze auf einen Anbieter zuzulassen, liefe außerdem dem von der Richtlinie verfolgten Ziel zuwider, die rechtlichen Hemmnisse für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu beseitigen.

Daher ist der Generalanwalt der Auffassung, dass diese Richtlinie es verwehrt, dass ein Mitgliedstaat unter diesen Umständen und in derartiger Weise den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat beschränkt.

Die vollständigen Schlussanträge finden Sie hier:

EuG: Unionsmarke bestehend aus dem Batmanlogo ist unterscheidungskräftig und wird als Herkunftshinweis auf DC Comics verstanden - Fledermaus in einem ovalen Rund

EuG
Urteil vom 07.06.2023
T-735/21
Aprile und Commerciale Italiana / EUIPO – DC Comics (Darstellung einer Fledermaus in einem ovalen Rund)


Das EuG hat entschieden, dass die Unionsmarke bestehend aus dem Batmanlogo (Fledermaus in einem ovalen Rund) unterscheidungskräftig ist und als Herkunftshinweis auf DC Comics verstanden wird.

Die Pressemitteilung des EuG:
Batman-Logo: Die Beweismittel, die dem Gericht vorgelegt wurden, beweisen nicht, dass eine Unionsmarke mit Darstellung einer Fledermaus in einem ovalen Kreis zum Zeitpunkt ihrer Anmeldung keine Unterscheidungskraft gehabt hätte

Laut EUIPO können die maßgeblichen Verkehrskreise die Waren, auf die sich die Marke bezieht, gerade wegen ihrer Unterscheidungskraft gedanklich mit DC Comics in Verbindung bringen und von den Waren anderer Unternehmen unterscheiden.

Am 1. April 1996 meldete DC Comics, der Verlag von Batman, beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) folgendes Bildzeichen als Unionsmarke an:

Die Marke wurde am 2. Februar 1998 eingetragen. 2019 beantragte die Commerciale Italiana Srl beim EUIPO, die Marke für nichtig zu erklären. Der Antrag, der bestimmte Warenklassen wie Kleidung und Faschings-/Karnevalskostüme betraf, wurde vom EUIPO (zunächst von der Widerspruchsabteilung, dann von der Beschwerdekammer) zurückgewiesen. Das EUIPO stellte fest, dass die Figur des Batman in den Beweismitteln, die ihm vorgelegt worden seien, gedanklich stets mit dem entsprechenden Verlag in Verbindung gebracht worden sei und dass nicht dargetan worden sei, dass die Verbraucher die Marke gedanklich mit einem anderen Unternehmen in Verbindung gebracht hätten.

Die Commerciale Italiana Srl und ihr alleiniger Gesellschafter, Herr Luigi Aprile, haben beim Gericht der Europäischen Union Klage auf Aufhebung der Entscheidung des EUIPO erhoben. Sie machen insbesondere geltend, dass die Marke keine Unterscheidungskraft habe und beschreibend sei. Sie hätte deshalb nicht eingetragen werden dürfen und müsse für nichtig erklärt werden. Mit seinem heutigen Urteil weist das Gericht diese Klage ab.

Es stellt fest, dass die Entscheidung des EUIPO hinreichend begründet ist. Trotz der Bezugnahme auf bestimmte Ausführungen der Nichtigkeitsabteilung (Widerspruchsabteilung) haben die Commerciale Italiana Srl und Herr Aprile anhand der Begründung nachvollziehen können, von welchen Erwägungen sich die Beschwerdekammer bei ihrer Entscheidung hat leiten lassen. Zur Unterscheidungskraft der Marke stellt das Gericht fest, dass Unterscheidungskraft bedeutet, dass die Marke geeignet ist, die Ware, für die die Eintragung beantragt wird, als von einem bestimmten Unternehmen stammend zu kennzeichnen und somit von den Waren anderer Unternehmen zu unterscheiden. Das Gericht stellt weiter fest, dass im Nichtigkeitsverfahren eine Vermutung dafür spricht, dass die eingetragene Marke gültig ist, und der Antragsteller deshalb konkret darzutun hat, warum die Marke nicht gültig sein soll. Das Gericht ist der Auffassung, dass nicht allein deshalb, weil die Verbraucher die angegriffene Marke gedanklich mit der fiktiven Figur des Batman in Verbindung brachten, ausgeschlossen ist, dass die Marke auch auf die Herkunft der betreffenden Waren hinweist. Im Übrigen hat die Beschwerdekammer festgestellt, dass die Figur Batman gedanklich immer mit DC Comics in Verbindung gebracht wurde und dass die von der Commerciale Italiana Srl und Herrn Aprile vorgelegten Beweise nicht beweisen, dass dies zum Zeitpunkt der Einreichung der Anmeldung nicht der Fall gewesen wäre oder dass die Marke zu diesem Zeitpunkt gedanklich mit einem anderen Unternehmen in Verbindung gebracht worden wäre. Das EUIPO hat daher zu Recht festgestellt, dass die angegriffene Marke Unterscheidungskraft hatte. Was schließlich das Vorbringen angeht, dass die Marke beschreibend sei, weist das Gericht das Argument der Commerciale Italiana Srl und von Herrn Aprile zurück, dass die Marke, da die Figur des Batman ohne sie überhaupt nicht dargestellt werden könne, ein Merkmal der Waren beschreibe. Nach Auffassung des Gerichts haben die Commerciale Italiana Srl und Herr Aprile nicht hinreichend dargetan, inwiefern die Marke geeignet sein soll, die Merkmale der Figur des Batman und damit auch nicht der in Rede stehenden Waren zu beschreiben.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:


LG Köln: Sandalen können als Werk der angewandten Kunst urheberrechtlich geschützt sein

LG Köln
Urteil vom 11.05.2023
14 O 41/22

Das LG Köln hat entschieden, dass Sandalen als Werk der angewandten Kunst urheberrechtlich geschützt sein können.

Aus den Entscheidungsgründen:
1. Die Sandalenmodelle „IA.“ und „PC.“ der Klägerin stellen persönliche geistige Schöpfungen dar und sind als Werke der angewandten Kunst gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 UrhG urheberrechtlich geschützt.

a) Nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG gehören Werke der bildenden Kunst einschließlich der Werke der Baukunst und der angewandten Kunst und Entwürfe solcher Werke zu den urheberrechtlich geschützten Werken, sofern sie nach § 2 Abs. 2 UrhG persönliche geistige Schöpfungen sind. Eine persönliche geistige Schöpfung ist eine Schöpfung individueller Prägung, deren ästhetischer Gehalt einen solchen Grad erreicht hat, dass nach Auffassung der für Kunst empfänglichen und mit Kunstanschauungen einigermaßen vertrauten Kreise von einer „künstlerischen“ Leistung gesprochen werden kann (BGHZ 199, 52 = GRUR 2014, 175 Rn. 15 – Geburtstagszug; BGH GRUR 2021, 1290 Rn. 57 = WRP 2021, 1461 – Zugangsrecht des Architekten, mwN). Dabei kann die ästhetische Wirkung der Gestaltung einen Urheberrechtsschutz nur begründen, soweit sie auf einer künstlerischen Leistung beruht und diese zum Ausdruck bringt (BGH GRUR 2012, 58 Rn. 36 – Seilzirkus; BGHZ 199, 52 = GRUR 2014, 175 Rn. 41 – Geburtstagszug; BGH GRUR 2021, 1290 Rn. 57 – Zugangsrecht des Architekten; BGH, GRUR 2022, 899, 902 Rn. 28 – Porsche 911).

b) In der Sache sollen diese Maßstäbe dem unionsrechtlichen Begriff des urheberrechtlich geschützten Werks im Sinne der RL 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (BGH GRUR 2021, 1290 Rn. 58 – Zugangsrecht des Architekten) entsprechen. Dabei handelt es sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs um einen autonomen Begriff des Unionsrechts, der in der gesamten Union einheitlich auszulegen und anzuwenden ist (EuGH GRUR 2019, 73 Rn. 33 = WRP 2019, 55 – Levola Hengelo; EuGH GRUR 2019, 1185 Rn. 29 = WRP 2019, 1449 – Cofemel). Für eine Einstufung eines Objekts als Werk müssen zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen muss es sich bei dem betreffenden Gegenstand um ein Original in dem Sinne handeln, dass er eine eigene geistige Schöpfung seines Urhebers darstellt (EuGH GRUR 2019, 73 Rn. 36 – Levola Hengelo; EuGH GRUR 2019, 1185 Rn. 29 – Cofemel; EuGH GRUR 2020, 736 Rn. 22 = WRP 2020, 1006 – Brompton Bicycle). Ein Gegenstand kann erst dann, aber auch bereits dann als ein Original in diesem Sinne angesehen werden, wenn er die Persönlichkeit seines Urhebers widerspiegelt, indem er dessen freie kreative Entscheidung zum Ausdruck bringt. Wurde dagegen die Schaffung eines Gegenstands durch technische Erwägungen, durch Regeln oder durch andere Zwänge bestimmt, die der Ausübung künstlerischer Freiheit keinen Raum gelassen haben, kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Gegenstand die für die Einstufung als Werk erforderliche Originalität aufweist (EuGH GRUR 2019, 1185 Rn. 30 f. – Cofemel; EuGH GRUR 2020, 736 Rn. 23 f. – Brompton Bicycle). Zum anderen ist die Einstufung als Werk Elementen vorbehalten, die eine solche Schöpfung zum Ausdruck bringen (EuGH GRUR 2019, 73 Rn. 37 – Levola Hengelo; EuGH GRUR 2019, 1185 Rn. 29 – Cofemel; EuGH GRUR 2020, 736 Rn. 22 – Brompton Bicycle). Dafür ist ein mit hinreichender Genauigkeit und Objektivität identifizierbarer Gegenstand Voraussetzung (EuGH GRUR 2019, 1185 Rn. 32 – Cofemel; EuGH GRUR 2020, 736 Rn. 25 – Brompton Bicycle), auch wenn diese Ausdrucksform nicht notwendig dauerhaft sein sollte (EuGH GRUR 2019, 73 Rn. 40 – Levola Hengelo).

c) Hiermit steht im Einklang, dass bei Werken der angewandten Kunst keine höheren Anforderungen an die Gestaltungshöhe zu stellen sind als bei Werken der zweckfreien Kunst (BGH, Urteil vom 13. November 2013 - I ZR 143/12, BGHZ 199, 52 [juris Rn. 26] - Geburtstagszug).

aa) Bei Gebrauchsgegenständen, die durch den Gebrauchszweck bedingte Gestaltungsmerkmale aufweisen, ist lediglich der Spielraum für eine künstlerische Gestaltung regelmäßig eingeschränkt. Deshalb stellt sich bei ihnen in besonderem Maße die Frage, ob sie über ihre von der Funktion vorgegebene Form hinaus künstlerisch gestaltet sind und diese Gestaltung eine Gestaltungshöhe erreicht, die Urheberrechtsschutz rechtfertigt (BGH, Urt. v. 15.12.2022 – I ZR 173/21 –, Rn. 15 – Vitrinenleuchte). Eine zwar Urheberrechtsschutz begründende, gleichwohl aber geringe Gestaltungshöhe führt zu einem entsprechend engen Schutzbereich des betreffenden Werkes (BGH, GRUR 2014, 175 [179, Rn. 41] – Geburtstagszug, mwN).

bb) Die Kammer geht dabei davon aus, dass mit der Geburtstagszug-Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH, GRUR 2014, 175 [177, Rn. 26] – Geburtstagszug) jedenfalls eine Absenkung der Schutzuntergrenze bei Werken der angewandten Kunst dergestalt einhergeht, dass keine überdurchschnittliche Gestaltungshöhe mehr verlangt wird (in diesem Sinne Gutachten PV., S. 17; Gutachten SM., S. 45; RW./PV., in: Schricker/PV., Urheberrecht, 6. Aufl. 2020, § 2, Rn. 184; a.A. Gutachten RW., S. 29). Soweit angenommen wird, bei Gebrauchsgegenständen – namentlich Schuhen --, die in besonderem Maße vom funktionalen Gebrauchszweck geprägt seien, führe das Geburtstagszug-Urteil eher zu strengeren Maßstäben als zuvor, da in diesem Fall – auch trotz den Durchschnitt überragender Gestaltungsleistung – regelmäßig keine ausreichend erkennbare künstlerische Gestaltung vorliege; die Änderung führe eher im Bereich der dekorativen Gestaltungen, etwa im Rahmen der Gestaltung von Applikationen für Bekleidungsstücke oder auch bei Schmuck zu einer gewissen Absenkung der Maßstäbe (Gutachten RW., S. 30 unter Verweis auf A. Nordemann, in: Fromm/Nordemann, Urheberrecht, 12. Aufl. 2018, § 2, Rn. 150), kann dem nicht gefolgt werden. Das Gutachten RW. erweist sich insoweit auch als widersprüchlich, als dort an anderer Stelle (S. 23) gerade verlangt wird, einfachere und klarere Designs dürften bei der Beurteilung urheberrechtlicher Schutzfähigkeit tendentiell gegenüber ornamentalen, gleichsam barock geschmückten Gestaltungen nicht benachteiligt werden. Der Bundesgerichtshof hat erhöhte Anforderungen an die Gestaltungshöhe bei Werken der angewandten Kunst ausdrücklich aufgegeben (BGH, GRUR 2021, 1290 [1296, Rn. 60] – Zugangsrecht des Architekten). Für einen urheberrechtlichen Schutz von Werken der angewandten Kunst und der bildenden Kunst ist – ebenso wie für alle anderen Werkarten – lediglich eine nicht zu geringe Gestaltungshöhe zu fordern (vgl. BGH, GRUR 2014, 175, Rn. 40 – Geburtstagszug; BGH, GRUR 2015, 1189, Rn. 44 – Goldrapper). Einer schutzaffirmativen Bewertung rein dekorativer oder ornamentaler Elemente hat jedenfalls der Gerichthof der Europäischen Union gerade eine Absage erteilt (EuGH, GRUR 2019, 1185, Rn. 54 f. – Cofemel).

cc) Die Grundsätze der Entscheidung des Bundesgerichtshofs „Geburtstagszug“ finden dabei auch auf Werke der angewandten Kunst – wie die hier streitgegenständlichen Sandalenmodelle – Anwendung, die vor dem Inkrafttreten des Geschmacksmusterreformgesetzes vom 12.03.2004, nämlich vor dem 01.06.2004, geschaffen worden sind (BGH, GRUR 2014, 175, Rn. 24 – Geburtstagszug). Eine Änderung der Rechtsprechung erfasst auch vor dem Zeitpunkt der Änderung liegende, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte. Eine Rechtsprechungsänderung ist insoweit nicht mit einer Gesetzesänderung gleichzusetzen (BGH, NJW 2007, 2987, Rn. 28). Gründe des Vertrauensschutzes, die dem hier entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich. Die in Rede stehenden, angegriffenen Verwertungshandlungen sind nach diesem Zeitpunkt erfolgt.

d) Soweit der Gerichtshof der Europäischen Union in der „Cofemel"-Entscheidung ausführt, der Umfang des Schutzes eines Werks der angewandten Kunst sei nicht geringer als bei anderen unter die Richtlinie 2001/29/EG fallenden Werken (EuGH, GRUR 2019, 1185 [juris Rn. 35] - Cofemel), ist damit allein gesagt, dass bei Werken der angewandten Kunst dieselben Ausschließlichkeitsrechte (umfassend die positiven Nutzungsrechte und die negativen Verbietungsrechte) gewährt werden müssen und hinsichtlich der Reichweite dieser Rechte dieselben Rechtsmaßstäbe anzulegen sind wie bei allen anderen Werkkategorien. Gegenstand der Vorlage in der Rechtssache „Cofemel" war allein die Frage, ob bestimmten Erzeugnissen (Werken der angewandten Kunst, Modellen und Designs) der urheberrechtliche Schutz in gleicher Weise zugutekomme wie Werken der Literatur und Kunst (vgl. EuGH, GRUR 2019, 1185 [juris Rn. 24] - Cofemel). Die Aussage des Gerichtshofs der Europäischen Union bedeutet vor diesem Hintergrund, dass der urheberrechtliche Schutz für alle Kategorien von Werken, die den unionsrechtlichen Werkbegriff erfüllen (dazu EuGH, GRUR 2019, 1185 [juris Rn. 29 und 48] - Cofemel), nach demselben rechtlichen Maßstab zu bestimmen ist (vgl. auch EuGH, Urteil vom 1. Dezember 2011 - C-145/10, Slg. 2011, I-12533 = GRUR 2012, 166 [juris Rn. 97 f.] - Painer; ferner auch Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-683/17 vom 2. Mai 2019 Rn. 31). Auf die im Einzelfall vorzunehmende Bestimmung des konkreten urheberrechtlichen Schutzbereichs eines Werks, der sich aus seiner Gestaltungshöhe ergibt, bezieht sich diese Aussage hingegen nicht (BGH, Urt. v. 15.12.2022 – I ZR 173/21 –, Rn. 17 – Vitrinenleuchte).

e) Für den vorliegend relevanten Schutz von Werken der angewandten Kunst ist zudem Art. 17 Richtlinie 98/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen zu berücksichtigen, der das Verhältnis zum Urheberrecht regelt:

„Das nach Maßgabe dieser Richtlinie durch ein in einem oder mit Wirkung für einen Mitgliedstaat eingetragenes Recht an einem Muster geschützte Muster ist auch nach dem Urheberrecht dieses Staates von dem Zeitpunkt an schutzfähig, an dem das Muster geschaffen oder in irgendeiner Form festgelegt wurde. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen ein solcher Schutz gewährt wird, wird einschließlich der erforderlichen Gestaltungshöhe von dem einzelnen Mitgliedstaat festgelegt.“

Folglich sind die nationalen Gerichte zur Beurteilung der für die urheberrechtliche Schutzfähigkeit von Werken der angewandten Kunst maßgeblichen Gestaltungshöhe und der Werkqualität kompetent. Jedenfalls steht den nationalen Gerichten – auch wenn man einen einheitlichen, unionsweiten Werkbegriff grundsätzlich anerkennt – bei der Anwendung des Werkbegriffs bei den einzelnen Werkarten ein umfassender Beurteilungsspielraum zu. Denn mit der autonomen Auslegung des unionsrechtlichen Werkbegriffs steht es im Einklang, wenn ein Beurteilungsspielraum der nationalen Gerichte bei der Anwendung des Werkbegriffs bei den einzelnen Werkarten anerkannt wird (vgl. v. Ungern-Sternberg, GRUR 2010, 273). Wann Spielräume im Einzelfall in individueller Weise genutzt werden, überlässt der EuGH den nationalen Gerichten (EuGH, GRUR 2020, 736, Rn. 38 – Brompton). Der Umstand, dass mit den Verfassern der vorgelegten Rechtsgutachten SM., RW. und PV. drei ausgewiesene urheberrechtliche Experten auf Basis des unionsrechtlichen Werkbegriffs zu teils diametral entgegengesetzten Ergebnissen im Einzelfall gelangen, zeigt ohnehin, dass die übergeordneten Kriterien des EuGH lediglich als weitgefasste Leitlinien gelten können, deren Gewinn für die konkrete Betrachtung nicht zu hoch eingeschätzt werden darf.

Ausweislich des Vorschlags für eine RICHTLINIE DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES über den rechtlichen Schutz von Designs (Neufassung) vom 28.11.2022, COM(2022) 667 final 2022/0392 (COD), soll der Grundsatz des kumulierten Designschutzes und des Schutzes des Urheberrechts in Art. 23 Designrichtlinie ausdrücklich beibehalten werden. Nach Erwägungsgrund 12 des Entwurfs sollen Designs, die durch Rechte an Designs geschützt sind, ebenfalls als urheberrechtlich geschützte Werke geschützt werden können, sofern die Anforderungen der „Urheberrechtsvorschriften der Union“ erfüllt sind.

f) Ob den Anforderungen, die an schutzfähige Werke zu stellen sind, im Einzelfall genügt ist, bleibt weitgehend eine Frage tatrichterlicher Würdigung (BGH, Urteil vom 27. Januar 1983 - I ZR 177/80, GRUR 1983, 377 [juris Rn. 15] = WRP 1983, 484 - Brombeer-Muster; Urteil vom 10. Dezember 1986 - I ZR 15/85, GRUR 1987, 903 [juris Rn. 27] - Le Corbusier-Möbel; Urteil vom 22. Juni 1995 - I ZR 119/93, GRUR 1995, 581 [juris Rn. 13] = WRP 1995, 908 - Silberdistel).

Dabei sind sämtliche Einzelfallumstände zu berücksichtigen, wobei die Klägerseite die Darlegungslast dafür trägt, dass die Sandalenmodelle „IA.“ und „PC.“ über individuelle Gestaltungsmerkmale verfügen, die über die Verwirklichung einer technischen Lösung hinausgehen und dadurch den Schutz des Urheberrechts begründen können. Die Klägerseite trägt im urheberrechtlichen Verletzungsprozess die Darlegungslast für das Vorliegen einer persönlichen geistigen Schöpfung. Sie hat daher nicht nur das betreffende Werk vorzulegen, sondern grundsätzlich auch die konkreten Gestaltungselemente darzulegen, aus denen sich der urheberrechtliche Schutz ergeben soll (BGH, Urteil vom 12. Mai 2011 - I ZR 53/10, GRUR 2012, 58 [juris Rn. 23 f.] – Seilzirkus; BGH, Urt. v. 15.12.2022 – I ZR 173/21 –, Rn. 21 – Vitrinenleuchte).

g) Das Vorhandensein einer Schöpfung, von Individualität und Originalität lässt sich nicht allein aus den objektiven Eigenschaften des jeweiligen Werkes herleiten. Vielmehr sind diese Merkmale anhand ihrer Relation zum konkreten Schaffensprozess zu betrachten. Die Werk-Schöpfer-Beziehung kann weder aus einer einseitigen Betrachtung der Person des Urhebers heraus noch durch Analyse seines Werkes allein adäquat erfasst werden (grundlegend Haberstumpf, GRUR 2021, 1249, 1251; Barudi, Autor und Werk – eine prägende Beziehung?, 2013, 32 f.). Maßgeblich ist vielmehr, nach welchen Regeln der Urheber eines bestimmten Werkes gearbeitet hat, wohingegen keine Rolle spielt, ob er sich dessen bewusst war. Erst dann, wenn die bestehenden Regeln vorgeben, wie der Erschaffer eines Produkts auf einem bestimmten Gebiet dieses zu fertigen hat – etwa anhand von erlernten Verarbeitungstechniken und Formgestaltungsregeln – bestehen keine Gestaltungsspielräume mehr, mit der Folge, dass die Entfaltung von Individualität dann nicht mehr möglich ist, selbst wenn ein handwerklich in Perfektion gefertigtes Produkt neu und eigenartig ist, also durchaus Designschutz beanspruchen könnte. Die rein handwerkliche oder routinemäßige Leistung trägt nicht den Stempel der Individualität, mag sie auch noch so solide und fachmännisch erbracht sein (RW., in: Schricker/PV., 6. Aufl. 2020, § 2, Rn. 53). Der Hersteller muss den bestehenden Gestaltungsspielraum indes auch durch eigene kreative Entscheidungen ausfüllen, um zum Urheber zu werden (BGH, GRUR 2014, 175, Rn. 41 – Geburtstagszug). Dies bedeutet, dass das schöpferische Individuum kein Produkt aus Regeln ist, sondern selbst eine Regel für das Urteil über andere Produkte, also exemplarisch sein muss.

Die technische Bedingtheit eines Produkts durch die Anwendung technischer Regeln und Gesetzmäßigkeiten kann den Spielraum des Gestalters beschränken, wenn eine technische Idee mit einer bestimmten Ausdrucksform zusammenfällt, diese Ausdrucksform technisch notwendig ist und damit schöpferisches Gestalten unmöglich macht (vgl. Zech, ZUM 2020, 801, 803). Technische Lehren können Spielräume des Gestalters aber auch erweitern, etwa, wenn dieser sich die kausalen Eigenschaften bestimmter Materialien oder vorhandener Gegenstände gerade zunutze macht, um mit diesen zu experimentieren, sie zu kombinieren und auszuloten, welche Gestaltungsmöglichkeiten sie bieten (Haberstumpf, GRUR 2021, 1249, 1253). So kann beispielsweise die Licht- und Farbwirkung von geschliffenem Kristallglas dazu beitragen, Tierfiguren als schutzfähig anzusehen (BGH, GRUR, 1988, 690, 692 f.).

h) Technische Regeln und Gesetzmäßigkeiten stehen einer schöpferischen Gestaltung also nur dann entgegen, wenn sie zwingende Wirkung entfalten, indem der Gestalter sich an bestehende Konventionen hält und diese befolgt, ohne von ihnen abzuweichen, sie zu modifizieren oder sich über sie hinwegzusetzen. Der Gestalter eines Produkts nutzt die ihm eröffneten Gestaltungsspielräume nicht, wenn er sich an vorgegebenen Techniken und Regeln orientiert. Zu einem schöpferischen Werk wird sein Produkt erst dann, wenn er von vorhandenen und praktizierten Gestaltungsgepflogenheiten abweichende Regeln in das jeweils in Anspruch genommene Kommunikationssystem explizit oder implizit einführt und danach handelt, indem er ein materielles Erzeugnis produziert, das als Beispiel oder Muster für seine selbstgesetzten Regeln dienen kann (Haberstumpf, GRUR 2021, 1249, 1256). Abzustellen ist nicht in erster Linie auf einzelne Gestaltungselemente, sondern auf den Gesamteindruck, den das Werk dem Betrachter vermittelt (OLG Hamburg, GRUR 2002, 419, 420).

Soweit postuliert wird, über technische Erwägungen (im engeren Sinne) hinaus seien auch jegliche funktional oder sachzweckbezogen determinierten Gestaltungsentscheidungen vom Urheberrechtsschutz auszuklammern (so Gutachten RW., S. 9 f., Fn. 18; Grünberger, ZUM 2020, 175, 180 f.), kann dem nicht gefolgt werden. Diese Interpretation lässt sich der Rechtsprechung des EuGH gerade nicht entnehmen. Vielmehr ist der Ausschluss vom Urheberrechtsschutz auf ausschließlich durch ihre technische Funktion bedingte Formen beschränkt (EuGH, GRUR2020, 736, 738, Rn. 33 -- Brompton Bicycle):

„Ist die Form des Erzeugnisses ausschließlich durch seine technische Funktion bedingt, wäre dieses Erzeugnis nicht nach dem Urheberrecht schutzfähig.“

Gestützt wird dieses enge Verständnis, wonach Urheberrechtsschutz lediglich dann ausgeschlossen ist, wenn ausschließlich technische Funktionen für die Gestaltung maßgeblich waren, durch den Vergleich mit der englischen und französischen Sprachfassung:

„Where the shape of the product is solely dictated by its technical function, that product cannot be covered by copyright protection.“

„Dans le cas où la forme du produit est uniquement dictée par sa fonction technique, ledit produit ne pourrait relever de la protection au titre du droit d’auteur.“

Dies entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach ein Gebrauchszweck nicht vollkommen ausgeschlossen sein, der ästhetische Gehalt noch nicht einmal überwiegen muss (vgl. Kreile, ZUM 2023, 1, 4). Die Urheberrechtsschutzfähigkeit besteht vielmehr auch bei einem überwiegenden Gebrauchszweck und kann auch etwa dann gegeben sein, wenn der ästhetische Gehalt in die ihrem Zwecke gemäß – in klarer Linienführung ohne schmückendes Beiwerk – gestaltete Gebrauchsform eingegangen ist (BGH, GRUR 2012, 58, 60, Rn. 22 – Seilzirkus). So hat auch bereits das Reichsgericht dafürgehalten, dass Schöpfungen zu praktischen Zwecken nicht vom Urheberrechtsschutz ausgeschlossen sind (RG, Urteil vom 30. Juni 1928 – I 29/28 –, RGZ 121, 357, 358). Zu den Werken der bildenden Kunst zählt jede Gestaltung, in der eine eigenpersönliche geistige Schöpfung sichtbar wird, ohne Rücksicht darauf, ob das Werk neben dem ästhetischen Zweck noch einem praktischen Gebrauchszweck dient (RGZ 124, 68, 72 – Besteckmuster). Sachzweckbezogene Erwägungen im Gestaltungsprozess stehen dem Erreichen der relevanten Schutzschwelle daher nicht entgegen. Funktionale Sachzweckbezogenheit kann technischer Bedingtheit von Gestaltungsmerkmalen nicht gleichgesetzt werden. Vom Schöpfer ausgewählten Gestaltungselementen ist in der Konsequenz auch dann der urheberrechtliche Schutz nicht zu versagen, wenn deren Auswahl von der rationellen Umsetzung einer funktionalen Zielsetzung geprägt ist. Die Entscheidung für eine bestimmte Gestaltungsmöglichkeit und der damit verbundene Ausschluss anderer Gestaltungsmöglichkeiten kann bereits eine schöpferische Leistung darstellen. Der Schöpfer besitzt nämlich die prinzipielle Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit, auch eine abweichende Gestaltung und Ausführung zu wählen. In einem solchen Fall besteht kein Zwang zu einer bestimmten Gestaltung und damit auch keine Einschränkung des Gestaltungsspielraums (vgl. Gutachten PV., S. 38). Dies gilt selbst dann, wenn mit einer abweichenden Ausführung eine Modifizierung eines selbstgewählten Gestaltungsziels verbunden wäre.

Die Aussage des EuGH, „[…] dass der Umstand, dass Modelle […] über ihren Gebrauchszweck hinaus einen eigenen, ästhetisch markanten visuellen Effekt hervorrufen, es nicht rechtfertigen [könne], solche Modelle als ,Werke` [...] einzustufen" (EuGH, GRUR 2019, 1185, Rn. 54 f. - Cofemel), kann deshalb nur so verstanden werden, dass allein das Vorhandensein besonders markanter, visueller Effekte für sich genommen die Feststellung von Originalität nicht erlaubt (vgl. Gutachten RW., S. 11). Das Konzept der Gebrauchskunst beruht vielmehr gerade darauf, dass Dinge geschaffen werden, die gleichermaßen zweckgerichtet gebrauchstauglich und künstlerisch sind. Der künstlerische Aspekt schränkt die Zweckdienlichkeit dabei nicht ein. Eine Antithese zwischen der Nützlichkeit für einen bestimmten Gebrauchszweck und ästhetischer Schönheit ist daher nicht zielführend. Denn ein Werk der Gebrauchskunst verliert diesen Charakter nicht durch seine funktionellen Eigenschaften.


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OLG Hamm: Fehlende Eintragung in Liste nach § 8b UWG bzw. § 4 UKlaG führt dazu dass Abmahnverein Antragsbefugnis im Ordnungsmittelverfahren fehlt

OLG Hamm
Beschluss vom 15.05.2023
4 W 32/22


Das OLG Hamm hat entschieden, dass die fehlende Eintragung in die Liste der zur Abmahnung befugten Verbände nach § 8b UWG bzw. § 4 UKlaG dazu führt, dass einem Abmahnverein die Antragsbefugnis im Ordnungsmittelverfahren fehlt.

Aus den Entscheidungsgründen:
Der Gläubiger ist ein Verband in der Rechtsform des eingetragenen Vereins, zu dessen Aufgaben nach seiner Satzung die Förderung der rechtlichen und wirtschaftlichen Interessen deutscher Online-Unternehmer und Online-Freiberufler und die Mitwirkung an der Herstellung eines fairen Wettbewerbs gehören. Der Gläubiger ist bis zum heutigen Tage weder in die Liste der qualifizierten Wirtschaftsverbände nach § 8b UWG noch in die Liste der qualifizierten Einrichtungen nach § 4 UKlaG eingetragen worden.

Auf Antrag des Gläubigers hatte die 5. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Essen am 12.07.2018 im Beschlusswege eine einstweilige Verfügung (Urschrift Blatt 137-172 der erstinstanzlichen Gerichtsakte) gegen die jetzige Schuldnerin erlassen, mit der das Landgericht der Schuldnerin, materiell-rechtlich gestützt auf § 8 Abs. 1 UWG, unter Androhung von Ordnungsmitteln u.a. untersagt hatte, mit einer „Garantie“ zu werben, ohne gleichzeitig nähere Angaben zum Inhalt und zur Ausgestaltung dieser Garantie zu machen. Die Schuldnerin hatte zu dieser einstweiligen Verfügung unter dem 11.09.2018 eine Abschlusserklärung (Blatt 251 der erstinstanzlichen Gerichtsakte) abgegeben.

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 11.11.2021, beim Landgericht am gleichen Tage eingegangen, beantragte der Gläubiger die Festsetzung von Ordnungsmitteln gegen die Schuldnerin. Die Schuldnerin habe am 09.11.2021 in Produktangeboten auf der Internethandelsplattform „B.“ dem vorbezeichneten Unterlassungsgebot zuwidergehandelt. Der Gläubiger legte als Beleg für diese Zuwiderhandlungen die Anlagen G4 und G5 (Blatt 193-250 der erstinstanzlichen Gerichtsakte) vor.

Mit dem angefochtenen Beschluss vom 08.04.2022, den Verfahrensbevollmächtigten des Gläubigers zugestellt am 14.04.2022, wies die 5. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Essen den Ordnungsmittelantrag zurück. Dem Gläubiger fehle die für die Durchführung des Ordnungsmittelverfahrens erforderliche Prozessführungsbefugnis.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Gläubiger mit seiner form- und fristgerecht eingelegten sofortigen Beschwerde, mit der er seinen Antrag auf Festsetzung von Ordnungsmitteln gegen die Schuldnerin weiterverfolgt.

B. Die – nach § 793 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige – sofortige Beschwerde des Gläubigers ist unbegründet. Das Landgericht hat den Ordnungsmittelantrag des Gläubigers zu Recht zurückgewiesen.

Der Antrag auf Festsetzung von Ordnungsmitteln nach § 890 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist unzulässig. Dem Gläubiger fehlt die erforderliche Antragsbefugnis.

I. Die Regelungen in § 8 Abs. 3 Nrn. 2 und 3 UWG über die Befugnis von Wirtschaftsverbänden und qualifizierten Einrichtungen zur Verfolgung von Wettbewerbsverstößen haben nach herrschender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur, der auch der erkennende Senat folgt, eine „Doppelnatur“: Sie regeln nicht nur die materiell-rechtliche Anspruchsberechtigung (Sachbefugnis oder Aktivlegitimation), sondern in verfahrensrechtlicher Hinsicht auch die Prozessführungsbefugnis für die Geltendmachung von lauterkeitsrechtlichen Ansprüchen nach § 8 Abs. 1 UWG (vgl. Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 41. Aufl. [2023], § 8 Rdnr. 3.9 m.w.N.).

II. Diese Prozessführungsbefugnis muss, soweit es – wie im vorliegenden Falle – um einen lauterkeitsrechtlichen Unterlassungsanspruch nach § 8 Abs. 1 Satz 1 UWG geht, nicht nur im Erkenntnisverfahren vorliegen, sondern auch noch bei der anschließenden Durchsetzung des titulierten Unterlassungsanspruches im Wege der Zwangsvollstreckung zum Zeitpunkt der Entscheidung über einen Antrag auf Festsetzung von Ordnungsmitteln nach § 890 Abs. 1 Satz 1 ZPO gegeben sein (im Ergebnis ebenso: Büscher/Ahrens, UWG, 2. Aufl. [2021], § 15a Rdnr. 11). Da § 890 Abs. 1 Satz 1 ZPO von einem „Antrag“ spricht, erscheint es sinnvoll, im Ordnungsmittelverfahren nicht den Begriff „Prozessführungsbefugnis“, sondern den Begriff „Antragsbefugnis“ zu verwenden.

Die Antragsbefugnis für einen Antrag auf Festsetzung von Ordnungsmitteln nach § 890 Abs. 1 Satz 1 ZPO fehlt dem Gläubiger hier spätestens seit dem Inkrafttreten der Neufassung des § 8 Abs. 3 UWG aufgrund des Gesetzes zur Stärkung des fairen Wettbewerbs vom 26.11.2020 am 01.12.2021, weil der Gläubiger bis zum heutigen Tage weder in die Liste der qualifizierten Wirtschaftsverbände nach § 8b UWG noch in die Liste der qualifizierten Einrichtungen nach § 4 UKlaG eingetragen worden ist. Gerade die Neufassung des § 8 Abs. 3 UWG durch das Gesetz zur Stärkung des fairen Wettbewerbs belegt die Richtigkeit der Auffassung, dass die Prozessführungsbefugnis (Antragsbefugnis) von Wirtschaftsverbänden und qualifizierten Einrichtungen auch noch im Ordnungsmittelverfahren fortbestehen muss: Die gegenteilige, im vorliegenden Verfahren vom Gläubiger vertretene Auffassung würde dazu führen, dass bei einer vom Gesetzgeber angeordneten Einschränkung der Prozessführungsbefugnis von Verbänden und Einrichtungen, wie sie das Gesetz zur Stärkung des fairen Wettbewerbs vorgenommen hat, von dieser Gesetzesänderung betroffene, nicht mehr abmahn-, anspruchs- und klageberechtigte Verbände und Einrichtungen noch ein kaum sinnvolles „Rest- und Schattendasein“ als „Verwalter“ alter Vollstreckungstitel führen könnten. Dies entspricht fraglos nicht der Intention des Gesetzgebers und schon gar nicht dem Gesetzeszweck des Gesetzes zur Stärkung des fairen Wettbewerbs vom 26.11.2020. Auch der Bundesgerichtshof hat bereits im Jahre 1996 in der Entscheidung „Altunterwerfung I“ (BGH, Urteil vom 26.09.1996 – I ZR 265/95 – [Altunterwerfung I], juris, Rdnr. 31 ff.) – im Hinblick auf den materiell-rechtlichen Gehalt der Bestimmungen über die Befugnis von Verbänden zur Verfolgung von Wettbewerbsverstößen – ausgeführt, dass es der Gesetzeszweck eines vom Gesetzgeber angeordneten Wegfalls der Sachbefugnis von Verbänden erfordert, dass diese Änderung der materiellen Rechtslage vom Titelschuldner im Wege einer Vollstreckungsabwehrklage nach § 767 ZPO geltend gemacht werden kann. Da die Bestimmungen über die Befugnis von Verbänden zur Verfolgung von Wettbewerbsverstößen eine Doppelnatur als sowohl materiell-rechtliche als auch prozessrechtliche Vorschriften haben, ist der Titelschuldner nicht auf die Möglichkeit der Erhebung einer Klage nach § 767 ZPO beschränkt, sondern kann – wie hier die Schuldnerin – im konkreten Ordnungsmittelverfahren die fortgefallene Antragsbefugnis des Gläubigers geltend machen.

III. Auf die Übergangsregelung in § 15a Abs. 1 UWG kann sich der Gläubiger im vorliegenden Verfahren nicht mit Erfolg berufen.

Unmittelbar gilt diese Vorschrift nur für das Erkenntnisverfahren und nicht für Verfahren im Rahmen der Zwangsvollstreckung. Auch eine etwaige entsprechende Anwendung der Regelung vermag dem Begehren des Gläubigers nicht zum Erfolg zu verhelfen, weil der Ordnungsmittelantrag erst am 11.11.2021 und damit erst nach dem in § 15a Abs. 1 UWG genannten Stichtag gestellt worden ist. Dass es nicht auf die Verhältnisse am Tag der Einleitung des vorangegangenen Erkenntnisverfahrens ankommen kann, ergibt sich aus den Ausführungen des Senats oben unter II.

Es besteht auch kein inhaltlicher Widerspruch zwischen der für das Erkenntnisverfahren geschaffenen Übergangsregelung in § 15a Abs. 1 UWG und der hier vertretenen Auffassung, dass der Titelgläubiger bei der sich an das Erkenntnisverfahren anschließenden Durchsetzung des titulierten Unterlassungsanspruches im Wege der Zwangsvollstreckung zum Zeitpunkt der Entscheidung über einen Antrag auf Festsetzung von Ordnungsmitteln nach § 890 Abs. 1 Satz 1 ZPO nach den zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften prozessführungsbefugt (antragsbefugt) sein muss. Denn die Übergangsregelung in § 15a Abs. 1 UWG dient bei sinnvoller und den Gesetzeszweck des Gesetzes zur Stärkung des fairen Wettbewerbs berücksichtigender Auslegung ersichtlich dazu, Verbänden im Sinne des § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG die Gelegenheit zu geben, während der Dauer des Erkenntnisverfahrens alles Erforderliche zu veranlassen, um den neuen gesetzlichen Anforderungen für ihr weiteres Tätigwerden – namentlich der nunmehr erforderlichen Listeneintragung – gerecht zu werden.

IV. Die von der Schuldnerin abgegebene Abschlusserklärung steht der hier getroffenen Entscheidung nicht entgegen. Ihrem Wortlaut ist lediglich zu entnehmen, dass sie dazu führen sollte, die erlassene einstweilige Verfügung einem rechtskräftigen Hauptsachetitel gleichzustellen. Dass die Schuldnerin darüber hinaus auch auf Einwendungen verzichten wollte, die sie auch einem rechtskräftigen Hauptsachetitel hätte entgegenhalten können, ist nicht ersichtlich.


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OLG Hamm: Vereinsmitglied hat regelmäßig einen Anspruch gegen Verein auf Übermittlung einer Mitgliederliste mit E-Mail-Adressen - DSGVO steht dem nicht entgegen

OLG Hamm
Urteil vom 26.04.2023
8 U 94/22


Das OLG Hamm hat entschieden, dass ein Vereinsmitglied regelmäßig einen Anspruch gegen den Verein auf Übermittlung einer Mitgliederliste mit E-Mail-Adressen der Mitglieder hat. Die DSGVO steht dem nicht entgegen.

Leitsätze des Gerichts:
1. Einem Vereinsmitglied steht ein aus dem Mitgliedschaftsverhältnis fließendes Recht gegen den Verein auf Übermittlung einer Mitgliederliste zu, die auch E-Mail-Adressen der Mitglieder enthält, soweit es ein berechtigtes Interesse hat und dem keine überwiegenden Geheimhaltungsinteressen des Vereins oder berechtigte Belange der Vereinsmitglieder entgegenstehen.

2. Ein berechtigtes Interesse an dem Erhalt der Mitgliederliste ist u. a. dann gegeben, wenn eine Kontaktaufnahme mit anderen Vereinsmitgliedern beabsichtigt ist, um eine Opposition gegen die vom Vorstand eingeschlagene Richtung der Vereinsführung zu organisieren.

3. Das Vereinsmitglied kann in dem Fall nicht auf ein vom Verein eingerichtetes Internetforum verwiesen werden; es ist auch nicht auf die Auskunftserteilung an einen Treuhänder beschränkt.

4. Der Beitritt zu einem Verein begründet die Vermutung, auch zu der damit einhergehenden Kommunikation – auch per E-Mail – bereit zu sein. Eine erhebliche Belästigung geht damit regelmäßig nicht einher, zumal jedes Vereinsmitglied sich vor dem Erhalt unerwünschter E-Mails schützen kann.

5. Die Übermittlung von Mitgliederlisten ist mit dem Datenschutz vereinbar. Sie ist von dem Erlaubnistatbestand des Art. 6 Abs. 1 lit. b) gedeckt.

Aus den Entscheidungsgründen:
Der Kläger hat seine Berufung fristgerecht eingelegt und begründet, sie ist auch im Übrigen zulässig. Die Berufung ist auch begründet, da die Klage zulässig und begründet ist. Der Kläger hat einen aus dem Mitgliedschaftsverhältnis fließenden Anspruch auf Übermittlung einer Mitgliederliste mit den Vor- und Zunamen, bei juristischen Personen deren Namen, Adressen und E-Mail-Adressen der Mitglieder.

1. Grundsatz
Der Kläger hat als Vereinsmitglied des Beklagten grundsätzlich einen aus der Mitgliedschaft fließenden Anspruch auf die begehrte Information. Ob der Anspruch auch analog § 810 BGB begründet werden kann, kann dahingestellt bleiben. § 810 BGB hat im Übrigen keinen abschließenden Charakter (s. nur MünchKommBGB/Habersack, 8. Aufl. 2020, § 810 BGB Rn. 2) und steht dem mitgliedschaftlichen Auskunftsanspruch nicht entgegen.

Nach ganz h.M. in der Literatur und in der Rechtsprechung steht einem Vereinsmitglied kraft seines Mitgliedschaftsrechts ein Recht auf Einsicht in die Bücher und Urkunden des Vereins zu, wenn und soweit es ein berechtigtes Interesse darlegen kann, dem kein überwiegendes Geheimhaltungsinteresse des Vereins oder berechtigte Belange der Vereinsmitglieder entgegenstehen; BGH, Beschluss vom 21. Juni 2010 – II ZR 219/09 –, juris Rn. 4 f.; Soergel/Hadding, BGB 13. Aufl., § 38 Rdnr. 17; MünchHdbGesR/Schöpflin, Band 5: Verein/Stiftung, 5. Aufl. 2021, § 34 Rn. 21; Reichert, Handbuch des Vereins- und Verbandsrechts, 10. Aufl., Rdnr. 1380; 7; ders., Vereins- und Verbandsrecht, 14. Aufl. 2018, Rn. 1422; Grüneberg/Ellenberger, BGB, 82. Aufl. 2023, § 38 Rdnr. 1a; MünchKommBGB/Leuschner, 9. Aufl. 2021, § 38 Rn. 23 a.E.

Sind die Informationen, die sich das Mitglied durch Einsicht in die Unterlagen des Vereins beschaffen kann, in einer Datenverarbeitungsanlage gespeichert, kann es zum Zwecke der Unterrichtung einen Ausdruck der geforderten Informationen oder auch deren Übermittlung in elektronischer Form verlangen; BGH, Beschluss vom 21. Juni 2010 – II ZR 219/09 –, juris Rn. 4; MünchKommBGB/Schäfer, 8. Aufl. 2020, § 716 Rn. 8 (zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts).

Rechtsprechung und Literatur billigen dem einzelnen Vereinsmitglied insbesondere auch einen Anspruch auf Einsicht bzw. Herausgabe der Mitgliederliste jedenfalls dann zu, wenn es ein berechtigtes Interesse geltend machen kann; BGH, Beschluss vom 21. Juni 2010 – II ZR 219/09 –, juris Rn. 5 f.; OLG Saarbrücken NZG 2008, 677 f.; OLG München, U. v. 15.11.1990 – 19 U 3483/90; vgl. auch BVerfG, B. v. 18.2.1991 – 1 BvR 185/91.

Unter welchen Voraussetzungen ein berechtigtes Interesse des einzelnen Vereinsmitglieds anzunehmen ist, Kenntnis von Namen und Anschriften der anderen Vereinsmitglieder zu erhalten, ist keiner abstrakt-generellen Klärung zugänglich, sondern auf Grund der konkreten Umstände des einzelnen Falls zu beurteilen. Ein solches Interesse ist jedenfalls gegeben, wenn es darum geht, das nach der Satzung oder nach § 37 BGB erforderliche Stimmenquorum zu erreichen, um von dem in dieser Vorschrift geregelten Minderheitenrecht, die Einberufung einer Mitgliederversammlung zu verlangen, Gebrauch zu machen; BGH, Beschluss vom 21. Juni 2010 – II ZR 219/09 –, juris Rn. 6. Als berechtigtes Interesse hat der BGH ferner anerkannt, mit der Vielzahl von Mitgliedern, von denen regelmäßig nur ein kleiner Teil an der Mitgliederversammlung teilnimmt, in Kontakt zu treten, um eine Opposition gegen die vom Vorstand eingeschlagene Richtung der Vereinsführung zu organisieren; BGH, Beschluss vom 21. Juni 2010 – II ZR 219/09 –, juris Rn. 12. Dabei müssen sich die auskunftbegehrenden Mitglieder nicht auf die Möglichkeit der Kontaktaufnahme über eine Vereinszeitschrift oder ein vom Verein eingerichtetes Internetforum verweisen lassen; BGH, Beschluss vom 21. Juni 2010 – II ZR 219/09 –, juris Rn. 13.

Das auskunftbegehrende Mitglied kann dabei die Auskunft über Mitgliederliste an einen von ihm eingeschalteten Treuhänder begehren (so im Fall BGH, Beschluss vom 21. Juni 2010 – II ZR 219/09 –, juris Rn. 12). Das auskunftbegehrende Mitglied ist indes darauf nicht beschränkt, sondern kann auch selbst Einsicht in die Mitgliederliste nehmen und Übermittlung der darin enthaltenen Informationen in elektronischer Form an sich selbst verlangen, BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2010 – II ZR 219/09 –, juris Rn. 6.

[...]

4. Vereinbarkeit mit dem Datenschutz
Die Übermittlung der Mitgliederliste mit den begehrten Daten ist auch mit der Datenschutzgrundverordnung vereinbar.

a) Anwendbarkeit der DSGVO
Die Datenschutzgrundverordnung ist auf diesen Vorgang anwendbar. Die vom Kläger begehrte Mitgliederliste enthält mit Adresse und E-Mail-Adresse Informationen, die sich auf die durch Namen identifizierten Personen beziehen, mithin personenbezogene Daten i.S.v. Art. 4 Nr. 1 DSGVO. Mit dem vom Kläger begehrten elektronischen Versand ist auch der sachliche Anwendungsbereich von Art. 2 Abs. 1 DSGVO eröffnet, da bereits mit dem Versand an den und der Speicherung beim Kläger eine automatisierte Verarbeitung i.S.v. Art. 2 Nr. 2 DSGVO verbunden ist. Der räumliche Anwendungsbereich von Art. 3 Abs. 1 und 2 DSGVO ist ebenfalls eröffnet, da der Beklagte als Verantwortlicher (Art. 4 Nr. 7 DSGVO) in Deutschland die Daten von betroffenen Personen (Art. 4 Nr. 1 DSGVO) verarbeitet (Art. 4 Nr. 2 DSGVO).

b) Erlaubnistatbestand des Art. 6 Abs. 1 lit. b) DSGVO.
Die Übermittlung der Mitgliederlisten mit den begehrten Inhalten ist aber von dem Erlaubnistatbestand des Art. 6 Abs. 1 lit. b) DSGVO gedeckt, da sie zur Erfüllung eines Vertrags, dessen Partei die betroffenen Personen sind, erforderlich ist.

aa) Grundsätze

Datenschutzrecht ist Ermöglichungsrecht, kein Verhinderungsrecht. Es ist, wie Art. 6 Abs. 1 DSGVO ausweist, akzessorisch zum jeweiligen Sachrecht und steht dem, was das Sachrecht verlangt, nicht entgegen, sondern begrenzt es nur der Teleologie des jeweiligen sachrechtlichen Bereichs folgend auf das danach Erforderliche. Für den vorliegenden Zusammenhang heißt das, das Datenschutzrecht ist in diesem Sinne zivilrechtsakzessorisch, wie auch Art. 6 Abs. 1 lit. b) und c) DSGVO ausweisen; vgl. schon BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2010 – II ZR 219/09 –, juris Rn. 6. Das, was zivilrechtlich für die Vertragserfüllung erforderlich ist, ermöglicht das Datenschutzrecht auch.

Insbesondere stellt sich im vorliegenden Fall, in dem es um die datenschutzrechtliche Beurteilung einer gesetzlichen Nebenleistungspflicht geht, nicht die umstrittene Frage der Wechselwirkung zwischen Zivilrecht und Datenschutzrecht. Sie stellt sich, wenn die Gefahr besteht, dass die Parteien einen Vertrag in bestimmter Weise gestalten, um auf dieser Grundlage die Erforderlichkeit der Datenverarbeitung für die Erfüllung (und so die Erlaubnis nach Art. 6 Abs. 1 lit. b) DSGVO) zu begründen und damit die Anforderungen an die Einwilligung nach Art. 6 Abs. 1 lit. a), 7 DSGVO zu unterlaufen; dazu grundlegend Wendehorst/Graf von Westphalen, NJW 2016, 3745 ff.; ferner BeckOK Datenschutzrecht/Albers/Veit, Art. 6 DSGVO Rn. 44. Bei der Beurteilung der teleologisch zur Erreichung des Vertragszwecks (Vereinszwecks; mitgliedschaftliche Rechte) begründeten Nebenpflichten besteht diese Gefahr von vornherein nicht.

bb) Zweck des Erlaubnistatbestands

Zulässig ist nach Art. 6 Abs. 1 lit. b) DSGVO die Verarbeitung „für die Erfüllung eines Vertrags, dessen Vertragspartei die betroffene Person ist“. Der Zweck des Erlaubnistatbestands ist es, die privatautonome Gestaltung der Beteiligten zu ermöglichen und nicht zu beschränken. Mit dem datenschutzrechtlichen Anliegen der informationellen Selbstbestimmung ist das deswegen gut vereinbar, weil die vertragliche Verpflichtung im Wege der Selbstbestimmung legitimiert ist; BeckOK Datenschutzrecht/Albers/Veit, Art. 6 DSGVO Rn. 41 („Resultate privatautonomer Entscheidungen“). Damit handelt es sich bei dem Erlaubnistatbestand systematisch um einen Unterfall der datenschutzrechtlichen Einwilligung von Art. 6 Abs. 1 lit. a) DSGVO.

cc) Vertrag i.S.d. Art. 6 Abs. 1 lit. b) DSGVO

Der Begriff des “Vertrags” ist dabei nicht zivilrechtlich auszulegen, sondern datenschutzrechtlich und unionsautonom; BeckOK Datenschutzrecht/Albers/Veit, Art. 6 DSGVO Rn. 42. Es kommt m.a.W. nicht darauf an, ob das Rechtsverhältnis, zu dessen Erfüllung die Verarbeitung erforderlich ist, ein Vertrag i.S.d. BGB ist, sondern ob das datenschutzrechtliche Telos des Erlaubnistatbestands erfüllt ist. Maßgeblich ist m.a.W., ob das Rechtsverhältnis privatautonom begründet ist und die maßgebliche Verpflichtung daher als Ausdruck der Selbstbestimmung legitimiert ist; BeckOK Datenschutzrecht/Albers/Veit, Art. 6 DSGVO Rn. 41. Daher wird zu Recht hervorgehoben, dass der Tatbestand von lit. b) „auf all jene vertragsähnlichen Konstellationen, die gleichermaßen auf willentliche Entscheidungen des von der Verarbeitung Betroffenen zurückgehen“, anzuwenden ist; BeckOK Datenschutzrecht/Albers/Veit, Art. 6 DSGVO Rn. 42.

Vereinsgründung und -beitritt begründen einen „Vertrag“ i.S.v. Art. 6 Abs. 1 lit. b) DSGVO, da es sich dabei um einen selbstbestimmt erklärten Beitritt zu einer privaten Vereinigung handelt; so i.Erg. auch Kühling/Buchner/Buchner/Petri, DSGVO BDSG, 3. Aufl. 2020, Art. 6 DSGVO Rn. 29 f.; Gola/Heckmann/Schulz, DSGVO BDSG, 3. Aufl. 2022, Art. 6 DSGVO Rn. 33. Das ist auch zivilrechtlich gut begründet. So formuliert etwa Lutter, AcP 180 (1980), 84, 97: „Die Mitgliedschaft einer Person in einem Verband ist ein Rechtsverhältnis, eine auf privatautonomer Entscheidung beruhende privatrechtliche Sonderverbindung zwischen zwei oder mehr Subjekten. Sie wird begründet durch den Organisationsvertrag der Gründung oder durch den Beitrittsvertrag des neu hinzukommenden Mitgliedes, sei es mit dem Vorstand selbst, sei es mit dem bisherigen Mitglied.“ Zudem hat auch der Vereinsbeitritt anerkanntermaßen Vertragscharakter; s. nur Neuner, Allgemeiner Teil, 13. Aufl. 2023, § 17 Rn. 80 ff. Dabei kommt es für den Vertragsbegriff von Art. 6 Abs. 1 lit. b) DSGVO nicht darauf an, dass nicht sämtliche Mitglieder – gewissermaßen netzförmig – den Beitritt von einander konsentieren (wie bei der Personengesellschaft); dazu BGH, Beschluss vom 19. November 2019 – II ZR 263/18 –, juris Rn. 27; BGH, Urteil vom 11. Januar 2011 – II ZR 187/09 –, juris Rn. 17. Es reicht aus, dass die Mitglieder jeweils im Verhältnis zum Verein als Zentralstelle – gewissermaßen sternförmig – ihr Einverständnis erklären.

dd) Erforderlichkeit zur Erfüllung

Was zur Erfüllung des Vertrags erforderlich ist, bestimmen die Rechte und Pflichten des Vertrags. Eine Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenpflichten ist dabei nicht vorzunehmen; BeckOK Datenschutzrecht/Albers/Veit, Art. 6 DSGVO Rn. 43; Ehmann/Selmayer/Heberlein, DSGVO, 2. Aufl. 2018, Art. 6 DSGVO Rn. 13; Gola/Heckmann/Schulz, DSGVO BDSG, 3. Aufl. 2022, Art. 6 DSGVO Rn. 30. Bei der Bewertung als „erforderlich“ ist dabei – anders als im Verhältnis zwischen Bürger und Staat – kein objektiver Maßstab anzulegen, sondern der von den Parteien privatautonom gewählte Interessenausgleich zugrunde zu legen. Die dabei im allgemeinen gegebene Gefahr eines Missbrauchs der privatautonomen Gestaltungsmacht besteht dabei im vorliegenden Fall nicht. Zwar beruht auch der aus dem Mitgliedschaftsverhältnis fließende Informationsanspruch auf der Grundlage des Vertrags (i.S.v. Art. 6 Abs. 1 lit. b) DSGVO; also Beitritt und Satzung). Die Informationspflichten werden jedoch als – weithin sogar zwingende – Nebenpflichten gesetzlich begründet.

Die hier begründete Pflicht des Vereins, dem Mitglied eine Mitgliederliste mit Namen, Adressen und E-Mail-Adressen zu übermitteln, ist dabei bereits im Wege der Interessenabwägung als für die Zwecke der Ausübung der Mitgliedschaftsrechte erforderlich begründet. Die Begründung beruht ja gerade darauf, dass die Mitgliedschaftsrechte ohne die Informationspflicht nicht effektiv ausgeübt werden könnten oder sogar leerliefen; BGH, Beschluss vom 19. November 2019 – II ZR 263/18 –, juris Rn. 27.

Im Rahmen der datenschutzrechtlichen Prüfung ist ergänzend auf die Grundsätze der Datenverarbeitung nach Art. 5 DSGVO Rücksicht zu nehmen. Hier sind insbesondere die Aspekte der Verarbeitung nach Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 1 lit. a) DSGVO), der Zweckbindung (lit. b) und der Datenminimierung hervorzuheben, die in der Sache auch die Parteien angesprochen haben. Da die Informationspflicht als gesetzlich begründete Nebenpflicht selbst Ausfluss von Treu und Glauben ist, wird damit lediglich ein bereits zivilrechtlich begründeter Aspekt hervorgehoben, der im Hinblick auf die Datenverarbeitung zu konkretisieren ist. Auch die Zweckbindung der Datenverarbeitung ist bereits als zivilrechtliche Nebenpflicht des Mitgliedschaftsverhältnisses begründet. Sie ergibt sich daraus, dass der Kläger die Informationen nur aus „berechtigten Interessen“ beanspruchen kann. Daraus ergibt sich zugleich eine sachlich begründete Begrenzung der Verarbeitung durch den Kläger. Als Verantwortlicher für die Datenverarbeitung darf er die Mitgliederliste nur für die Zwecke verwenden, für die er sie zunächst beanspruchen kann, hier also die Organisation einer Opposition gegen die „Politik“ des Vorstands, ggf. für die Einberufung einer außerordentlichen Mitgliederversammlung mit Minderheitenquorum. Auch die Datenminimierung ist bereits bei der zivilrechtlichen Pflichtbegründung mit berücksichtigt. Der Grundsatz darf nicht plump dahin missverstanden werden, es wäre besser, weniger Daten (etwa: nicht die E-Mail-Adressen) zu verarbeiten. Vielmehr ist auch die Datenminimierung im Hinblick auf den jeweiligen Zweck hin zu bestimmen („dem Zweck angemessen“). So ist etwa auch datenschutzrechtlich anzuerkennen, dass der Kläger die E-Mail-Adressen für eine effektive Ausübung seiner Mitgliedschaftsrechte benötigt. In der europarechtlichen Terminologie liegt darin der Gedanke des effet utile, den man auch für die Mitgliedschaftsrechte fruchtbar machen kann. Zwar könnte das Mitglied auch postalisch mit den Kon-Mitgliedern in Verbindung treten. Das würde aber die „praktische Wirksamkeit“ der Mitgliedschaftsrechte wegen der damit verbundenen prohibitiven Kosten und der in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen unangemessenen Verzögerung nicht gewährleisten.

Selbstverständlich unterliegt das Mitglied, wenn es die Mitgliederliste für seine mitgliedschaftlichen Zwecke verwendet, im Übrigen nicht nur den bereits hervorgehobenen zivilrechtlichen Beschränkungen, wie sie sich insbesondere aus § 241 Abs. 2 BGB ergeben. Er ist dabei zugleich „Verantwortlicher“ i.S.v. Art. 4 Nr. 7 DSGVO mit entsprechenden Pflichten bis hin zur (scharfen) Haftung nach Art. 82 DSGVO


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LG Traunstein: Buchungsportal haftet für per Inline-Link eingebettete Inhalte - 3-Sterne-Werbung eines Hotels ohne DEHOGA-Klassifizierung

LG Traunstein
Urteil vom 30.03.2023
1 HK O 2790/22


Das LG Traunstein hat entschieden, dass ein Buchungsportal für per Inline-Link eingebettete Inhalte haftet. Vorliegend ging es um eine wettbewerbswidrige Irreführung mit der 3-Sterne-Werbung eines Hotels ohne DEHOGA-Klassifizierung.

Aus den Entscheidungsgründen:
Die zulässsige Klage ist begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte den tenorierten Unterlassungsanspruch nach §§ 8, 3 I, 5 I, 3 III UWG iVm. Anhang Nr. 2 sowie den geltend gemachten Aufwendungsersatz in Höhe von 374,50 € (§ 13 III UWG).

I. Der Kläger kann Unterlassung der Drei – Sterne – Bewertung von der Beklagten verlangen.

Nach § 8 I UWG kann bei Wiederholungsgefahr auf Unterlassung in Anspruch genommen werden, wer eine nach § 3 UWG unzulässige geschäftliche Handlung vornimmt. Die Wiederholungsgefahr wird aufgrund des Erstverstoßes vermutet.

1. Der Kläger ist aktiv legitimiert. Die Aktivlegitimation ergibt sich aus § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG. Als eingetragener Verein ist der Verfügungskläger ein rechtsfähiger Verband; auch ist er die Liste gemäß § 8b Abs. 1 UWG eingetragen. Er dient ferner der Förderung gewerblicher oder selbständiger beruflicher Interessen. Denn zu den satzungsmäßigen Aufgaben des Klägers gehört die Förderung der gewerblichen Interessen u.a. durch Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs ggf. im Zusammenwirken mit den zuständigen Stellen der Rechtspflege.

2. Die Drei–Sterne–Werbung für das Hotel I. auf der Internetseite der Beklagten ist irreführend und verstößt gegen §§ 3 I, 5, 3 III UWG iVm. Anhang Nr. 2.

Eine geschäftliche Handlung ist irreführend, wenn sie geeignet ist, bei einem erheblichen Teil des angesprochenen Verkehrskreises irrige Vorstellungen hervorzurufen und die zu treffende Markterschließung in wettbewerbsrechtlich relevanter Weise zu beeinflussen. Dabei richtet sich die Beurteilung, ob eine Werbung irreführend ist, maßgeblich danach, wie der angesprochene Verkehr diese Werbung auf Grund ihres Gesamteindrucks versteht. In diesem Zusammenhang kommt es auf die Sichtweise eines durchschnittlich informierten und verständigen Verbrauchers an, der einer Werbung die der Situation angemessene Aufmerksamkeit entgegenbringt (BGH, U. v. 5.11.2015 – I ZR 182/14 – Durchgestrichener Preis II).

Vorliegend wird der Adressat der Werbung in der Verwendung der drei waagrecht angeordneten fünfzackigen Sterne neben der Geschäftsbezeichnung eines Hotels auf dem Portal der Beklagten die Behauptung sehen, dass diesen Sternen eine offizielle Klassifizierung einer neutralen Klassifizierungsstelle zu Grunde liegt. Da die Kammermitglieder selbst zu dem angesprochenen Adressatenkreis gehören, können sie die maßgebliche Verkehrsauffassung aus eigener Sachkunde beurteilen. Danach geht der Verkehr bei der Sternebewertung von Hotels wie bei einer Verwendung von Güte- und Qualitätszeichen davon aus, dass die Güte anhand objektiver Merkmale in Erfüllung von Mindestanforderungen bestimmt wird und dass dies durch eine neutrale unabhängige und außerhalb des gewerblichen Gewinns stehende Stelle überprüft und gewährleistet wird (Link, in: Ullmann, juris PK UWG, 3. Aufl., § 5 UWG Rdnr. 375). Entscheidend für den Verbraucher ist, dass die Sterneklassifizierung von einer neutralen unabhängigen Stelle nach objektiver Prüfung des Hotels und seiner Ausstattung erfolgt.

Das vorgenannte Hotel wird im Internetauftritt der Beklagten mit drei fünfzackigen Sternen beworben. Klickt man auf die Sternesymbole erscheint zudem der Hinweis „DEHOGA Klassifizierung“. Dies suggeriert dem Kunden, dass es sich um ein offiziell von der DEHOGA klassifiziertes Hotel handelt, dass folglich eine Drei – Sterne – Klassifizierung nach der DEHOGA, d.h. eine Einordnung in eine bestimmte Komfort Kategorie erfolgt ist.

Unstreitig existiert für das Hotel I. tatsächlich jedoch keine aktuell gültige (Drei – Sterne –) Klassifizierung nach Maßgabe der DEHOGA. Damit liegt eine Irreführung des Verkehrs zu Wettbewerbszwecken vor. Die Werbung ist unlauter.

3. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Beklagte auch Schuldnerin des Unterlassungsanspruches nach § 8 I UWG. Denn sie hat auf ihrer eigenen Internetseite vorliegend ein eigenes (Pauschal-) Angebot, nämlich das Angebot „A.“, angeboten und stellt nicht lediglich eine Plattform zur Verfügung, auf der Drittanbieter (deren) Angebote einstellen können; sie ist folglich selbst Täterin durch die Veröffentlichung eigener unlauterer Inhalte (a). Jedenfalls hat sie sich jedoch fremde Inhalte einer anderen Internetseite, nämlich des Buchungssystems T. zu eigen gemacht und muss auch deshalb für den Wettbewerbsverstoß einstehen (b).

a) Die Beklagte ist vorliegend selbst Täterin des wettbewerbswidrigen Verhaltens, weil sie das Produkt „Pauschale A.“ als ihr eigenes eigenständiges Produkt unlauter auf dem Markt auf ihrer Internetseite angeboten hat; es handelt sich soweit um eigene Inhalte.

Schuldner der in § 8 I UWG geregelten Abwehransprüche ist jeder, der durch sein Verhalten den objektiven Tatbestand einer Zuwiderhandlung selbst, durch einen anderen oder gemeinschaftlich mit einem anderen adäquat kausal verwirklicht oder sich als Teilnehmer hieran beteiligt. Hier hat die Beklagte den objektiven Tatbestand einer Zuwiderhandlung durch das Erstellen und Bewerben eines eigenen Angebots selbst verwirklicht.

Für unzulässige Internet-Werbung haftet zunächst – auch ohne Privilegierung nach den § 7 ff TMG – der Inhaber der Domain, u.u. auch derjenige der im Impressum genannt ist (Gloy/Loscheider/Dackwerts Wettbewerbsrecht, § 79 Rnr. 148). Hier handelt es sich bei der Internetseite www.h. unstreitig um die Internetseite der Beklagte; auch ist sie im Impressum als Verantwortliche genannt.

Die Beklagte war es auch, die das streitgegenständliche Angebot, das in dieser Form als Pauschale (mit Vergünstigungen) nur sie so anbietet, erstellt und in ihren eigenen Internetauftritt hineingeschrieben hat. Wie der Geschäftsführer in seiner informatorischen Anhörung ebenfalls eingeräumt hat, ist sie auch der Reiseveranstalter und der Rechnungssteller des Pauschalangebots. Damit haftet sie auch für ihr Angebot. Dass sie hierin die Angaben der Anbieter der einzelnen Komponenten, aus denen sich ihr eigenes Angebot zusammensetzt, teilweise übernommen hat, bzw. dass es teilweise nicht die „Waren der Beklagten“ sind, ändert hieran nichts. Erstellt sie ein eigenes selbstständiges Angebot, ist sie die Anbieterin und hierfür auch komplett verantwortlich. Sie ist dann auch verpflichtet, die einzelnen Komponenten zu prüfen, bevor sie sie in ihr eigenes Angebot übernimmt, jedenfalls dann wenn sie nicht ausdrücklich in ihrem Angebot klarstellt, dass das Angebot nicht komplett von ihr stammt bzw. dass bestimmte Bestandteile – und diese muss sie genau bezeichnen, hier also die Hotelübernachtung – lediglich von anderen Anbietern übernommen und in ihr eigenes Angebot integriert worden sind. Hierauf hat die Beklagte vorliegend aber nicht hingewiesen, wie ihr Geschäftsführer in der mündlichen Verhandlung ausführte. Vielmehr merke der Kunde nicht, dass er bei der Hotelsuche auf einer anderen Plattform unterwegs ist.

b) Selbst wenn man, weil nicht alle Komponenten des Angebots von der Beklagten stammen und sie nicht auf alle Bestandteile ihres Pauschalangebotes tatsächlich Einfluss hat, nicht von einem ausschließlich eigenen Inhalt der Beklagten ausgeht, für den sie komplett verantwortlich ist (s.o. unter a)), hat die Beklagte sich durch die (Inline-) Verlinkung auf das Hotelbuchungssysten T. des I. fremde Inhalte anderer Internetseiten jedenfalls zu eigen gemacht und ist auch aus diesem Grund Schuldnerin des Unterlassungsanspruchs nach § 8 I UWG.

Entgegen der Meinung der Beklagten entfällt die Verantwortlichkeit der Beklagten für die streitgegenständliche Drei – Sterne – Hotelbewertung nicht deshalb, weil die Beklagte als Diensteanbieterin nach den §§ 8 bis 10 TMG für fremde Inhalte nur eingeschränkt haftet. Ein Haftungsprivileg nach den §§ 8 – 10 TMG kommt der Beklagten nicht zu Gute. Denn zum einen handelt es sich nicht um fremde, sondern um jedenfalls zu eigen gemachte Inhalte und zum anderen sind die §§ 7 – 10 TMG nicht auf das Setzen von Links, die zu fremden Inhalten führen, anwendbar, auch nicht entsprechend. Es gelten vielmehr insoweit die allgemeinen Grundsätze des Wettbewerbsrechtes: Wer sich fremde Informationen zu eigen macht, auf die er mit Hilfe eines Links verweist, haftet dafür mithin wie für eigene Informationen (Köhler/Bornkamm/Feddersen, § 8 Rnr 2.27a; BGHZ 206, 103 Rn. 12 = GRUR 2016, 209 – Haftung für Hyperlink).

Die Beklagte kann sich daher nicht erfolgreich darauf berufen, dass sie sich der Internetseite des I. und dessen Hotelbuchungssystems T., bedient, dessen Daten wiederum von der B. in eigener Zuständigkeit und Verantwortung geprüft werden, und dass sie nicht für deren Inhalte haftet. Denn die Verlinkung auf das Suchportal des I. wird nach außen nirgends ersichtlich (s.o.). Die Inhalte erscheinen für den Marktteilnehmer bzw. Internetnutzer als eigene Informationen der Beklagten. Der Kunde merkt nicht, dass er bei der Hotelsuche auf einer anderen Plattform unterwegs ist. Die Beklagte hat sich eigene weiterführende Darstellungen zu einem Hotel als Teil ihres Pauschalangebotes erspart, indem sie den Nutzern ihrer Internetseite auf die Internetseite T. weiterleitete. Der Link dient dabei der Vervollständigung des eigenen Angebots des Beklagten und ist so in ihre eigene Internetseite eingebettet, dass er für den normalen Durchschnittsnutzer als eigene Information der Beklagten erscheint. Die Beklagte macht sich somit nach den Gesamtumständen Angebote Dritter, nämlich des I. im Wege des Inline-Linking zu eigen. Damit haftet sie aber auch selbst für die verlinkten Inhalte wie für eigene (Gloy/Loscheder/Dankwerts, Wettberbsrecht, § 79 Rnr. 150; MüKo, UWG, § 8 Rnr. 330). Anders wäre dies nur zu beurteilen, wenn die Beklagte die Verlinkung auf das nicht von ihr betriebene Buchungssystem offengelegt hätte, wie das Betreiber anderer Internetseiten durchaus praktizieren (z.B. verweisen Kinobetreiber beim Angebot von Filmtrailern teilweise ausdrücklich darauf, dass nun auf externe Inhalte weitergeleitet wird). Dadurch hätte sie klargestellt, dass es sich um fremde Inhalte handelt und sie sich diese nicht zu eigen machen will.

c) Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt es daher auf eine mögliche Haftung wegen Verletzung einer wettbewerbsrechtlichen Verkehrspflicht, die nur zur Haftung führt, wenn derjenige, der fremde Inhalte auf seiner Internetseite präsentiert, zumutbare Prüfpflichten bezüglich dieser fremder Inhalte, die erst ab Kenntniserlangung des Wettbewerbsverstoßes entstehen, verletzt hat, nicht an. Gleiches gilt für die Verletzung zumutbarer Prüfpflichten durch den Betreiber eines Online-Marktplatzes. Denn nach den Gesamtumständen handelt es sich nicht um fremde, sondern um jedenfalls sich zu eigen gemachte Inhalte der Beklagten (s.o.). Zudem ist die Beklagte kein Betreiber eines Online-Marktplatzes bei dem Drittanbieter ihre Angebote einstellen können.

d) Einer Haftung der Beklagten steht schließlich auch nicht entgegen, dass sie im Impressum ihrer Internetseite allgemein erklärt, nach § 7 TMG nur für eigene Inhalte verantwortlich zu sein und nicht verpflichtet zu sein, gespeicherte oder fremde Inhalte zu überwachen. Denn wie oben dargelegt handelte es sich nicht um fremde, sondern um eigene Inhalte der Beklagten.

Auch ist der allgemeine Hinweis im Impressum der Beklagten, dass das Angebot Links zu externen Webseiten enthält, auf deren Inhalt kein Einfluss besteht und für die keine Gewähr übernommen wird, so nicht ausreichend, um eine Haftung auszuschließen. Da durch eine solch allgemeine Klausel unklar bleibt, bei welchen Inhalten der Internetseite es sich um eigene und bei welchen es sich um verlinkte fremde Inhalte handelt, und hierauf auch keinerlei Hinweise/Einschränkungen auf der Internetseite zu finden sind, ist für den Nutzer nicht zu erkennen, für welche Inhalte die Beklagte nun ihre Haftung einschränken will und für welche nicht. Durch solche intransparenten salvatorischen Klausel kann der Diensteanbieter eine Haftung nicht ausschließen, wenn er sich nach den Gesamtumständen die fremden Informationen zu eigen macht (BGH NJW 2015, 3443). Nach den obigen Ausführungen hat sich die Beklagte nach den Gesamtumständen die fremden Inhalte jedoch gerade zu eigen gemacht.

II. Darüber hinaus hat die Klägerin Anspruch auf Aufwendungsersatz für die Abmahnkosten nach § 13 III UWG in Höhe von 374,50 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten seit dem 29.12.2022.

1. Die Abmahnung war begründet. Die Höhe der Kosten folgt aus der Rechtsprechung zu der anerkannten Pauschale für den Anspruch des Klägers auf anteiligen Ersatz der Personal- und Sachkosten (Bornkamm/Feddersen/Köhler, UWG, § 13 Rnr. 132 mit weiteren Nachweisen). Insoweit wurden die Kosten auf 350,00 € zuzüglich 7% MwSt, mithin 374,50 € geschätzt (§ 287 ZPO).


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BMDV: Entwurf der Einwilligungsverwaltungs-Verordnung (EinwVO) nach § 26 Abs. 2 TTDSG - Einwilligung zum Speichern von Informationen nach § 25 Abs.1 TTDSG

Das BMDV hat am 01.06.2023 die Beteiligung von Ländern, kommunalen Spitzenverbänden, Fachkreisen und Verbänden zum Entwurf der Einwilligungsverwaltungs-Verordnung (EinwVO) nach § 26 Abs. 2 TTDSG - Einwilligung zum Speichern von Informationen nach § 25 Abs.1 TTDSG eingeleitet.

Aus dem Entwurf:
A. Problem und Ziel § 26 Absatz 1 des Telekommunikation-Telemedien-Datenschutz-Gesetzes (TTDSG) bestimmt, dass eine zuständige unabhängige Stelle Dienste anerkennen kann, die nutzerfreundliche und wettbewerbskonforme Verfahren bereitstellen, um die nach § 25 Absatz 1 TTDSG erforderliche Einwilligung von Endnutzern zu verwalten.

Viele Anbieter von Telemedien greifen auf die Endeinrichtungen der Endnutzer zu, um hier Informationen zu speichern oder bereits gespeicherte Informationen abzurufen. Dies geschieht häufig durch den Einsatz von Cookies. Anhand der im Cookie gespeicherten Informationen kann der Webserver u. a. den Endnutzer wiedererkennen, benutzerspezifische Einstellungen wiederherstellen, Reichweitenmessungen vornehmen, Aktivitäten nachverfolgen (sog. Tracking) oder individuelle Werbung einblenden. Nach § 25 Absatz 1 TTDSG dürfen Anbieter von Telemedien nur dann Informationen in der Endeinrichtung des Endnutzers speichern oder auf dort bereits gespeicherte Informationen zugreifen, wenn der Endnutzer nach Maßgabe der Verordnung (EU) 216/679 eingewilligt hat. Eine Ausnahme vom Einwilligungserfordernis in Cookies besteht nach § 25 Absatz 2 TTDSG nur, wenn der alleinige Zweck hierfür die Durchführung der Übertragung einer Nachricht über ein öffentliches Telekommunikationsnetz ist oder ein Cookie unbedingt erforderlich ist, damit der Anbieter eines Telemediendienstes einen vom Nutzer ausdrücklich gewünschten Telemediendienst zur Verfügung stellen kann. Für das Erfordernis einer Einwilligung nach § 25 Absatz 1 TTDSG kommt es nicht darauf an, ob personenbezogene Daten verarbeitet werden. Die Möglichkeiten der Verordnung (EU) 216/679, Daten ohne Einwilligung zu verarbeiten, finden hier keine Anwendung. Deshalb müssen Anbieter von Telemedien die Endnutzer bei jeder Inanspruchnahme ihres Dienstes nach den Einwilligungen der Endnutzer in die unterschiedlichen Arten von Cookies fragen. In der Praxis erfolgt dies häufig mittels sogenannter Cookie-Einwilligungs-Banner.

Anerkannte Dienste zur Einwilligungsverwaltung sollen eine anwenderfreundliche Alternative zu der Vielzahl zu treffender Einzelentscheidungen für Endnutzer schaffen. Sie verwalten die vom Endnutzer getroffenen Entscheidungen, ob sie eine Einwilligung nach § 25 Absatz 1 TTDSG gegenüber einem Anbieter von Telemedien erteilen oder nicht, und übermitteln die Entscheidung an den Anbieter von Telemedien, wenn dieser sie nachfragt. Bekommen die Anbieter von Telemedien die Einstellungen des Endnutzers zur Einwilligung auf diese Weise übermittelt, sind sie nicht mehr auf eine eigene Abfrage der Einwilligung nach § 25 Absatz 1 TTDSG angewiesen.

§ 26 Absatz 2 TTDSG ermächtigt die Bundesregierung, durch Rechtsverordnung zu regeln:

- die Anforderungen an die Nutzerfreundlichkeit und Wettbewerbskonformität, die ein Dienst zu Einwilligungsverwaltung erfüllen muss, um anerkannt werden zu können,
- das Anerkennungsverfahren und
- die technischen und organisatorischen Maßnahmen, die Software zum Abrufen und Darstellen von Informationen aus dem Internet und Anbietern von Telemedien ergreifen können, damit diese die Einstellungen, die ein Endnutzer über einen anerkannten Dienst zur Einwilligungsverwaltung vornimmt, befolgen und sie die Einbindung des anerkannten Dienstes bei der Abfrage der Einwilligung nach § 25 TTDSG berücksichtigen.

Mit dieser Verordnung soll diese Ermächtigung umgesetzt werden.

B. Lösung
Die EinwV regelt die erforderlichen Anforderungen für nutzerfreundliche und wettbewerbskonforme Verfahren zur Verwaltung der von den Endnutzern erteilten Einwilligungen nach § 25 Absatz 1 TTDSG. Durch die Einbindung eines anerkannten Dienstes zur Einwilligungsverwaltung wird den Endnutzern ein transparentes Werkzeug zur Verfügung gestellt, durch das sie Einstellungen zur Einwilligung vornehmen, jederzeit nachvollziehen und überprüfen können. Die Anerkennung durch eine zuständige Stelle soll für die Endnutzer und Anbieter von Telemedien einen Anreiz bieten, solche Dienste zur Einwilligungsverwaltung zu nutzen und das Vertrauen in ein rechtssicheres Verfahren stärken. Für Anbieter von Telemedien bietet dieses Verfahren eine Möglichkeit, die Einwilligungen nach § 25 Absatz 1 TTDSG nutzerfreundlich zu erfragen, ohne die Inanspruchnahme ihres Dienstes durch die Einblendung eines Cookie-Einwilligungs-Banner stören zu müssen.



Volltext BGH liegt vor: Kein Anspruch auf Rückzahlung der Anzahlung an Hochzeits-Fotografin wegen coronabedingter Verlegung des Hochzeitstermins

BGH
Urteil vom 27.04.2023
VII ZR 144/22
BGB §§ 133, 157, § 275 Abs. 1, §§ 313, 648


Wir hatten bereits in dem Beitrag BGH: Kein Anspruch auf Rückzahlung der Anzahlung an Hochzeits-Fotografin wegen coronabedingter Verlegung des Hochzeitstermins über die Entscheidung berichtet.

Leitsätze des BGH:
1. Verpflichtet sich eine Fotografin zur fotografischen Begleitung einer kirchlichen Hochzeit und der sich anschließenden Feier, wird die geschuldete Leistung nicht deshalb unmöglich, weil die vom Brautpaar mit 104 Gästen geplante Hochzeit und Feier aufgrund der Beschränkungen durch eine Corona-Schutzverordnung in diesem Umfang nicht durchgeführt werden kann und deshalb verlegt wird.

2. Zu einer ergänzenden Vertragsauslegung bei pandemiebedingter Verlegung einer Hochzeit und Hochzeitsfeier.

BGH, Urteil vom 27. April 2023 - VII ZR 144/22 - LG Gießen - AG Gießen

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

OLG Frankfurt: Keine wettbewerbswidrige Irreführung wenn sich eine Gemeinschaftspraxis mit zwei Ärzten als "Zentrum" bezeichnet

OLG Frankfurt
Urteil vom 11.5.2023
6 U 4/23


Das OLG Frankfurt hat entschieden, dass keine wettbewerbswidrige Irreführung vorliegt, wenn sich eine Gemeinschaftspraxis mit zwei Ärzten als "Zentrum" bezeichnet.

Die Pressemitteilung des Gerichts:
Bezeichnung einer Gemeinschaftspraxis als "Zentrum"
Die Bezeichnung einer Arztpraxis mit zwei Ärzten als „Zentrum“ für ästhetische und plastische Chirurgie ist nicht irreführend.

Jedenfalls im medizinischen Bereich weist der Begriff „Zentrum“ nicht auf eine besondere Größe hin. Der Gesetzgeber gibt Medizinischen Versorgungszentren keine Mindestgröße vor. Die Bezeichnung einer aus zwei Ärzten bestehenden Gemeinschaftspraxis als „Zentrum“ für ästhetische plastische Chirurgie ist damit nicht irreführend und unlauter, entschied das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) mit heute veröffentlichtem Urteil.


Der Antragsteller betreibt eine Praxis für plastische Chirurgie in Darmstadt. Die beiden Antragsgegner sind Fachärzte für plastische und ästhetische Chirurgie; einer der beiden Antragsgegner ist zudem Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie. Sie betreiben eine Gemeinschaftspraxis, die sie als „Zentrum für plastische und ästhetische Chirurgie“ bezeichnen. Der Antragsteller hält diese Bezeichnung für irreführend. Das Landgericht hatte daraufhin im Eilverfahren den Antragsgegnern untersagt, Dienstleistungen eines plastischen Chirurgen, insbesondere Penisoperationen, unter diesem Namen zu bewerben oder anzubieten, wenn in dem Zentrum insgesamt lediglich zwei Ärzte beschäftigt sind.

Die hiergegen eingelegte Berufung der beiden Ärzte hatte vor dem OLG Erfolg. Die Bezeichnung der von den Antragsgegnern betriebenen Arztpraxis als „Zentrum“ für ästhetischen und plastische Chirurgie sei für den Verkehr nicht irreführend, begründete das OLG seine Entscheidung. Maßgeblich sei, wie der angesprochene Verkehr die beanstandete Werbung verstehe. Grundsätzlich erwarte der Verkehr zwar bei dem Begriff „Zentrum“ eine personelle und sachliche Struktur eines Unternehmens, die über vergleichbare Durchschnittsunternehmen hinausgehe. Jedenfalls im medizinischen Bereich weise der Begriff „Zentrum“ aber nicht (mehr) auf eine besondere Größe hin. Nach den aktuellen gesetzlichen Voraussetzungen erfordere ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) keine bestimmte Größe (§ 95 Abs. 1 S. 1 SGB V). Das früher bestehende Erfordernis einer fachübergreifenden Kooperation sei 2015 entfallen. Praxen mit zwei tätigen Ärzten hätten demnach die Möglichkeit, unter der Bezeichnung „Medizinisches Versorgungszentrum“ auf dem Markt aufzutreten. Der Verkehr sei mit der gerichtsbekannten Häufigkeit des Auftretens von MVZs auf dem Markt an diese Begrifflichkeit gewöhnt. „Das häufige Auftreten der (Versorgungs-)Zentren auf dem Markt der Versorgung mit medizinischen Dienstleistungen wirkt einem Verständnis entgegen, dass von einer überdurchschnittlichen Größe der Praxis ausgeht“, untermauert der Senat seine Einschätzung.

Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.

Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 11.5.2023, Az. 6 U 4/23

(vorgehend LG Frankfurt am Main, Urteil vom 30.11.2022, Az. 2-06 O 209/22)



EuGH-Generalanwalt: Haftung und Höhe des Schadensersatzes nach Art. 82 DGVO richten sich nicht nach dem Grad des Verschuldens des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters

EuGH-Generalanwalt
Schlussanträge vom 25.05.2023
C‑667/21


Der EuGH-Generalanwalt kommt in seinen Schlussanträgen zu dem Ergebnis, dass sich Haftung und Höhe des Schadensersatzes nach Art. 82 DGVO nicht nach dem Grad des Verschuldens des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters richten.

Ergebnis des EuGH-Generalanwalts:
Art. 9 Abs. 2 Buchst. h und Abs. 3 sowie Art. 82 Abs. 1 und 3 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung),

sind dahin auszulegen, dass

es einem Medizinischen Dienst einer Krankenkasse nicht untersagt ist, Gesundheitsdaten seines Arbeitnehmers, die Voraussetzung für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit dieses Arbeitnehmers sind, zu verarbeiten.

Sie lassen eine Ausnahme vom Verbot der Verarbeitung personenbezogener Gesundheitsdaten zu, wenn diese Verarbeitung zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers erforderlich ist; dabei sind die in Art. 5 genannten Grundsätze sowie eine der in Art. 6 der Verordnung 2016/679 genannten Bedingungen für die Rechtmäßigkeit einzuhalten.

Der Grad des Verschuldens des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters ist weder für deren Haftung noch für die Bemessung der Höhe des nach Art. 82 Abs. 1 der Verordnung 2016/679 zu ersetzenden immateriellen Schadens von Bedeutung.

Die Beteiligung der betroffenen Person an dem Umstand, aus dem sich die Verpflichtung zum Schadenersatz ergibt, kann je nach Lage des Falles zu einer Befreiung des Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiters von der Haftung gemäß Art. 82 Abs. 3 der Verordnung 2016/679 führen.

Die vollständigen Schlussanträge finden Sie hier:


BlnBDI: 300.000 EURO Bußgeld gegen Bank wegen mangelnder Transparenz bei automatisierter Ablehnung eines Kreditantrags

Die Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit (BlnBDI) hat ein Bußgeld in Höhe von 300.000 EURO gegen eine Bank wegen mangelnder Transparenz bei der automatisierter Ablehnung eines Kreditantrags verhängt.

Die Pressemitteilung der BlnBDI:
300.000 Euro Bußgeld gegen Bank nach mangelnder Transparenz über automatisierte Ablehnung eines Kreditkartenantrags - Computer sagt Nein

Die Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit (BlnBDI) hat gegen eine Bank ein Bußgeld in Höhe von 300.000 Euro wegen mangelnder Transparenz über eine automatisierte Einzelentscheidung verhängt. Die Bank hatte sich geweigert, einem Kunden nachvollziehbare Auskünfte über die Gründe der automatisierten Ablehnung eines Kreditkartenantrags zu erteilen. Das Unternehmen hat umfassend mit der BlnBDI kooperiert und den Bußgeldbescheid akzeptiert.

Eine automatisierte Entscheidung ist eine Entscheidung, die ein IT-System ausschließlich auf Grundlage von Algorithmen und ohne menschliches Eingreifen trifft. Für diesen Fall sieht die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) spezielle Transparenzpflichten vor. So müssen personenbezogenen Daten in einer für die betroffenen Personen nachvollziehbaren Weise verarbeitet werden. Betroffene Personen haben einen Anspruch auf Erläuterung der nach einer entsprechenden Bewertung getroffenen Entscheidung. Beantragen betroffene Personen bei den Verantwortlichen eine Auskunft, müssen diese aussagekräftige Informationen über die involvierte Logik hinter der automatisierten Entscheidung erteilen.

In diesem Fall beherzigte die Bank dies jedoch bei ihrem digitalen Antrag für eine Kreditkarte nicht. Über ein Online-Formular fragte die Bank verschiedene Daten über Einkommen, Beruf und Personalien des Antragstellers ab. Anhand der abgefragten Informationen und zusätzlicher Daten aus externen Quellen lehnte der Bank-Algorithmus den Antrag des Kunden ohne besondere Begründung ab. Der Algorithmus basiert auf zuvor von der Bank definierten Kriterien und Regeln.

Da der Kunde einen guten Schufa-Score und ein regelmäßiges hohes Einkommen hatte, bezweifelte er die automatisierte Ablehnung. Die Bank machte auch auf Nachfrage lediglich pauschale und vom Einzelfall gelöste Angaben zum Scoring-Verfahren. Sie weigerte sich jedoch, ihm mitzuteilen, warum sie in seinem Fall von einer schlechten Bonität ausging. Der Beschwerdeführer konnte somit nicht nachvollziehen, welche Datenbasis und Faktoren der Ablehnung zugrunde lagen und anhand welcher Kriterien sein Kreditkartenantrag dementsprechend abgelehnt worden ist. Ohne diese Einzelfallbegründung war es ihm aber auch nicht möglich, die automatisierte Einzelentscheidung sinnvoll anzufechten. Daraufhin beschwerte er sich bei der Datenschutzbeauftragten.

Meike Kamp, Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit: „Wenn Unternehmen automatisiert Entscheidungen treffen, sind sie verpflichtet, diese stichhaltig und nachvollziehbar zu begründen. Die Betroffenen müssen in der Lage sein, die automatisierte Entscheidung nachzuvollziehen. Dass die Bank in diesem Fall auch auf Anfrage nicht transparent und nachvollziehbar über die automatisierte Ablehnung informiert hat, hat ein Bußgeld zur Folge. Eine Bank ist verpflichtet, die Kund:innen bei der automatisierten Entscheidung über einen Kreditkartenantrag über die tragenden Gründe einer Ablehnung zu unterrichten. Hierzu zählen konkrete Informationen zur Datenbasis und den Entscheidungsfaktoren sowie die Kriterien für die Ablehnung im Einzelfall.“

Die Datenschutzbeauftragte hat festgestellt, dass die Bank in dem konkreten Fall gegen Art. 22 Abs. 3, Art. 5 Abs. 1 lit. a und Art. 15 Abs. 1 lit. h DSGVO verstoßen hat. Bei der Bußgeldzumessung berücksichtigte die BlnBDI insbesondere den hohen Umsatz der Bank sowie die vorsätzliche Ausgestaltung des Antragsprozesses und der Auskunft. Als bußgeldmindernd wurde u. a. eingestuft, dass das Unternehmen den Verstoß eingeräumt sowie Änderungen an den Prozessen bereits umgesetzt und weitere Verbesserungen angekündigt hat.



OLG Schleswig-Holstein: YouTube darf hochgeladene Videos auch gegen den Willen des Erstellers nach Maßgabe der Nutzungsbedingungen mit einer Altersbeschränkung versehen

OLG Schleswig-Holstein
Beschluss vom 14.12.2022
9 U 123/22


Das OLG Schleswig-Holstein hat in einem Hinweisbeschluss ausgeführt, dass YouTube hochgeladene Videos auch gegen den Willen des Erstellers nach Maßgabe der Nutzungsbedingungen mit einer Altersbeschränkung versehen darf.

Aus den Gründen:
1. Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte ergibt sich aus Art. 7 Nr. 1 Buchst. a, Art. 17 Abs. 1 Buchst. c, Art. 18 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO). Die Klage eines Verbrauchers kann gegenüber der anderen Vertragspartei, die ihre Tätigkeit auf den Mitgliedsstaat der Europäischen Union, in dem der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, ausrichtet, nach Art. 18 Abs. 1 EuGVVO vor dem Gericht seines Wohnsitzes erhoben werden. So liegt es hier.

2. Die Klage ist - soweit sie mit der Berufung weiterverfolgt wird - unbegründet.

Die am 23. Juni 2020 durch die Beklagte verhängte Altersbeschränkung ist nicht rechts- oder vertragswidrig.

a) Auf den zwischen den Parteien bestehenden Vertrag über die Nutzung der Videoplattform der Beklagten findet gemäß Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I-VO) aufgrund der in den Nutzungsbedingungen getroffenen Rechtswahl deutsches Recht Anwendung (vgl. Seite 10 der Anlage K1, Stichwort „Anwendbares Recht“). Dessen Anwendbarkeit ergäbe sich im Übrigen auch ohne Rechtswahl der Parteien aus Art. 6 Abs. 1 Buchst. b Rom I-VO, weil es sich um einen Verbrauchervertrag handelt.

b) Mit der Einrichtung einer Altersbeschränkung für das streitgegenständliche Video hat die Beklagte ihre vertraglichen Pflichten gegenüber dem Kläger nicht verletzt. Die in den Nutzungsbedingungen vorgesehene Möglichkeit der Auferlegung einer Altersbeschränkung ist auch wirksam zwischen den Parteien vereinbart worden und verstößt insbesondere weder inhaltlich noch im Hinblick auf das für die Auferlegung vorgesehene Verfahren gegen § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB (aa). Die Beklagte hat die Altersbeschränkung auf die Richtlinie zu gewalttätigen oder grausamen Inhalten und die Richtlinie zu Hassrede stützen können, weil der klägerische Beitrag Gewaltszenen und Straßenkämpfe zeigt, die auf minderjährige Zuschauer, insbesondere im Zusammenhang mit dem kommentierenden Inhalt, eine jugendgefährdende Wirkung haben können. Damit ist die von der Beklagten getroffene Entscheidung sachlich begründet und nachvollziehbar (bb).

aa) Der Vertrag zwischen Nutzer und Plattformbetreiber verpflichtet gemäß § 241 Abs. 2 BGB seinem Inhalt nach beide Vertragsparteien zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils. Insoweit kann ein Betreiber eines sozialen Netzwerks grundsätzlich die von den Nutzern geschuldeten Pflichten durch das Aufstellen von Verhaltensregeln konkretisieren und deren Verletzung auch etwa durch eine Sperrung des Nutzerkontos durchsetzen (OLG Schleswig, Urteil vom 26. Februar 2020 - 9 U 125/19, juris Rn. 41; OLG München, Beschluss vom 17. September 2018 - 18 W 1383/18, juris Rn. 20).

Bei den Nutzungsbedingungen und Richtlinien der Beklagten handelt es sich um vorformulierte Vertragsbedingungen und damit um Allgemeine Geschäftsbedingungen im Sinne der §§ 305 ff. BGB (BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 – III ZR 192/20, juris Rn. 44), die dem Vertragsverhältnis zugrunde liegen. Anhaltspunkte dafür, dass ihre Geltung zwischen den Parteien nicht wirksam vereinbart worden wäre, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich (vgl. dazu BGH, aaO, Rn. 43 mwN). Danach ist die Beklagte berechtigt, bei Vorliegen der von ihr aufgestellten Bedingungen von Nutzern eingestellte Inhalte zu entfernen, Nutzerkonten zu sperren oder - wie vorliegend - einzelne Videobeiträge mit einer Altersbeschränkung zu belegen.

Die vereinbarten Richtlinien sind auch nicht wegen Verstoßes gegen § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam.

(1) Für einen interessengerechten Ausgleich der kollidierenden Grundrechtspositionen und damit die Wahrung der Angemessenheit im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB ist es verfahrensrechtlich erforderlich, dass sich die Beklagte in ihren Geschäftsbedingungen dazu verpflichtet, den betreffenden Nutzer über die Entfernung eines Beitrags umgehend zu informieren, ihm den Grund dafür mitzuteilen und eine Möglichkeit zur Gegenäußerung einzuräumen, an die sich eine Neubescheidung anschließt, mit der die Möglichkeit der Wiederzugänglichmachung des entfernten Beitrags einhergeht (BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 - III ZR 192/20, juris Rn. 97). Diese Voraussetzungen sind vorliegend auch für die gegenüber einer Entfernung von Inhalten oder einer Sperrung des Kontos deutlich weniger belastende Maßnahme einer Altersbeschränkung gewahrt, da auch insoweit eine Beschwerdemöglichkeit eingeräumt ist, von der der Kläger ausweislich der landgerichtlichen Feststellungen unstreitig - wenn auch erfolglos - Gebrauch gemacht hat. Entgegen der Auffassung des Klägers muss die Anhörungsmöglichkeit nicht zwingend vor Erlass der beschränkenden Maßnahme eröffnet sein; vielmehr genügt auch ein nachträgliches Beschwerderecht den Anforderungen an das vom Bundesgerichtshof geforderte Gegenäußerungsverfahren (BGH aaO, Rn. 99). Ausreichend ist danach, wenn Netzwerkbetreiber im Hinblick auf die Löschung eines Beitrags in ihren Geschäftsbedingungen den Nutzern ein Recht auf unverzügliche nachträgliche Benachrichtigung, Begründung und Gegendarstellung mit anschließender Neubescheidung einräumen. Dieser für die Löschung eines Beitrags aufgestellte Maßstab gilt damit erst recht für die weniger einschränkende Auferlegung einer Altersbeschränkung. Im vorliegenden Fall zeigt der Umstand, dass die Beklagte die zunächst von ihr erteilte Verwarnung wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Hassrede auf die Beschwerde des Klägers wieder aufgehoben hat und lediglich die mildere Maßnahme einer Altersbeschränkung bestehen ließ, dass die von ihr vorgesehene Beschwerdemöglichkeit auch tatsächlich zu der vom Bundesgerichtshof geforderten erneuten Sachprüfung des konkreten Falls geführt hat.

(2) Auch inhaltlich sind die von der Beklagten für die Beschränkung der Rechte ihrer Nutzer aufgestellten Maßstäbe nicht als unangemessen im Sinne des § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB zu beanstanden. Die Entscheidung der Beklagten, den Nutzern ihrer Videoplattform in Geschäftsbedingungen Verhaltensregeln zur Einhaltung eines bestimmten Standards vorzugeben und sich das Recht vorzubehalten, gegenüber Nutzern, die gegen diese Verhaltensregeln verstoßen, Maßnahmen von der Entfernung einzelner Beiträge oder Altersbeschränkungen bis zur (vorübergehenden) Sperrung des Netzwerkzugangs zu ergreifen, fällt in den Schutzbereich der Berufsausübungsfreiheit (BGH aaO, Rn. 83). Darüber hinaus bringt die Beklagte durch das Aufstellen von Kommunikationsregeln in ihren Nutzungsbedingungen zum Ausdruck, welche Formen der Meinungsäußerung sie in ihrem Netzwerk nicht duldet. Auf diese Weise macht sie von ihrem eigenen Grundrecht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch (BGH aaO Rn. 86). Ferner schützt sie damit berechtigterweise auch das Interesse anderer Nutzer an einem von gegenseitigem Respekt geprägten Umgang sowie an einem damit verbundenen Schutz vor der Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts (BGH aaO, Rn. 87 mwN).

Dabei sind nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz die Grundrechtspositionen der Beklagten mit denjenigen der Nutzer auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG und auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG so in Ausgleich zu bringen, dass auch die Grundrechtspositionen der Nutzer für diese möglichst weitgehend wirksam werden. Daraus leitet sich nach dem Bundesgerichtshof neben dem bereits erörterten formalen Anhörungserfordernis die Anforderung ab, dass für die Entfernung von Inhalten ein sachlicher Grund bestehen muss. Die Beklagte darf die aus ihrer strukturellen Überlegenheit folgende Entscheidungsmacht nicht dazu nutzen, willkürlich einzelne Meinungsäußerungen zu untersagen (BGH aaO, Rn. 93 mwN). Die Entfernungsvorbehalte in den Nutzungsbedingungen der Beklagten müssen zudem gewährleisten, dass ihre darauf gestützten Entscheidungen nachvollziehbar sind. Dazu dürfen sie nicht an bloß subjektive Einschätzungen oder Befürchtungen der Beklagten, sondern müssen an objektive, überprüfbare Tatbestände anknüpfen (vgl. BGH, Urteil vom 30. Oktober 2009 - V ZR 253/08, juris Rn. 17).

Die von der Beklagten aufgestellten Nutzungsbedingungen und Richtlinien genügen diesen Anforderungen. So nennt die „Community Richtlinie“ unter der Überschrift „Richtlinien und Sicherheit“ (Anlage K2 im Anlagenband Kläger) zunächst abstrakt die von der Beklagten nicht gestatteten Inhalte, wie beispielsweise Nacktheit oder sexuelle Inhalte, schädliche oder gefährliche, hasserfüllte, gewalttätige oder grausame Inhalte. Diese Unterpunkte enthalten jeweils Links zu genaueren Erläuterungen in den spezifischen Richtlinien, die konkrete Beispiele unzulässiger Inhalte enthalten und untereinander verlinkt sind. Damit erhält der Nutzer klare Informationen dazu, welche Inhalte von der Beklagten nicht geduldet werden. Es wird zudem deutlich, dass die Beklagte ihre Verbote nicht auf strafrechtlich relevante Inhalte beschränkt, sondern sich vorbehält, auch andere, von der Meinungsfreiheit der Nutzer gedeckte Inhalte, die gegen ihre Nutzungsbedingungen verstoßen, zu unterbinden. Dies ist nach nunmehr obergerichtlich geklärter Rechtsprechung zulässig (BGH, Urteil vom 29. Juli 2021 - III ZR 192/20, juris Rn. 90; vgl. dazu auch Friehe, NJW 2020, 1697, 1699f.).

bb) Die in der Auferlegung der Altersbeschränkung liegende Beeinträchtigung der Meinungsäußerungsfreiheit des Klägers ist von diesem hinzunehmen, da die Beklagte mit dieser Maßnahme zulässigerweise von ihren vertraglich vereinbarten Rechten Gebrauch gemacht hat. Die Beklagte hat vorliegend bei der Auferlegung einer Altersbeschränkung für das streitgegenständliche Video die dargestellten Anforderungen an eine zulässige Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit des Klägers eingehalten. Weder ist die Maßnahme willkürlich noch fehlt es an einem sachlichen Grund für die Altersbeschränkung. Vielmehr ergibt sich eine jugendgefährdende Wirkung des Videos aus der Gesamtschau von dessen Inhalt, namentlich den gezeigten Bildern und dem gesprochenen Kommentar, wobei die erstinstanzlich eingehend behandelte Gewaltszene nur einer von mehreren Aspekten ist, die die Auferlegung einer Altersbeschränkung rechtfertigen. So ist der Titel des Videos „Partyszene - Schande von Stuttgart“ geeignet, gerade das Interesse minderjähriger Nutzer zu erwecken. Diese werden durch die harmlose, vor idyllischen Landschaftsbildern abgehandelte Eingangssequenz einer Charakterisierung verschiedener „Partygängertypen“ mit der Einleitung „wie sich die Zeiten ändern...“, heute würden Partygänger als drogendealende Vandalen dargestellt, die Polizisten attackierten und die ganze Stadt verwüsteten, weiter geködert. Sodann leitet der Sprecher auf reißerische Art (Einblendung einer Fratze mit Trompetenfanfare und der Ankündigung „Die Wahrheit“) zu den Schilderungen der Ausschreitungen in Stuttgart im Juni 2020 über. Die dann folgenden Einblendungen von Bildern anderer Nachrichtensender, auf denen Polizeigruppen in der Innenstadt, Zerstörungen und die Aufnahme der in einen Polizisten seitlich hineinspringenden, maskierten Person zu sehen sind, münden in eine Kommentierung des Geschehens, die für die Vorkommnisse im Ergebnis Menschen mit Migrationshintergrund verantwortlich macht, die aufgrund von „purem Hass auf unser Land“ als „bildungsschwache, kulturfremde, marodierende Horden (...) in Großstädten randalieren“. Dies sei erst der Anfang, wenn sie merken würden, was alles möglich sei, werde es erst richtig losgehen. Grund hierfür sei die Massenmigration; die Deutschen müssten aufwachen und Widerstand gegen den drohenden Untergang leisten. Es sei ein „hartes Durchgreifen“ erforderlich. So hätten in den 1920er Jahren die Polizisten in ähnlichen Situationen noch kein Problem damit gehabt, scharf zu schießen, was heute undenkbar sei.

Insgesamt ist der Videoinhalt damit geeignet, bei minderjährigen Zuschauern eine schädliche und damit jugendgefährdende Wirkung hervorzurufen, indem er ein Feindbild schafft und rassistische Vorurteile weckt. Die Gewaltszene, die unmittelbar mit angeblichen Aggressionen von Männern mit Migrationshintergrund und der „Massenmigration“ in Verbindung gebracht wird, ist in diesem Zusammenhang auch geeignet, gerade suggestible minderjährige Betrachter zu schockieren und Ängste über die nachfolgend dargestellte Gefährdung der Gesellschaft durch „marodierende Horden“ hervorzurufen. Darüber hinaus entsprechen die Äußerungen in dem Video auch den in der Richtlinie zu Hassrede genannten Beispielen für unzulässige Inhalte. Diese verbieten Äußerungen des Inhalts, dass alle Personen aus näher bezeichneten Gruppen, wie etwa Personen mit Einwanderungsstatus, Verbrecher und Kriminelle seien und unsere Existenz bedrohten, weshalb jede Gelegenheit genutzt werden sollte, sie aus dem Land zu vertreiben. Auch wenn der Videobeitrag nicht aktiv zur Vertreibung von Menschen mit Einwanderungsstatus aufruft, schürt er Abneigung gegen diese Bevölkerungsgruppen, die pauschal als drogendealende Gewalttäter dargestellt werden, legt zudem nahe, dass der Einsatz von Schusswaffen zur Verteidigung gegen die „marodierenden Horden“ geboten sei und ruft zum Widerstand auf. Damit entsprechen die Äußerungen den von der Beklagten genannten Beispielen für Hassrede im Sinne der Richtlinien. Die Beklagte behält sich in der Richtlinie zu Hassrede vor, für den Fall, dass Inhalte der Hassrede nahe kommen, die verfügbaren YouTube-Funktionen einzuschränken. Die Verhängung der Altersbeschränkung lag damit als gegenüber der Entfernung des Videos milderem Mittel jedenfalls im Rahmen der vertraglichen Vereinbarung zu unzulässigen Inhalten.

(dd) Dabei ist es unschädlich, dass die von der Beklagten gegebene Begründung für die Verhängung der Altersbeschränkung als solche nicht ausreicht, um diese zu rechtfertigen. Denn die dargestellten Gründe für deren Rechtmäßigkeit ergeben sich jedenfalls aus der Zusammenschau der Richtlinien der Beklagten zu Hassrede und zu gewalttätigen oder grausamen Inhalten und dem Jugendschutz, dem sich die Beklagte ausweislich ihrer Community-Richtlinie (Anlage K2, Stichwort „Schutz von Kindern“) verpflichtet sieht, so dass die Maßnahme von den vertraglichen Vorgaben der Beklagten gedeckt ist.

3. Da die Altersbeschränkung somit rechtmäßig war und nicht gegen die wirksam vereinbarten Nutzungsbedingungen verstößt, unterliegt der Kläger auch mit seinen weiteren Berufungsanträgen.

III. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für das erstinstanzliche Verfahren auf 7.050 € und für das Berufungsverfahren auf 4.250 € festzusetzen. Dies geschieht unter Anwendung der Maßstäbe, die der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung für Klagen gegen die vorübergehende Sperrung eines Nutzerkontos auf der Plattform „Facebook“ nebst in die Zukunft gerichtetem Unterlassungsbegehren und Auskunftsanspruch in Bezug auf die meldende Person entwickelt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2020 - III ZR 60/20, juris Rn. 10ff.; Beschluss vom 26. November 2020 - III ZR 124/20, juris Rn. 9ff.).

Für Klagen auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer vorübergehenden (30tägigen) Sperre setzt der Bundesgerichtshof regelmäßig 2.500 € (abzüglich 20 % für den Feststellungsantrag) an. Diesen Betrag erachtet der Senat für die hier streitige Auferlegung einer Altersbeschränkung, die zwar eine im Vergleich zu einer Sperre weniger einschneidende Wirkung hat, jedoch nach wie vor andauert, ebenfalls als angemessen. Dabei verkennt der Senat nicht, dass es sich vorliegend um ein Video auf der Plattform Youtube handelt und nicht, wie in den vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fällen, um ein Nutzerkonto bei Facebook. Dennoch dürfte der Streitwert vergleichbar sein, da beide Plattformen der Kommunikation mit einer großen Anzahl zumeist unbekannter weiterer Nutzer dienen. Entgegen der Auffassung des Klägers ist nicht der Aufwand, der für die Erstellung des gesperrten Kontos oder der gelöschten bzw. altersbeschränkten Videos betrieben wurde, der streitwertrelevante Eingriff, sondern die Beschränkung der Möglichkeiten zur Meinungsäußerung, sei es in Form von Kommentaren oder Videos. Zudem hat der Senat bei der Wertbemessung berücksichtigt, dass die Auferlegung einer Altersbeschränkung für ein einzelnes Video einen deutlich geringeren Eingriff darstellt als die 30tägige Sperrung eines Nutzerkontos.

Den weiteren Antrag, eine Altersbeschränkung auch für die Zukunft zu unterlassen, bewertet der Senat in Übereinstimmung mit dem Bundesgerichtshof mit der Hälfte des für die bereits durchgeführte Beschränkung angesetzten Werts, mithin 1.250 €. Hinzu kommt ein Betrag von 500 € für den geltend gemachten Auskunftsanspruch, der sich nach dem - nicht weiter dargelegten - wirtschaftlichen Interesse des Klägers an der Auskunft bemisst.

Erstinstanzlich sind der mit 350 € bezifferte Schadensersatzanspruch und ein Betrag von 2.500 € hinzuzuaddieren. Letzterer betrifft die auf Beseitigung der vermeintlich bereits verhängten Sanktionen (Verwarnung und Vermerk eines Verstoßes gegen die Nutzungsbedingungen) gerichteten ursprünglichen Klageanträge zu 1 und 2. Erstinstanzlich ergibt sich hieraus ein Wert von 7.050 €, so dass die durch das Landgericht mit lediglich pauschaler Begründung vorgenommene Festsetzung gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG von Amts wegen zu ändern sein dürfte.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

EuG: Facebook / Meta Platforms Ireland muss EU-Kommission anhand von Suchbegriffen zu identifizierende Dokumente zur Verfügung stellen

EuG
Urteil vom 24.05.2023
T-451/20
Meta Platforms Ireland / Kommission


Das EuG hat entschieden, dass Facebook / Meta Platforms Ireland der EU-Kommission anhand von Suchbegriffen zu identifizierende Dokumente zur Verfügung stellen muss.

Die Pressemitteilung des EuG
Wettbewerb: Die Klage von Meta Platforms Ireland (Facebook-Konzern) gegen eine Aufforderung der Kommission zur Übermittlung von Dokumenten, die anhand von Suchbegriffen zu identifizieren sind, wird abgewiesen

Nach den Feststellungen des Gerichts hat Meta Platforms Ireland nicht nachweisen können, dass die Aufforderung zur Übermittlung von Dokumenten, die anhand von Suchbegriffen zu identifizieren sind, über das Erforderliche hinausging und dass der Schutz sensibler personenbezogener Daten durch die Einrichtung eines virtuellen Datenraums nicht hinreichend gewährleistet wurde

Da die Europäische Kommission den Verdacht hegte, dass der Facebook-Konzern bei seiner Verwendung von Daten und beim Betreiben seines sozialen Netzwerks wettbewerbswidrig handelte, richtete sie mit Beschluss vom 4. Mai 20201 ein Auskunftsverlangen an die Meta Platforms Ireland Ltd, vormals Facebook Ireland Ltd. Dieser nach Art. 18 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/20032 ergangene Beschluss verpflichtete Meta Platforms Ireland dazu, alle Dokumente, die von drei ihrer Verantwortlichen im maßgeblichen Zeitraum erstellt oder empfangen worden waren und einen oder mehrere der in den Anhängen des Beschlusses genannten Suchbegriffe enthielten, an die Kommission zu übermitteln. Für den Fall der unterlassenen Erteilung der verlangten Auskünfte wurde im Beschluss ein Zwangsgeld in Höhe von 8 Mio. Euro pro Tag angedroht.

Der Beschluss vom 4. Mai 2020 trat an die Stelle eines ähnlichen früheren Beschlusses, in dem weiter gefasste Suchkriterien vorgesehen waren. Durch den neuen Beschluss, der nach einem Austausch zwischen der Kommission und Meta Platforms Ireland erging, wurde die Anzahl der verlangten Dokumente verringert, indem die Suchbegriffe verfeinert und der Kreis der betroffenen Verantwortlichen begrenzt wurde.

Am 15. Juli 2020 erhob Meta Platforms Ireland eine Nichtigkeitsklage gegen den Beschluss vom 4. Mai 2020 und stellte einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz.

Mit einem im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergangenen Beschluss ordnete der Präsident des Gerichts die Aussetzung der Vollziehung des Beschlusses vom 4. Mai 2020 an, und zwar bis zur Einrichtung eines speziellen Verfahrens für die Vorlage derjenigen der verlangten Dokumente, die keinen Bezug zur Geschäftstätigkeit von Meta Platforms Ireland aufweisen und darüber hinaus sensible personenbezogene Daten enthalten. Um diesem Beschluss Folge zu leisten, erließ die Kommission einen Änderungsbeschluss5, der vorsieht, dass die fraglichen Dokumente erst zu den Untersuchungsakten genommen werden dürfen, nachdem sie in einem virtuellen Datenraum nach den Modalitäten, die in dem im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergangenen Beschluss dargelegt werden, geprüft wurden.

Nachdem Meta Platforms Ireland ihre Klageschrift angepasst hat, um diesem Änderungsbeschluss Rechnung zu tragen, weist die Fünfte erweiterte Kammer des Gerichts ihre Klage in vollem Umfang ab. In diesem Zusammenhang prüft das Gericht zum ersten Mal die Rechtmäßigkeit eines mit Suchbegriffen verknüpften Auskunftsverlangens im Sinne der Verordnung Nr. 1/2003 sowie die Rechtmäßigkeit eines Verfahrens, das für die Bearbeitung von Dokumenten mit sensiblen personenbezogenen Daten einen virtuellen Datenraum vorsieht.

Würdigung durch das Gericht

Zur Stützung ihrer Nichtigkeitsklage machte Meta Platforms Ireland u. a. geltend, die Anwendung der im Auskunftsverlangen genannten Suchbegriffe führe unweigerlich dazu, dass zahlreiche Dokumente zusammenzutragen seien, die für die von der Kommission durchgeführte Untersuchung unerheblich seien, was dem in Art. 18 der Verordnung Nr. 1/2003 niedergelegten Grundsatz der Erforderlichkeit zuwiderlaufe.

Insoweit erinnert das Gericht daran, dass die Kommission gemäß Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003, um die Einhaltung des Wettbewerbsrechts der Union zu kontrollieren, durch einfaches Auskunftsverlangen oder durch Beschluss von Unternehmen verlangen kann, dass sie „alle erforderlichen Auskünfte“ erteilen. Daraus folgt, dass die Kommission nur Auskünfte verlangen kann, die sie voraussichtlich in die Lage versetzen, die mutmaßlichen Zuwiderhandlungen zu prüfen, deretwegen sie ihre Untersuchung durchführt. In Anbetracht der weiten Ermittlungsbefugnisse, die die Verordnung Nr. 1/2003 der Kommission einräumt, ist diese Voraussetzung der Erforderlichkeit erfüllt, wenn die Kommission zum Zeitpunkt des Auskunftsverlangens vernünftigerweise annehmen kann, dass die Auskünfte ihr dabei helfen können, festzustellen, ob ein Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln vorliegt.

Zur Stützung ihrer Rügen, mit denen sie die Einhaltung des Grundsatzes der Erforderlichkeit in Frage stellte, beanstandete Meta Platforms Ireland bestimmte im Auskunftsverlangen genannte Suchbegriffe, wobei sie darauf hinwies, dass diese spezifischen Beanstandungen als nicht abschließende Beispiele zu verstehen seien, die dazu dienten, ihre allgemeinere Argumentationslinie zu illustrieren. Ihrer Auffassung nach wäre es unangebracht, wenn nicht gar unmöglich gewesen, auf jeden einzelnen Suchbegriff separat einzugehen.

Diese Sichtweise wird jedoch vom Gericht zurückgewiesen. Seiner Auffassung nach ist eine globale Prüfung der Frage, ob der in Art. 18 der Verordnung Nr. 1/2003 niedergelegte Grundsatz der Erforderlichkeit eingehalten wird, im vorliegenden Fall nicht angezeigt, falls überhaupt möglich. Der Umstand, dass bestimmte Suchbegriffe, wie von Meta Platforms Ireland geltend gemacht, womöglich zu vage sind, ändert nämlich nichts daran, dass andere Suchbegriffe hinreichend genau oder zielgerichtet sein können, um die Feststellung zu erlauben, dass sie der Kommission dabei helfen können, zu ermitteln, ob ein Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln vorliegt.

In Anbetracht der für Handlungen der Unionsorgane geltenden Vermutung der Rechtmäßigkeit befindet das Gericht daher, dass allein die von Meta Platforms Ireland konkret beanstandeten Suchbegriffe darauf geprüft werden können, ob sie dem Grundsatz der Erforderlichkeit entsprechen. Bei den übrigen Suchbegriffen muss hingegen davon ausgegangen werden, dass sie im Einklang mit diesem Grundsatz festgelegt worden sind.

Nach dem Hinweis, dass die erstmals im Stadium der Erwiderung vorgebrachten Argumente bezüglich der Suchbegriffe unzulässig sind, prüft das Gericht allein die von der Klageschrift erfassten Suchbegriffe. Insoweit stellt es fest, dass Meta Platforms Ireland nicht hat nachweisen können, dass diese Begriffe dem Grundsatz der Erforderlichkeit zuwiderlaufen. Daher weist das Gericht die verschiedenen in dieser Hinsicht vorgebrachten Argumente als unbegründet zurück.

Im Rahmen ihrer Nichtigkeitsklage machte Meta Platforms Ireland außerdem geltend, dass der Beschluss vom 4. Mai 2020 in seiner geänderten Fassung (im Folgenden: angefochtener Beschluss) insoweit, als er die Vorlage zahlreicher privater und unerheblicher Dokumente vorschreibe, das in Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und Art. 8 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) niedergelegte Grundrecht auf Achtung des Privatlebens verletze.

Hierzu führt das Gericht aus, dass nach Art. 7 der Charta (der Rechte gewährt, die den durch Art. 8 Abs. 1 EMRK verbürgten Rechten entsprechen) jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation hat.

Was Eingriffe in dieses Recht anbelangt, sieht Art. 52 Abs. 1 der Charta vor, dass jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten muss. Zudem dürfen Einschränkungen unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

Anhand dieser Vorgaben prüft das Gericht, ob der durch den angefochtenen Beschluss bewirkte Eingriff in Art. 7 der Charta die in deren Art. 52 Abs. 1 genannten Voraussetzungen erfüllt.

Das Gericht stellt zunächst fest, dass die Verordnung Nr. 1/2003 die Kommission zum Erlass des angefochtenen Beschlusses ermächtigt, so dass der durch ihn bewirkte Eingriff in das Privatleben gesetzlich vorgesehen ist. Der Beschluss entspricht überdies dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen der Union, und Meta Platforms Ireland hat nicht geltend gemacht, dass er den Wesensgehalt des Rechts auf Achtung des Privatlebens antastet.

Sodann prüft das Gericht, ob der angefochtene Beschluss einen unverhältnismäßigen Eingriff in dieses Recht bewirkt. Insoweit bestätigt das Gericht erstens, dass ein Auskunftsverlangen nach Art. 18 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 eine Maßnahme darstellt, die zur Erreichung der von der Kommission verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Ziele (nämlich der Aufrechterhaltung der Wettbewerbsordnung nach Maßgabe der Verträge) geeignet ist.

Was zweitens die Frage anbelangt, ob der angefochtene Beschluss über das hinausgeht, was zur Erreichung der dem Gemeinwohl dienenden Ziele erforderlich ist, so weist das Gericht darauf hin, dass die Kommission nach dem Erlass des im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergangenen Beschlusses vom 29. Oktober 2020 ein spezielles Verfahren eingerichtet hat, um die Dokumente zu bearbeiten, die von Meta Platforms Ireland vorzulegen waren, aber dem ersten Anschein nach keinen Bezug zu ihrer Geschäftstätigkeit aufwiesen und sensible personenbezogene Daten enthielten (im Folgenden: geschützte Dokumente).


Nach diesem Verfahren waren die geschützten Dokumente der Kommission auf einem separaten elektronischen Datenträger zu übermitteln und in einen virtuellen Datenraum einzustellen, auf den nur eine begrenzte Zahl von Mitgliedern des für die Untersuchung zuständigen Teams in Anwesenheit der Anwälte von Meta Platforms Ireland zugreifen durfte, um die zu den Akten zu nehmenden Dokumente auszuwählen. Für den Fall einer nicht auszuräumenden Uneinigkeit über die Einstufung eines Dokuments sieht der Änderungsbeschluss darüber hinaus ein Streitschlichtungssystem vor. Nach diesem Beschluss können die geschützten Dokumente der Kommission zudem in einer Form übermittelt werden, in der die Namen der betroffenen Personen und jegliche Angaben, die deren Identifizierung ermöglichen könnten, geschwärzt sind. Auf ein durch die Erfordernisse der Untersuchung gerechtfertigtes Verlangen der Kommission müssen ihr diese Dokumente allerdings vollständig übermittelt werden.

Im Übrigen ist unstreitig, dass einige der von der Kommission verlangten Dokumente sensible personenbezogene Daten enthielten, die möglicherweise unter die von Art. 9 der Verordnung 2016/6796 und Art. 10 der Verordnung 2018/17257 erfassten Daten fielen. Die Zulässigkeit der Verarbeitung solcher Daten hängt von den drei folgenden Voraussetzungen ab:

1. Die Verarbeitung dient einem erheblichen öffentlichen Interesse mit unionsrechtlicher Grundlage;

2. die Verarbeitung muss zur Durchsetzung dieses öffentlichen Interesses erforderlich sein;

3. das Unionsrecht muss in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahren sowie angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsehen.

Diese Voraussetzungen sind auch für die Prüfung relevant, ob der angefochtene Beschluss, wie von Art. 52 Abs. 1 der Charta verlangt, nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der mit ihm verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Ziele erforderlich ist. Insoweit stellt das Gericht fest, dass ein Auskunftsverlangen wie der angefochtene Beschluss eine Maßnahme darstellt, die zur Erreichung der von der Kommission verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Ziele geeignet ist (erste Voraussetzung), und dass die Verarbeitung personenbezogener Daten, die der angefochtene Beschluss verlangt, zur Durchsetzung des damit verfolgten erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich ist (zweite Voraussetzung).

Unter Verweis auf die Modalitäten der Übermittlung, der Einsichtnahme, der Bewertung und der Anonymisierung der geschützten Dokumente befindet das Gericht, dass die dritte der oben genannten Voraussetzungen im vorliegenden Fall ebenfalls erfüllt ist.

Nachdem das Gericht auf diese Weise ermittelt hat, dass der angefochtene Beschluss, soweit er das Verfahren der Verwendung eines virtuellen Datenraums vorsieht, nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Ziele erforderlich ist, stellt es drittens fest, dass die Nachteile dieses Verfahrens auch nicht außer Verhältnis zu den verfolgten Zielen standen.

Aufgrund all dieser Erwägungen gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass der durch den angefochtenen Beschluss bewirkte Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens die in Art. 52 Abs. 1 der Charta genannten Voraussetzungen erfüllt, und weist daher die Rügen, mit denen ein Verstoß gegen Art. 7 der Charta geltend gemacht wurde, zurück.

Da sich auch die weiteren Klagegründe, die von Meta Platforms Ireland vorgebracht wurden, als unbegründet erweisen, weist das Gericht die Klage in vollem Umfang ab.


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VG Berlin: Auskunft nach Art. 15 DSGVO kann verweigert werden wenn sich Anspruchsteller zu Klärung der Identität weigert Geburtsdatum mitzuteilen

VG Berlin
Beschluss vom 24.04.2023
VG 1 K 227/22


Das VG Berlin hat entschieden, dass die Erfüllung eines Auskunftsanspruchs nach Art. 15 DSGVO verweigert werden kann, wenn sich der Anspruchsteller zu Klärung der Identität weigert, sein Geburtsdatum mitzuteilen.

Aus den Entscheidungsgründen:
Die beabsichtigte Klage, die bei Auslegung des Begehrens des Antragstellers nach § 88 VwGO darauf gerichtet ist, den Antragsgegner unter Aufhebung des Bescheides der Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit vom 16. Mai 2022 zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über die durch den Antragsteller erhobene Beschwerde gegen die W... zu entscheiden, hat offenkundig keine Aussicht auf Erfolg.

Der angegriffene Bescheid ist nicht rechtswidrig und verletzt den Antragsteller daher nicht in seinen Rechten, denn er hat keinen Anspruch auf Verpflichtung des Antragsgegners zu einer erneuten Entscheidung über seine Beschwerde.

Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren ist Art. 57 Abs. 1 lit. f) DSGVO. Erhebt eine betroffene Person – wie hier der Antragsteller – eine Beschwerde im Sinne von Art. 77 DSGVO, muss sich die Aufsichtsbehörde nach Art. 57 Abs. 1 lit. f) DSGVO mit der Beschwerde befassen, den Gegenstand der Beschwerde in angemessenem Umfang untersuchen und den Beschwerdeführer innerhalb einer angemessenen Frist über den Fortgang und das Ergebnis der Untersuchung unterrichten. Die Aufsichtsbehörde ist hiernach verpflichtet, die Beschwerde mit aller gebotenen Sorgfalt und in angemessenem Umfang zu prüfen, wobei der Amtsermittlungsgrundsatz gilt. Maßstab für den Umfang der Ermittlungen ist insbesondere die Schwere des in Rede stehenden Verstoßes (Bergt, in: Kühling/Buchner, Datenschutz-Grundverordnung BDSG, 3. Auflage 2020, Art. 77 DS-GVO, Rn. 16).

Nach Maßgabe dieser Grundsätze hat der Antragsgegner seine Pflichten bei der Bearbeitung der Beschwerde erfüllt. Der Antragsgegner hat den Sachverhalt ermittelt. Er hat das Beschwerdevorbringen des Antragstellers zur Kenntnis genommen und die W... am 1. Juli 2021 und am 14. Dezember 2021 zur Stellungnahme aufgefordert. Der Antragsgegner hat den Sachverhalt anschließend bewertet und dem Antragssteller das Ergebnis seiner Prüfung mit Bescheid vom 16. Mai 2022 mitgeteilt.

Umstritten ist, ob eine weitergehende gerichtliche Überprüfung, ob die Beschwerdeentscheidung des Beklagten auch inhaltlich zutreffend ist, vorzunehmen ist. Dies hat die Kammer mit der Begründung verneint, dass das Beschwerderecht als Petitionsrecht ausgestaltet sei (vgl. Beschluss vom 28. Januar 2019 – VG 1 L 1.19, juris Rn. 5; so auch mit eingehender Begründung OVG Koblenz, a.a.O., Rn. 37 ff.; a.A. Halder, jurisPR-ITR 16/2020 Anm. 6; Bergt, a.a.O., Rn. 17, jeweils mit weiteren Nachweisen; siehe zum Problem auch Will, ZD 2020, 97). Die Beantwortung dieser Rechtsfrage kann aber vorliegend offenbleiben, da der Anspruch des Antragstellers auch unter Zugrundelegung der Gegenmeinung erfüllt ist (ebenso Urteil der Kammer vom 7. April 2022, VG 1 K 391/20, juris, Rn. 40). Nach der Gegenauffassung steht der betroffenen Person ein Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung zu, welche gerichtlich umfassend überprüfbar und durchsetzbar ist (Halder, jurisPRITR 16/2020 Anm. 6; VG Ansbach, Urteil vom 8. August 2019, AN 14 K 19.00272, juris, Rn. 43). Folgt man dem, hat das Gericht nicht nur Beschwerdeschreiben und Beschwerdeentscheidung zu prüfen, sondern den vollständigen Verfahrensakt einschließlich aller Stellungnahmen des Verantwortlichen und sonstigen Untersuchungsbefunde der Aufsichtsbehörde (Will, ZD 2020, 97, 98). Auch unter Zugrundelegung dieses Maßstabs ist aber der Anspruch des Antragstellers auf eine ermessenfehlerfreie Entscheidung über seine Beschwerde erfüllt.

Hinsichtlich des aufsichtsrechtlichen Vorgehens steht der Behörde ein weiter Ermessensspielraum zu (Paal/Pauly, DS-GVO BDSG, 3. Auflage 2021, Art. 77 DS-GVO, Rn. 5). Lediglich bei festgestellten Rechtsverstößen ist die Aufsichtsbehörde im Rahmen des ihr eröffneten Entschließungsermessens verpflichtet, hiergegen mit dem Ziel der Abstellung des Verstoßes vorzugehen. Ein Anspruch auf eine bestimmte Maßnahme besteht zudem nur im Fall einer Reduzierung auch des Auswahlermessens „auf Null“ (OVG Hamburg, Urteil vom 7. Oktober 2019 – 5 Bf 279/17, juris Rn. 72).

Diesen Maßgaben genügt das durch den Antragsgegner gewählte Vorgehen, der die W... zur Stellungnahme aufgefordert, den Sachverhalt beurteilt und die Beschwerde mangels eines erkennbaren Verstoßes gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen zurückgewiesen hat. Der Antragsgegner ist insbesondere zutreffend davon ausgegangen, dass die W... dem Antragsteller gegenüber die begehrte Auskunft nach Art. 15 DSGVO deshalb zu Recht verweigert hat, weil die Voraussetzungen des Art. 12 Abs. 6 DSGVO vorlagen.

Nach Art. 12 Abs. 6 DSGVO kann der Verantwortliche zusätzliche Informationen anfordern, die zur Bestätigung der Identität der betroffenen Person erforderlich sind, wenn er begründete Zweifel an der Identität der natürlichen Person hat, die den Antrag gemäß den Artikeln 15 bis 21 stellt. Zweifel an der Identität setzen voraus, dass die vorhandenen Daten auf eine bestimmte Identität hindeuten und somit eine Identifizierung grundsätzlich möglich ist, aber nach den Umständen Zweifel daran bestehen, ob der Antragsteller tatsächlich die als Betroffener identifizierte Person ist. Der Verantwortliche hat seine Zweifel einzelfallbezogen darzulegen. Gleichzeitig besteht für den Betroffenen eine Mitwirkungsobliegenheit, denn ohne dessen Mitwirkung wird es dem Verantwortlichen nicht möglich sein, die dargelegten Identitätszweifel zu entkräften. Hintergrund der Regelung ist, dass die Informationen nur denjenigen zur Verfügung gestellt werden sollen, die auch tatsächlich durch die Datenverarbeitung betroffen sind (Schneider/Schwartmann, DS-GVO/BDSG 2. Auflage, Art. 12, Rn. 70).

Es bestanden jedoch in diesem Sinne Zweifel an der Identität des Antragstellers. Dabei war auch die Sensibilität der abgefragten Informationen zu berücksichtigen. Denn Wirtschaftsauskunfteien wie die W...speichern im Einzelfall ein erhebliches Maß zahlreicher personenbezogener Informationen, insbesondere solcher, die einen Schluss auf die Bonität einer Person zulassen, wie etwa bestehende Verbindlichkeiten. Diese Daten wiederum sind ein kommerzialisiertes Wirtschaftsgut, weshalb ein Interesse Dritter an diesen Daten nicht von vornherein fernliegend oder ausgeschlossen ist. Mit Blick auf den Zweck des Art. 12 Abs. 6 DSGVO, die missbräuchliche Geltendmachung der Rechte nach Art. 15 bis 22 DSGVO durch unbefugte Dritte zu verhindern (Wybitul, Handbuch DS-GVO, 1. Auflage 2017, Art. 12-15, Rn. 17), ist es nicht zu beanstanden, dass die W... und mit ihr der Antragsgegner die Zweifel an der Identität des Antragstellers für begründet hielt.

Die W... hat dem Antragsgegner diesbezüglich nachvollziehbar mitgeteilt, dass eine zweifelsfreie Identifikation des Antragstellers nicht möglich gewesen sei, weil es namentliche und/oder weitere Überschneidungen zu weiteren Datensätzen gab. Plausibel erscheint dies schon deshalb, weil Wirtschaftsauskunfteien personenbezogene Daten zahlreicher Personen speichern, so dass nicht unwahrscheinlich erscheint, dass Datensätze unterschiedlicher Personen gespeichert sind, die den gleichen Vor- und Nachnamen tragen. Zudem kann es durch einen Adress- oder Namenswechsel oder aufgrund von Zahlendrehern bzw. unrichtigen Schreibweisen zu Überschneidungen bei mehreren Datensätzen kommen, die letztlich ein- und derselben Person zuzuordnen sind.

Derart begründete Zweifel an der Identität des Antragstellers werden auch nicht durch die seinerseits behauptete empirische Seltenheit seines Namens oder durch seine Behauptung, er sei die einzige Person, die unter seinem Namen an seiner Wohnanschrift gemeldet sei, ausgeräumt. Denn bereits nach einer einfachen Internetrecherche existieren im Bundesgebiet zwei unterschiedliche Personen, die den Vor- und Nachnamen des Antragstellers tragen. Zum anderen besteht jedenfalls die Möglichkeit, dass Umzüge des Antragstellers oder Ungenauigkeiten bei der Schreibweise seines Namens zu der von der W...angegebenen Überschneidung mehrerer Datensätze geführt haben. Dass dies nicht vollkommen fernliegend ist, zeigt schon der Umstand, dass in einem Bescheid des Jobcenters Hamburg, den der Antragsteller zum Nachweis seiner wirtschaftlichen Verhältnisse übersandt hat, sein Nachname (wohl versehentlich) mit „ß“ geschrieben wird, während der Antragsteller selbst im vorliegenden Verfahren die Schreibweise mit „ss“ gewählt hat.

Aus der vom Antragsteller angeführten Entscheidung der Kammer vom 31. August 2020 (Urteil vom 31. August 2020 – VG 1 K 90.19, juris) folgt nichts anderes, da der vorliegende Sachverhalt wesentlich von dem damals zu entscheidenden abweicht. Die Kammer hat in jener Entscheidung zum einen darauf abgestellt, dass das Amtsgericht Tiergarten dem dortigen Kläger bereits mehrfach Entscheidungen unter seiner gegenwärtigen Adresse übersandt hatte. Zum anderen fehlten in jenem Verfahren Anhaltspunkte dafür, dass Dritte ein Interesse an der begehrten Auskunft gehabt haben könnten und sich durch Benutzung einer falschen Identität die Auskunft erschleichen könnten (a.a.O., juris Rn. 13). Vorliegend fehlt es dagegen an einer vorangegangenen Korrespondenz oder sonstigen Informationen, die eine zweifelsfreie Identifizierung hätten ermöglichen können; zudem war nicht sicher auszuschließen, dass Dritte ein Interesse daran hatten, an die sensiblen, bei der W...gespeicherten Informationen zu gelangen.

Hat der Verantwortliche begründete Zweifel an der Identität der betroffenen Person, so sollte er – wie sich aus Erwägungsgrund 64 Satz 1 DSGVO ergibt – alle vertretbaren Mittel nutzen, um die Identität einer Auskunft suchenden betroffenen Person zu überprüfen. Die Anforderung der W..., der Antragsteller möge zur Identifikation sein Geburtsdatum und gegebenenfalls frühere Anschriften nennen, stellt sich als in diesem Sinne vertretbare Maßnahme zur Identifikation dar (Wolff/Brink, Datenschutzrecht 2. Auflage 2022, DS-GVO Art. 12, Rn. 49). Das Geburtsdatum einer Person ist zur Identifizierung geeignet, da es eine häufig für Dritte weniger ersichtliche persönliche Information darstellt, auch wenn es einen Missbrauch nicht gänzlich ausschließt (Wybitul, a.a.O., Art. 12-15, Rn. 17). Die Abfrage des Geburtsdatums steht zu dem Zweck der Identifizierung des Antragstellers auch nicht außer Verhältnis, insbesondere mit Blick auf die erhöhte Sensibilität der bei Wirtschaftsauskunfteien gespeicherten Daten und dem aufgrund der Kommerzialisierung derartiger Daten gesteigerten Missbrauchspotential. Der Antragsteller hat jedoch – unter Verstoß auf die ihm obliegende Mitwirkungspflicht – nicht auf die damit berechtigte Anfrage der W...reagiert.


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