Skip to content

Wir wünschen einen guten Rutsch sowie ein gutes, gesundes und erfolgreiches Jahr 2022 - Anke Norda und Marcus Beckmann - Beckmann und Norda - Rechtsanwälte

Wir wünschen einen guten Rutsch sowie ein gutes, gesundes und erfolgreiches Jahr 2022 !

Anke Norda und Marcus Beckmann

LG Stuttgart: Beschränkung des fliegenden Gerichtsstands in § 14 Abs. 2 S. 3 UWG ist jedenfalls bei rein virtuellen Sachverhalten nicht entgegen dem Wortlaut einschränkend auszulegen

LG Stuttgart
Beschluss vom 27.10.2021
11 O 486/21


Das LG Stuttgart hat entschieden, dass die Beschränkung des fliegenden Gerichtsstands in § 14 Abs. 2 S. 3 UWG jedenfalls bei rein virtuellen Sachverhalten nicht entgegen dem Wortlaut einschränkend auszulegen ist.

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Entscheidung beruht auf § 281 Abs. 1 ZPO. Das angegangene Gericht ist örtlich unzuständig, da der Beklagte seinen allgemeinen Gerichtsstand i. S. von § 14 Abs. 2 S. 1 UWG im Landgerichtsbezirk Kiel hat und der sog. fliegende Gerichtsstand gem. § 14 Abs. 2 S. 2 UWG nach § 14 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 UWG für den hier rein virtuellen Sachverhalt nicht gilt (vgl. bereits Hinweis des Gerichts vom 11.10.2021, GA 9 f.).

Die vom Kläger in seinem Schriftsatz vom 15.10.2021 vorgebrachten Argumente (GA 13 ff.) vermögen die Kammer im Ergebnis nicht zu überzeugen. Vielmehr erachtet die Kammer die vom OLG Düsseldorf (Beschluss vom 16.02.2021, 20 W 11/21, Rn. 19 ff., juris) formulierte Kritik an der vom LG Düsseldorf erstmals bereits in seinem Beschluss vom 15.01.2021 vertretenen, erheblichen Einschränkung des § 14 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 UWG für stichhaltig (so jetzt auch Schultzky, in: Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 32 Rn. 10; ebenso z. B. Moteijl/Rosenow, WRP 2021, 699 Rn. 39, die als Beamte im BMJV mit der Erstellung des Regierungsentwurfs befasst waren sowie Feddersen, WRP 2021, 713, 717, Rn. 26 ff., insb. Rn. 30).

Die vom Kläger genannten weiteren Entscheidungen der Landgerichte Düsseldorf und Frankfurt a. M. (sowie nunmehr LG Hamburg, GRUR-​RS 2021, 27788, Rn. 4, sowie OLG Frankfurt, Beschluss vom 08.10.2021, 6 W 83/21, Rn. 18, juris) greifen die Argumentation zur einschränkenden Auslegung lediglich auf, setzen sie fort und vertiefen sie.

Der Wortlaut von § 14 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 UWG ist indes eindeutig und weicht von jenem des § 13 Abs. 4 Nr. 1 UWG gerade ab. Ausweislich der jeweiligen Gesetzesbegründungen hat der Gesetzgeber die Regelungen in § 13 UWG einerseits und § 14 UWG andererseits bewusst unterschiedlich ausgestaltet. Vor diesem Hintergrund gebieten auch Sinn und Zweck der Neuregelung keine vom Wortlaut abweichende weitere Einschränkung oder teleologische Reduktion (so auch Feddersen, WRP 2021, 713, 717, Rn. 30):

Bei der Beschränkung des Kostenerstattungsanspruchs in § 13 UWG ging es darum, das ausufernde Abmahnwesen zu begrenzen, das bei einfach und automatisiert festzustellenden Online-​Verstößen gegen die zahlreichen Informationspflichten rein aus Gebührenerzielungsinteresse um sich griff. Hierbei hatte der Gesetzgeber ausdrücklich nur „Verstöße im Online-​Handel“ und zwar „gegen Informations- und Kennzeichnungspflichten“ im Blick (BT-​DS. 19/12084, S. 32). Dies findet sich dementsprechend auch im Gesetzeswortlaut wieder.

Der zunächst angedachte, fast vollständige Ausschluss des fliegenden Gerichtsstands in § 14 UWG beruhte hingegen auf anderen Gründen. Insoweit führte der Gesetzgeber eine allgemeine „Missbrauchsgefahr“ an, da sich der Kläger insb. bei Verstößen im Internet durch die Möglichkeit, quasi „überall“ hiergegen vorgehen zu können, „etliche Vorteile sichern“ könne. So könne er sich ein Gericht aussuchen, das besonders klägerfreundlich sei oder bereitwillig einstweilige Beschlussverfügungen ohne Anhörung des Gegners erlasse oder hohe Streitwerte festsetze. Mit der Androhung einer Klage an einem weit entfernten Ort könne zudem oft die Unterzeichnung einer Unterlassungserklärung erreicht werden (BT-​DS. 19/12084, S. 35 f.). Im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens wurde die Einschränkung des fliegenden Gerichtsstands sodann „auf die in diesem Zusammenhang besonders missbrauchsanfälligen Verstöße beschränkt, die auf Telemedien oder im elektronischen Geschäftsverkehr begangen werden“ (BT-​DS. 19/22238, S. 18). Von Verstößen gegen Informations- und Kennzeichnungspflichten war an dieser Stelle, anders als bei § 13 UWG, gerade nicht die Rede. Dies ist auch folgerichtig, weil die dargestellten allgemeinen Missbrauchsgefahren des fliegenden Gerichtsstands bei allen Internet-​Verstößen gleichermaßen bestehen.

Dem steht auch nicht der vom Kläger zitierte, persönlich verfasste Beitrag des Berichterstatters der CDU/CSU-​Fraktion J... (GRUR 2021, 984, 986) entgegen. Eine positive und dezidierte Aussage, dass der Gesetzgeber nur und allein die Fälle des § 13 Abs. 4 Nr. 1 UWG im Blick hatte, lässt sich dem Beitrag gerade nicht entnehmen. So heißt es lediglich, dass die Regierungsfraktionen „vor allem“ den Musterfall eines einfachen Verstoßes vor Augen hatten, der nur zum Zweck der Abmahnung unter Androhung einer Vertragsstrafe per Webcrawler automatisiert ermittelt werde. Man werde „kaum“ andere Beispiele finden als die Verstöße gegen Informations- und Kennzeichnungspflichten im Internet. Der Gesetzgeber müsse sich aber auch aus seiner Sicht „die Frage gefallen lassen, warum er in beiden Regelungen unterschiedliche Formulierungen gewählt bzw. warum er nicht einfach auf § 13 IV Nr. 1 UWG verwiesen hat“. Wie oben dargestellt und auch von J... einleitend in seinem Beitrag ausgeführt, äußerte der Gesetzgeber allerdings umfassende Kritik an der Geltung des fliegenden Gerichtsstands im Lauterkeitsrecht in verschiedenen Fallkonstellationen. Diese Kritik greift losgelöst von den beispielhaft angeführten Verstößen gegen Informations- und Kennzeichnungspflichten und belegt die andersartige Stoßrichtung der Einschränkung in § 14 UWG.

Den vom Kläger anhand von mehreren Beispielsfällen, die zu vermeintlich „grotesken Ergebnissen“ führten, geäußerten Bedenken wegen Wertungswidersprüchen bei medienübergreifenden Verstößen (Schriftsatz vom 15.10.2021, S. 2, 3, 7) lässt sich schließlich anderweitig begegnen. So bietet sich bei solchen medienübergreifenden Verstößen wegen des vom Gesetzgeber in den Blick genommenen Missbrauchspotentials des fliegenden Gerichtsstands im Falle von Internet-​Verstößen ausnahmsweise eine einschränkende Auslegung an, wonach die Neuregelung auf rein „virtuelle“ Verstöße beschränkt wird. Wird der Verstoß also nicht ausschließlich im Internet, sondern auch auf anderen Verbreitungswegen verwirklicht, und handelt es sich um einen einheitlichen Streitgegenstand, ist die Neuregelung nicht anwendbar (Feddersen, WRP 2021, 713, 717, Rn. 31; so auch bereits Feddersen in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 39. Aufl. 2021, § 14 Rn. 21).


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

OLG Frankfurt: Fehlende Klagebefugnis eines Vereins für Musterfeststellungsklage wenn Mindestmitgliederzahl nur durch "Internetmitglieder" ohne Stimmrecht erreicht wird

OLG Frankfurt
Urteil vom 05.11.2021
24 MK 1/18


Das OLG Frankfurt hat entschieden, dass einem Verein die Klagebefugnis für eine Musterfeststellungsklage fehlt, wenn die Mindestmitgliederzahl von 350 natürlichen Personen nur durch "Internetmitglieder" ohne Stimmrecht erreicht wird.

Die Pressemitteilung des Gerichts:

Keine Klagebefugnis für Musterfeststellungsverfahren

Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) hat mit kürzlich im Klageregister veröffentlichtem Urteil die Musterfeststellungsklage der Schutzgemeinschaft für Bankkunden e.V. als unzulässig abgewiesen (Fortführung von BGH, Urteil vom 17.11.2020, XI ZR 171/19). Es fehlt dem Musterkläger an der Klagebefugnis, begründete das OLG seine Entscheidung.

Der Musterkläger, ein eingetragener Verein, möchte im Rahmen einer Musterfeststellungsklage diverse Feststellungen im Zusammenhang mit dem Verbrauchererwerb von Orderschuldverschreibungen, Genussrechten und/oder Nachrangdarlehen bestimmter Unternehmen erreichen.

Das OLG hat die Musterfeststellungsklage als unzulässig abgewiesen. Der Kläger zähle nicht zu den qualifizierten Einrichtungen, die zur Erhebung einer Musterfeststellungsklage berechtigt seien. Musterfeststellungsklagen dürfen insbesondere von qualifizierten Einrichtungen (§ 3 Abs. 1 S. 1 UKlaG) erhoben werden, die als Mitglieder mindestens 10 Verbände, die im gleichen Aufgabenbereich tätig sind, oder mindestens 350 natürliche Personen haben (§ 606 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Der Kläger erfülle hier weder die Mindestzahl hinsichtlich der Verbände aus dem gleichen Aufgabenbereich noch der natürlichen Personen. Den vorgelegten Mitgliederlisten seien zwar mehr als 350 Vereinsmitglieder zu entnehmen. Enthalten sei dabei jedoch eine große Zahl sogenannter Internet-Mitglieder. Diese seien nicht mitzurechnen, da sie keine Vollmitglieder darstellten. Insbesondere hätten sie kein Stimmrecht auf den Versammlungen des Musterklägers. Sie könnten damit nicht auf das Verhalten und die Geschicke des Vereins maßgeblich Einfluss nehmen. Abzüglich dieser „Internet-Mitglieder“ verfüge der Musterkläger nicht über die erforderlichen 350 Personen.

Soweit der Kläger angekündigt habe, auch die „Internet-Mitglieder“ mit einem Stimmrecht ausstatten zu wollen, sei eine entsprechende Satzungsänderung nicht bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in das Register eingetragen worden.

Es bestünden zudem erhebliche Zweifel, ob der Kläger tatsächlich in Erfüllung seiner satzungsmäßigen Aufgaben Verbraucherinteressen weitgehend durch nicht-gewerbsmäßige aufklärende oder beratende Tätigkeit wahrnehme. Es stehe im Raum, dass die gerichtliche Geltendmachung von Verbraucherinteressen beim Kläger eine wesentliche, keinesfalls eine nur untergeordnete Rolle spiele.

Das Urteil ist kraft Gesetzes mit der Revision anfechtbar.

Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 5.11.2021, Az. 24 MK 1/18

Erläuterungen:
§ 606 ZPO Musterfeststellungsklage
(1) Mit der Musterfeststellungsklage können qualifizierte Einrichtungen die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens von tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen (Feststellungsziele) zwischen Verbrauchern und einem Unternehmer begehren. Qualifizierte Einrichtungen im Sinne von Satz 1 sind die in § 3 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 des Unterlassungsklagengesetzes bezeichneten Stellen, die

als Mitglieder mindestens zehn Verbände, die im gleichen Aufgabenbereich tätig sind, oder mindestens 350 natürliche Personen haben,
...

KG Berlin legt EuGH Fragen zu Art. 83 Abs. 4-6 DSGVO und dem Verhältnis zu § 30 OWiG zur Entscheidung vor - Bußgeldverfahren unmittelbar gegen Unternehmen

KG Berlin
Beschluss vom 06.12.2021
3 Ws 250/21


Das KG Berlin hat dem EuGH Fragen zu Art. 83 Abs. 4-6 DSGVO und dem Verhältnis zu § 30 OWiG zur Entscheidung vorgelegt. Insbesondere geht es um die Streitfrage, ob Bußgeldverfahren unmittelbar gegen Unternehmen geführt werden können.

Die Vorlagefragen:

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Auslegung von Art. 83 der Verord­nung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen beider Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der RL 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 83 Abs. 4-6 DS-GVO dahin auszulegen, dass es den Art. 101 und 102 AEUV zugeordneten funktionalen Unternehmensbegriff und das Funktionsträgerprinzip in das innerstaatliche Recht mit der Folge inkorporiert, dass unter Erweiterung des § 30 OWiG zugrundeliegenden Rechtsträgerprinzips ein Bußgeldverfahren unmittelbar gegen ein Unternehmen geführt werden kann und die Bebußung nicht der Feststellung einer durch eine natürliche und identifizierte Person, gegebenenfalls volldeliktisch, begangenen Ordnungswidrigkeit bedarf ?

2. Wenn die Frage zu 1. bejaht werden sollte ist Art. 83 Abs.4 - 6 DS-GVO dahin auszul­egen, dass das Unternehmen den durch einen Mitarbeiter vermittelten Verstoß schuldhaft begangen haben muss (vgl. Art. 23 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Art. 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettb­werbsregeln), oder reicht für eine Bebußung des Unternehmens im Grundsatz bereits ein ihm zuzuordnender objektiver Pflichtenverstoß aus („strict liability") ?



OLG Düsseldorf erneut: Beschränkung des fliegenden Gerichtsstands in § 14 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 UWG nicht gegen den Wortlaut einschränkend auszulegen

OLG Düsseldorf
Urteil vom 16.12.2021
I-20 U 83/21


Das OLG Düsseldorf hat nochmals bekräftigt, dass die Beschränkung des fliegenden Gerichtsstands in § 14 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 UWG nicht gegen den Wortlaut einschränkend auszulegen ist. Die Vorschrift gilt nach Ansicht des OLG Düsseldorf daher nicht nur für Verstöße gegen internetspezifische Kennzeichnungsvorschriften oder Verstöße gegen Kennzeichnungsvorschriften im elektronischen Rechtsverkehr.

BGH: Volltexte der jameda-Entscheidungen liegen vor - Kein Löschungsanspruch aus Art. 17 Abs. 1 DSGVO gegen Arztbewertungsportal jameda

BGH
Urteil vom 12.10.2021 - VI ZR 488/19
Urteil vom 12.10.2021 - VI ZR 489/19
DSGVO Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Buchst. f, Art. 17 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1, Art. 85 Abs. 2; EU-Grundrechtecharta Art. 11 Abs. 1; BayDSG Art. 38 Abs. 1


Der BGH hat entschieden, dass gegen das Arztbewertungsportal jameda kein Löschungsanspruch aus Art. 17 Abs. 1 DSGVO besteht, da die mit einem Eintrag verbundene Verarbeitung nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Buchst. f. DSGVO gerechtfertigt ist.

Leitsätze des BGH (in beiden Entscheidungen identisch):

a) Der Betreiber eines Ärztebewertungsportals unterliegt keinem strengen Gleichbehandlungsgebot in dem Sinne, dass eine Ungleichbehandlung von Ärzten, die keine (zahlenden) Kunden des Portalbetreibers sind, einerseits und Ärzten, die für ihr Profil bezahlen, andererseits stets zur Unzulässigkeit der Verarbeitung der personenbezogenen Daten von nichtzahlenden Ärzten führt, die der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten im Portalbetrieb widersprochen haben. Maßgeblich ist vielmehr, welche konkreten Vorteile der Portalbetreiber zahlenden gegenüber nichtzahlenden Ärzten gewährt und ob die sich daraus ergebende Ungleichbehandlung in einer Gesamtschau mit allen anderen Umständen des konkreten Einzelfalls dazu führt, dass die Interessen des gegen seinen Willen in das Portal aufgenommenen Arztes die berechtigten Interessen des Portalbetreibers und vor allem der Portalnutzer überwiegen (Fortführung Senatsurteil vom 20. Februar 2018 - VI ZR 30/17, BGHZ 217, 340 Rn. 18 - Ärztebewertung III).

b) Zum sogenannten "Medienprivileg" im Sinne des Art. 38 Abs. 1 BayDSG in Verbindung mit Art. 85 Abs. 2 DS-GVO.

BGH, Urteil vom 12. Oktober 2021 - VI ZR 488/19 und VI ZR 489/19 - OLG Köln - LG Bonn

Die Volltexte der Entscheidungen finden Sie hier:
Urteil vom 12.10.2021 - VI ZR 488/19
Urteil vom 12.10.2021 - VI ZR 489/19


Die Pressemitteilung des BGH:

Schriftliche Urteilsgründe in den "JAMEDA"-Verfahren liegen vor Urteile vom 12. Oktober 2021 – VI ZR 488/19 und VI ZR 489/19

Der unter anderem für das allgemeine Persönlichkeitsrecht zuständige VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat in zwei das Ärztebewertungsportal "JAMEDA" (Az. VI ZR 488/19 und VI ZR 489/19) betreffenden Verfahren die schriftlichen Gründe der am 12. Oktober 2021 verkündeten Urteile vorgelegt. Die Urteile sind in der Entscheidungsdatenbank auf der Website des Bundesgerichtshofs (www.bundesgerichtshof.de) abrufbar.

Sachverhalt:

Die Beklagte betreibt das Ärztebewertungsportal "JAMEDA", das monatlich von mindestens sechs Millionen Nutzern besucht wird. Sie erstellt dabei für alle Ärzte unter Verwendung von Daten aus allgemein zugänglichen Quellen ein Basisprofil mit Namen, akademischem Grad, Fachrichtung, Praxisanschrift, weiteren Kontaktdaten und Sprechzeiten. Nutzer des Portals können die Ärzte nach bestimmten, vorgegebenen Kriterien benoten und in Form von Freitextkommentaren bewerten. Aus den abgegebenen Einzelbewertungen werden für die unterschiedlichen Kategorien Durchschnittsnoten gebildet, aus den Durchschnittsnoten der verschiedenen Kategorien wiederum eine Gesamtnote für den jeweiligen Arzt, die auf dessen Profil sichtbar ist. Die Beklagte bietet den in ihrem Portal erfassten Ärzten den Erwerb eines "Gold"- oder "Platinpakets" gegen monatliche Zahlungen von 69 € bzw. 139 € an, die es ermöglichen, die Profilseiten - etwa durch Hinzufügen eines Fotos, Setzen eines Links auf die eigene Internetseite oder die Veröffentlichung von Fachartikeln - ansprechender zu gestalten.

Die Klägerin im Verfahren VI ZR 488/19 ist Fachzahnärztin für Parodontologie, der Kläger im Verfahren VI ZR 489/19 Fachzahnarzt für Oralchirurgie. Sie verfügen über kein kostenpflichtiges Paket bei der Beklagten; in ihre Aufnahme in das Portal der Beklagten haben sie nicht eingewilligt. Beide werden von der Beklagten deshalb mit einem Basisprofil geführt. Mit ihren Klagen verlangen sie zum einen die vollständige Löschung ihrer Daten aus dem Portal der Beklagten, zum anderen, es auch in Zukunft zu unterlassen, sie betreffende Profile zu veröffentlichen, wenn das Portal bestimmte, im einzelnen beschriebene Merkmale aufweist. Konkret wenden sie sich hierbei gegen eine Vielzahl von - im Einzelnen bezeichneten - Unterschieden bei der Ausgestaltung von zahlungspflichtigen Gold- oder Platinprofilen einerseits und Basisprofilen andererseits (z. B.: Verlinkung anderer Ärzte bzw. Ärztelisten, die Möglichkeit, Bilder, Texte u. ä. einzustellen, Werbung von Drittunternehmen) sowie eine unterschiedliche Behandlung von zahlenden und nichtzahlenden Ärzten in Bezug auf bestimmte Serviceleistungen, etwa eine professionelle Hilfestellung beim Verfassen von Texten oder eine kostenlose Hotline nur für zahlende Ärzte.

Prozessverlauf:

Das Landgericht Bonn (9 U 157/18 bzw. 18 U 143/18) hat beiden Klagen stattgegeben. Die dagegen gerichteten Berufungen der Beklagten hat das Oberlandesgericht Köln (15 U 89/19 bzw. 15 U 126/19) hinsichtlich der Löschungsanträge zurückgewiesen. Hinsichtlich der - im Revisionsverfahren allein noch relevanten - Unterlassungsanträge hat es das landgerichtliche Urteil unter Zurückweisung der weitergehenden Berufungen der Beklagten überwiegend abgeändert und die Klagen abgewiesen. Nach seiner Auffassung ist die Zulässigkeit der Aufnahme der Kläger in das Portal an Art. 6 Abs. 1 Buchst. f DS-GVO zu messen, wonach eine rechtmäßige Datenverarbeitung voraussetzt, dass die Verarbeitung zur Wahrung der berechtigten Interessen der Beklagten und ihrer Nutzer erforderlich ist und die Interessen der Kläger als betroffene Personen nicht überwiegen. Im Rahmen der damit gebotenen Einzelfallabwägung sei von den Grundsätzen des Urteils des Bundesgerichtshofs vom 20. Februar 2018 (VI ZR 30/17, GRUR 2018, 636) auszugehen. Danach erfülle das von der Beklagten betriebene Portal eine von der Rechtsordnung gebilligte und gesellschaftlich erwünschte Funktion. Der Portalbetreiber könne seine auf das Grundrecht der Meinungs- und Medienfreiheit gestützte Rechtsposition gegenüber den Betroffenen aber nur mit geringerem Gewicht geltend machen, soweit er seine Stellung als neutraler Informationsmittler nicht mehr wahre und seinen eigenen Kunden in Gewinnerzielungsabsicht verdeckte Vorteile verschaffe; erforderlich sei hierfür, dass Basiskunden auf dem Portal als "Werbeplattform" für Premiumkunden benutzt würden und dass den Premiumkunden dadurch ein Vorteil gewährt werde, der schließlich aus Sicht des durchschnittlichen Nutzers verdeckt, mithin für diesen nicht erkennbar, erfolge. Dies sei nur hinsichtlich eines (geringen) Teils der Unterlassungsanträge der Fall. Mit ihren Revisionen haben die Kläger ihre Begehren, soweit sie abgewiesen wurden, weiterverfolgt. Soweit die Beklagte zur Löschung und Unterlassung verurteilt worden ist, ist das Berufungsurteil rechtskräftig geworden.

Die Entscheidungen des VI. Zivilsenats:

Der VI. Zivilsenat hat die Revisionen der Kläger zurückgewiesen. Die Auffassung des Oberlandesgerichts, die Kläger hätten insoweit keinen Unterlassungsanspruch gegen die Beklagte, trifft im Ergebnis zu.

Ob ein Unterlassungsanspruch besteht, richtet sich im Ausgangspunkt nach Art. 17 Abs. 1 DS-GVO. Der Anwendung dieser Vorschrift stehen insbesondere nicht Art. 38 Abs. 1 BayDSG in Verbindung mit Art. 85 Abs. 2 DS-GVO und das dort geregelte "Presseprivileg" entgegen; denn die Beklagte verarbeitet in dem von ihr betriebenen Portal die personenbezogenen Daten der Kläger nicht zu "journalistischen Zwecken" im Sinne dieser Vorschriften.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Unterlassungsanspruch aus Art. 17 Abs. 1 DSG-GVO sind in den Streitfällen nicht erfüllt. Insbesondere scheitert ein Unterlassungsanspruch aus Art. 17 Abs. 1 Buchst. d DS-GVO daran, dass die von den Klägern bekämpfte Datenverarbeitung gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Buchst. f. DS-GVO rechtmäßig ist. Denn mit dem Portalbetrieb und der damit verbundenen Verarbeitung der genannten personenbezogenen Daten der Kläger verfolgt die Beklagte berechtigte, von Art. 11 GRCh (Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit) und Art. 16 GRCh (Unternehmerische Freiheit) geschützte Interessen, die Datenverarbeitung geht über das dafür unbedingt Notwendige nicht hinaus und die durchzuführende Abwägung der nach den konkreten Umständen des Einzelfalls gegenüberstehenden Rechte und Interessen fällt hinsichtlich der im Revisionsverfahren noch streitgegenständlichen Gestaltungselemente des Portalbetriebs der Beklagten nicht zugunsten der Kläger aus. Vom VI. Zivilsenat besonders hervorgehoben wurde dabei, dass aus dem Umstand, dass im Rahmen der Abwägung - wie der erkennende Senat in einem Urteil vom 20. Februar 2018 (VI ZR 30/17, BGHZ 217, 340 Rn. 11 ff.) ausgeführt hatte - auch in den Blick zu nehmen ist, ob die Beklagte als "neutrale Informationsmittlerin" agiert, kein strenges Gebot zur Gleichbehandlung zahlender und nichtzahlender Ärzte folgt. Maßgebend ist vielmehr, welche konkreten Vorteile die Beklagte zahlenden gegenüber nichtzahlenden Ärzten gewährt und ob die sich daraus ergebende Ungleichbehandlung in einer Gesamtschau mit allen anderen Umständen des konkreten Einzelfalls dazu führt, dass die Interessen des gegen seinen Willen in das Portal aufgenommenen Arztes die berechtigten Interessen der beklagten Portalbetreiberin und vor allem der Portalnutzer überwiegen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Ärzte es grundsätzlich hinzunehmen haben, in einem Bewertungsportal geführt und dort bewertet zu werden. Die noch streitgegenständlichen Gestaltungselemente führten in den Streitfällen nicht zu nicht nur unerheblich darüberhinausgehenden Belastungen für die Kläger.

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

Artikel 6 der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO):

(1) Die Verarbeitung ist nur rechtmäßig, wenn mindestens eine der nachstehenden Bedingungen erfüllt ist:

[…].

f) die Verarbeitung ist zur Wahrung der berechtigten Interessen des Verantwortlichen oder eines Dritten erforderlich, sofern nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen, insbesondere dann, wenn es sich bei der betroffenen Person um ein Kind handelt.

[…]

Artikel 17 der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO):

(1) Die betroffene Person hat das Recht, von dem Verantwortlichen zu verlangen, dass sie betreffende personenbezogene Daten unverzüglich gelöscht werden, und der Verantwortliche ist verpflichtet, personenbezogene Daten unverzüglich zu löschen, sofern einer der folgenden Gründe zutrifft:

[…]

c) Die betroffene Person legt gemäß Artikel 21 Absatz 1 Widerspruch gegen die Verarbeitung ein und es liegen keine vorrangigen berechtigten Gründe für die Verarbeitung vor, […]

d) Die personenbezogenen Daten wurden unrechtmäßig verarbeitet.

[…]

Artikel 21 der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO):

(1) Die betroffene Person hat das Recht, aus Gründen, die sich aus ihrer besonderen Situation ergeben, jederzeit gegen die Verarbeitung sie betreffender personenbezogener Daten, die aufgrund von Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe e oder f erfolgt, Widerspruch einzulegen; […]. Der Verantwortliche verarbeitet die personenbezogenen Daten nicht mehr, es sei denn, er kann zwingende schutzwürdige Gründe für die Verarbeitung nachweisen, die die Interessen, Rechte und Freiheiten der betroffenen Person überwiegen, oder […].

[…].

Artikel 85 der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO):

(1) Die Mitgliedstaaten bringen durch Rechtsvorschriften das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten gemäß dieser Verordnung mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, einschließlich der Verarbeitung zu journalistischen Zwecken […], in Einklang.

(2) Für die Verarbeitung, die zur journalistischen Zwecken […] erfolgt, sehen die Mitgliedstaaten Abweichungen oder Ausnahmen von Kapitel II (Grundsätze), Kapitel III (Rechte der betroffenen Person), […] vor, wenn dies erforderlich ist, um das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten mit der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit in Einklang zu bringen.

[…]

Artikel 38 des Bayerischen Datenschutzgesetzes (BayDSG):

(1) Werden personenbezogene Daten zu journalistischen, […] Zwecken verarbeitet, stehen den betroffenen Personen nur die in Abs. 2 genannten Rechte zu. […].

[…].

Artikel 7 der EU-Grundrechte-Charta (GRCh):

Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.

Artikel 11 der EU-Grundrechte-Charta (GRCh):

(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.

[…]

Artikel 16 der EU-Grundrechte-Charta (GRCh):

Die unternehmerische Freiheit wird nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt.




BGH: Keine unlautere Nachahmung einer E-Gitarre nach § 4 Nr. 3 UWG oder Behinderung nach § 4 Nr. 4 UWG wenn Produkte qualitativ und preislich gleichwertig

BGH
Urteil vom 22.11.2021 - I ZR 192/20
Flying V
UWG § 4 Nr. 3 Buchst. a und b, § 4 Nr. 4
1

Der BGH hat entschieden, dass keine unlautere Nachahmung einer E-Gitarre nach § 4 Nr. 3 UWG oder Behinderung nach § 4 Nr. 4 UWG vorliegt, wenn beide Produkte qualitativ und preislich gleichwertig im gehobenen Marktsegment angeboten werden.

Leitsätze des BGH:

a) Die Rechtsprechung, nach der eine unlautere Nachahmung unter dem Gesichtspunkt der Rufausbeutung vorliegen kann, wenn durch ein in den äußeren kennzeichnenden Merkmalen nahezu identisch nachgeahmtes Luxusprodukt zwar nicht der Käufer, wohl aber Dritte, die beim Käufer die Nachahmung sähen, zur irrigen Vorstellung über die Echtheit verleitet würden
(BGH, Urteil vom 8. November 1984 - I ZR 128/82, GRUR 1985, 876, 878 [juris Rn. 17 f.] - Tchibo/Rolex), ist nicht anwendbar, wenn das "Original" und die Nachahmung qualitativ ebenbürtig sind und sich im gleichen hochpreisigen Marktsegment bewegen.

b) Sind das "Original" und die - nicht nahezu identische - Nachahmung einer E-Gitarre qualitativ gleichwertig und werden sie im gleichen hochpreisigen Marktsegment angeboten, kommt eine unlautere Nachahmung gemäß § 4 Nr. 3 UWG oder eine Mitbewerberbehinderung gemäß § 4 Nr. 4 UWG auch dann nicht in Betracht, wenn das Originalprodukt berühmt und auch Jahrzehnte nach der Markteinführung noch gleichsam ein objektiver Maßstab für das Angebot anderer Hersteller ist (Abgrenzung zu BGHZ 138, 143 [juris Rn. 36] - Les-Paul-Gitarren).

BGH, Urteil vom 22. September 2021 - I ZR 192/20 - OLG Hamburg - LG Hamburg

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BGH: Unzulässige geschäftliche Handlung nach Nr. 29 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG nur bei tatsächlicher Warenlieferung oder Dienstleistungserbringung

BGH
Urteil vom 20.10.2021
I ZR 17/21
Identitätsdiebstahl II
UWG § 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 Fall 1, Anh. Nr. 29 zu § 3 Abs. 3


Der BGH hat entschieden, dass eine unzulässige geschäftliche Handlung nach Nr. 29 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG nur bei tatsächlicher Warenlieferung oder Dienstleistungserbringung vorliegt. Seine bisherige Rechtsprechung, wonach eine Auftragsbestätigung genügt, gibt der BGH ausdrücklich auf.

Leitsätze des BGH:

a) Ein Irrtum des Unternehmers über den Umstand einer vorhergehenden Bestellung durch den zur Zahlung aufgeforderten Verbraucher ist im Rahmen der Prüfung der Unlauterkeit einer geschäftlichen Handlung unter dem Gesichtspunkt der Irreführung auch dann nicht zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, wenn dieser Irrtum nicht vorwerfbar ist (Bestätigung von BGH, Urteil vom 6. Juni 2019 - I ZR 216/17, GRUR 2019, 1202 Rn. 26 = WRP 2019, 1471 – Identitätsdiebstahl I).

b) Eine unzulässige geschäftliche Handlung nach Nr. 29 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG kann nur dann angenommen werden, wenn eine nicht bestellte Ware tatsächlich geliefert oder eine nicht bestellte Dienstleistung tatsächlich erbracht wurde. Das bloße Inaussichtstellen einer Warenlieferung oder Dienstleistungserbringung genügt nicht (Aufgabe von BGH, Urteil vom 17. August 2011 - I ZR 134/10, GRUR 2012, 82 Rn. 12 = WRP 2012, 198 - Auftragsbestätigung).

c) Waren sind nur dann als "geliefert" und Dienstleistungen nur dann als "erbracht" im Sinne von Nr. 29 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG anzusehen, wenn sie den zur Zahlung aufgeforderten Verbraucher in einer Weise erreicht haben, dass dieser tatsächlich in der Lage ist, sie zu nutzen oder sonst über deren Verwendung zu bestimmen (Klarstellung von BGH, GRUR 2019, 1202 Rn. 32 - Identitätsdiebstahl).

BGH, Urteil vom 20. Oktober 2021 - I ZR 17/21 - OLG Hamburg - LG Hamburg

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BGH: Spreewälder Gurken II - Zum berechtigten Interesse von Dritten im Verfahren bei nicht geringfügigen Änderungen der Spezifikation für Erzeugnisse mit geschützter geografischer Angabe

BGH
Beschluss vom 07.10.2021
I ZB 78/18
Spreewälder Gurken II
Verordnung (EU) Nr. 1151/2012 Art. 49 Abs. 3 Unterabsatz 1 und Abs. 4 Unterabsatz 2, Art. 53 Abs. 2 Unterabsatz 1


Leitsatz des BGH:
Im Verfahren über Anträge auf nicht geringfügige Änderungen der Spezifikation für Erzeugnisse, die eine geschützte geografische Angabe tragen, kann jede aktuelle oder potenzielle, jedoch nicht außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit liegende wirtschaftliche Betroffenheit einer natürlichen oder juristischen Person ein "berechtigtes Interesse" begründen, das erforderlich ist, um einen Einspruch gegen den Änderungsantrag oder ein Rechtsmittel gegen die positive Entscheidung über den gestellten Antrag einzulegen, sofern die Gefahr, dass die Interessen einer solchen Person beeinträchtigt werden, nicht äußerst unwahrscheinlich oder hypothetisch ist (Anschluss an EuGH, Urteil vom 15. April 2021 - C-53/20, GRUR 2021, 860 - Hengstenberg).

BGH, Beschluss vom 7. Oktober 2021 - I ZB 78/18 - Bundespatentgericht

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:


OLG Frankfurt: Bei Schadensberechnung auf Grundlage des entgangenen Gewinns muss Kläger Kalkulationsgrundlagen und Kausalität für den Schaden detailliert darlegen und beweisen

OLG Frankfurt
Urteil vom 28.10.2021
6 U 147/20


Das OLG Frankfurt hat entschieden, dass bei einer Schadensberechnung auf Grundlage des entgangenen Gewinns der Kläger die Kalkulationsgrundlagen und die Kausalität für den Schaden detailliert darlegen und beweisen muss.

Aus den Entscheidungsgründen:

"b) Die Klägerin hat indes einen entgangenen Gewinn nicht schlüssig darlegen können.

aa) Bereits untauglich ist der Versuch, einen entgangenen Gewinn ohne Darlegung der Kalkulationsgrundlagen zu berechnen. Zwar ist nachvollziehbar, dass die Klägerin ihre internen Kalkulationsdaten nicht offenlegen will. Dies ist jedoch zwingend erforderlich, wenn die Klägerin darlegen will, dass ihr durch das Verhalten der Beklagten ein bestimmter eigener Gewinn entgangen sei. Der Geschädigte darf sich nicht auf allgemeine Darlegungen zum mutmaßlichen Gewinn beschränken, sondern er muss produktbezogene Ausführungen machen, um dem Gericht eine Schadensschätzung zu ermöglichen. Er ist gehalten, die Kalkulation für seine Ware zu offenbaren (Ströbele/Hacker MarkenG, 10. Aufl. 2012, § 14 MarkenG Rn 464) und muss insbesondere Erlöse und produktbezogene Kosten einander gegenüberstellen (BGH GRUR 1980, 841, 842 f. - Tolbutamid; BGH GRUR 1993, 757, 759 - Kollektion Holiday; OLG Köln GRUR-RR 2014, 329; BeckOK MarkenR/Goldmann, 26. Ed. 1.7.2021, MarkenG § 14 Rn 750.3). Vor diesem Hintergrund ist der Vortrag der Klägerin unzureichend, da sie lediglich eine allgemeine Gewinnspanne vorgetragen hat. Sie hätte zumindest die Gewinnspanne unter Darlegung der genannten Einzelheiten (Erlöse und Kosten) - bezogen auf die beanstandeten Modelle bzw. auf ihre mit diesen vergleichbaren Modellen - vortragen müssen. Diesen Vortrag hat sie auch nachdem der Senat in der mündlichen Verhandlung einen entsprechenden Hinweis erteilt hat, nicht gehalten.

Der Versuch der Klägerin, die Kalkulationsparameter hinter einer „Gutachtenwand“ zu verstecken, indem sie einem Privatgutachter diese zugänglich gemacht hat, diese aber nicht in das Gutachten Eingang gefunden haben, ist daher nicht erfolgreich. Soweit die Klägerin dem in der mündlichen Verhandlung entgegengehalten hat, §§ 252 BGB, 287 ZPO entbinde sie insoweit von der Darlegung der Kalkulationsgrundlagen und sie weiterhin ein Sachverständigengutachten angeboten hat, kann dies zu keinem anderen Ergebnis führen.

Die Bestimmung des § 252 S. 2 BGB, nach welcher der Gewinn als entgangen gilt, der nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder nach den besonderen Umständen, insbesondere nach den getroffenen Anstalten und Vorkehrungen, mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte, und die Vorschrift des § 287 ZPO, nach der das Gericht unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung darüber entscheidet, wie hoch sich ein unter den Parteien streitiger Schaden beläuft, entheben den Verletzten zwar der Notwendigkeit, den entgangenen Gewinn genau zu belegen. Sie ersparen es ihm jedoch nicht, dem Gericht eine tatsächliche Grundlage zu unterbreiten, die diesem eine wenigstens im Groben zutreffende Schätzung des entgangenen Gewinns ermöglicht (BGH GRUR 2016, 860 Rn 20, 21 - Deltmethrin II). Auf solche konkreten Anhaltspunkte kann nicht verzichtet werden, da der Schädiger sonst im Einzelfall der Gefahr einer willkürlichen Festsetzung der von ihm zu erbringenden Ersatzleistung ausgesetzt wäre. Bei aller Anerkennung des häufig bestehenden Beweisnotstandes des Geschädigten wäre dies mit dem Sinn und Zweck der §§ 287 ZPO, 252 BGB nicht zu vereinbaren.

bb) Auch im Hinblick auf die Kausalität fehlt es an einem schlüssigen Vortrag.

Dem Verletzten obliegt es, die Kausalität zwischen der Verletzung und dem ihm entgangenen Gewinn nachzuweisen. Die Befugnis zur Schätzung der Höhe des Gewinns schließt auch alle Kausalitäts- und Zurechnungsfragen mit ein (Goldmann WRP 2011, 950, 953). Für den Nachweis eines Schadens bestehen in der Natur der Sache liegende Beweisschwierigkeiten, vor allem was die künftige Entwicklung des Geschäftsverlaufs betrifft.

In dem vorliegenden besonderen Fall ist nicht hinreichend dargelegt, dass nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge ein Gewinn mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. Vielmehr liegen besondere Umstände vor, die so erhebliche Zweifel begründen, dass trotz des reduzierten Beweismaßstabes eine Kausalität zwischen rechtswidriger Handlung und dem behaupteten Schaden nicht dargelegt ist. Hier ist nämlich zum einen zu berücksichtigen, dass die Beklagte zu einem erheblich niedrigeren Preis geliefert hat. Bei gedanklichem Wegfall der Beklagten hätten nicht alle Kunden sicher bei der Klägerin gekauft, auch wenn es sich um notwendige Ware gehandelt hat, die von den Kunden benötigt wurde. Aufgrund der Tatsache, dass es in anderen EU-Ländern weitere Anbieter gab, die dort (legal) Ersatzteile für die Kupplungen angeboten haben, ist nämlich denkbar, dass ein Teil der Kunden der Beklagten sich im EU-Ausland eingedeckt hätte. Dort wäre dies auch legal gewesen, so dass dies bei der Schadensberechnung durchaus berücksichtigt werden kann. Im Gegensatz dazu sind ebenfalls rechtswidrige handelnde inländische Wettbewerber außer Betracht zu lassen. Der Beklagten ist es aus Rechtsgründen untersagt, dem Schadensersatzanspruch der Klägerin entgegenzuhalten, ihre Kunden hätten ihren Bedarf an Ersatzteilen bei anderen Anbietern gedeckt, die ihrerseits Ersatzteile ohne Zulassung vertrieben haben. Der Beklagten kann es nicht zum Vorteil gereichen, wenn sich andere Marktteilnehmer ebenfalls nicht nach den Vorschriften der StVZO richten (vgl. BGH GRUR 2016, 860, 864, Rn 39 - Deltamethrin II).

Vor allem aber hat die Beklagte fast die gesamte beauskunftete Ware an ihre Tochterfirma in Deutschland geliefert, die wiederum nach Auskunft der Beklagten nur in das Ausland geliefert haben soll. Damit wäre im Hinblick auf die Lieferungen an die deutsche Tochter der Beklagten ausgeschlossen, dass es zu irgendeiner Art von entgangenem Gewinn für die Klägerin gekommen ist. Durch die Weiterlieferung ins Ausland ist nämlich keinerlei inländischer Nachfrage bedient worden und damit der Klägerin kein Gewinn entgangen. Die deutsche Vertriebstochter der Beklagten hätte sich wiederum, wenn sie hypothetisch von der Beklagten nicht beliefert worden wäre, ganz sicher nicht bei der Klägerin eingedeckt. Die deutsche Tochter hatte nämlich die Aufgabe, (nur) die Produkte der Beklagten (in das Ausland) zu vertreiben. Sie ist insoweit nicht irgendeine Händlerin, die sich alternativ auch bei anderen Lieferanten eindeckt, sondern eine Händlerin, die eben nur bei der Beklagten einkauft. Ein Schadensersatz kommt daher von vorneherein nur hinsichtlich der anderen deutschen Abnehmer in Betracht. Es fehlt aber an einer entsprechenden Differenzierung. Die Abgrenzung der in das Inland und das Ausland gelieferten Teil wäre als anspruchsbegründenden Tatsache Sache der Klägerin.

Soweit die Klägerin dem entgegenhält, sie halte die entsprechende Auskunft der Beklagten für falsch, verkennt sie, dass sie für die anspruchsbegründenden Tatsachen die Darlegungs- und Beweislast trägt. Hält sie die von ihr selbst vorgetragenen Tatsachen für falsch, macht sie ihre Klage insoweit selbst unschlüssig. Dass dem eine Auskunft der Beklagten zugrunde lag, ändert nichts an der bestehenden Darlegungs- und Beweislast. Der Klägerin hätte bei Zweifeln an der Richtigkeit der Auskunft einen Antrag auf eidesstattliche Versicherung stellen müsse, um die Grundlage für ihre geltend gemachten Schadensersatzansprüche zu validieren."


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BVerfG: Fachreferentin der Amadeu-Antonio-Stiftung durfte Sänger Xavier Naidoo im Rahmen eines Vortrags als Antisemiten bezeichnen

BVerfG
Beschluss vom 11.11.2021
1 BvR 11/20


Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass eine Fachreferentin der Amadeu-Antonio-Stiftung den Sänger Xavier Naidoo im Rahmen eines Vortrags als Antisemiten bezeichnen durfte.

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die zivilrechtliche Verurteilung der Beschwerdeführerin zur Unterlassung einer Äußerung.

1. Die Beschwerdeführerin hielt als Fachreferentin der (…) Stiftung im Sommer 2017 einen Vortrag zum Thema „Reichsbürger – Verschwörungsideologie mit deutscher Spezifik“. Nach dem Vortrag, in dem der Kläger des Ausgangsverfahrens auf einer von der Beschwerdeführerin erstellten Folie genannt, aber nicht weiter beleuchtet worden war, erfolgte aus dem Publikum die Nachfrage, wie die Beschwerdeführerin den Kläger des Ausgangsverfahrens einstufe. Die Beschwerdeführerin äußerte:

„Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaub ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar.“

2. Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist ein bekannter deutscher Sänger. Im Jahr 2009 verfasste er unter anderem das Lied „Raus aus dem Reichstag“, in dessen vierter Strophe es heißt: „Wie die Jungs von der Keinherzbank, die mit unserer Kohle zocken / Ihr wart sehr, sehr böse, steht bepisst in euren Socken / Baron Totschild gibt den Ton an und er scheißt auf euch Gockel / Der Schmock ist'n Fuchs und ihr seid nur Trottel“. Weiter heißt es in dem Liedtext „Marionetten“ aus dem Jahr 2017 auszugsweise: „Wie lange wollt ihr noch Marionetten sein / Seht ihr nicht, ihr seid nur Steigbügelhalter / Merkt ihr nicht, ihr steht bald ganz allein / Für eure Puppenspieler seid ihr nur Sachverwalter“. Im Jahr 2014 hielt der Kläger des Ausgangsverfahrens eine Rede bei einer Versammlung sogenannter Reichsbürger vor dem Reichstag. Im Interview mit einer Zeitschrift im Jahr 2015 äußerte sich der Kläger des Ausgangsverfahrens dazu, ob es berechtigt sei, Deutschland für besetzt zu halten. Die Liedtexte, Äußerungen sowie die daraus hervorgehende politische Einstellung des Klägers des Ausgangsverfahrens waren unter anderem Gegenstand eines Berichts des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestages (BTDrucks 18/11970 vom 7. April 2017) sowie mehrerer Artikel in Zeitschriften und Zeitungen.

[...]

1. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen Fragen im Bereich des Äußerungsrechts und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bereits entschieden (vgl. BVerfGE 85, 1; 99, 185; 114, 339). Dies gilt namentlich für die Abgrenzung von Meinungsäußerungen und Tatsachenbehauptungen (BVerfGE 85, 1 <13 ff.>) sowie die notwendige, unter interpretationsleitender Berücksichtigung der Grundrechte stattfindenden Sinnermittlung bei Meinungsäußerungen (BVerfGE 85, 1 <13>; 114, 339 <348>; 152, 152 <185 f. Rn. 78>). Danach ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet.

2. Die Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

a) Auslegung und Anwendung der einschlägigen zivilrechtlichen Bestimmungen ist Aufgabe der ordentlichen Gerichte. Bei ihrer Entscheidung haben sie jedoch dem Einfluss der Grundrechte auf die Vorschriften des Zivilrechts Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 7, 198 <208>; 85, 1 <13>; stRspr). Handelt es sich um Gesetze, die die Meinungsfreiheit beschränken, ist dabei nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das eingeschränkte Grundrecht zu beachten, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 <208 f.>). Ein Verstoß gegen Verfassungsrecht, den das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hat, liegt erst vor, wenn eine gerichtliche Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 <93>; 42, 143 <149>; 85, 1 <13>). Handelt es sich um Eingriffe in die Meinungsfreiheit, kann dies allerdings schon bei unzutreffender Erfassung oder Würdigung einer Äußerung der Fall sein (BVerfGE 85, 1 <13>).

b) Zivilrechtliche Grundlage zur Durchsetzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch einen Anspruch auf Unterlassung beeinträchtigender Äußerungen sind § 1004 Abs. 1 und § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 186 StGB. Die Belange der Meinungsfreiheit finden demgegenüber vor allem in § 193 StGB Ausdruck, der bei der Wahrnehmung berechtigter Interessen eine Verurteilung wegen ehrverletzender Äußerungen ausschließt und – vermittelt über § 823 Abs. 2 BGB, sonst seinem Rechtsgedanken nach – auch im Zivilrecht zur Anwendung kommt (vgl. BVerfGE 99, 185 <195 f.>; 114, 339 <347>). Diese Vorschriften tragen dem Umstand Rechnung, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht vorbehaltlos gewährleistet ist. Nach Art. 2 Abs. 1 GG wird es durch die verfassungsmäßige Ordnung einschließlich der Rechte anderer beschränkt. Zu diesen Rechten gehört auch die Freiheit der Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Auch diese ist nicht vorbehaltlos garantiert. Sie findet nach Art. 5 Abs. 2 GG ihre Schranken unter anderem in den allgemeinen Gesetzen und in dem Recht der persönlichen Ehre (vgl. BVerfGE 114, 339 <347>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. Dezember 2011 - 1 BvR 2678/10 -, Rn. 32).

Bei der Auslegung und Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften müssen die zuständigen Gerichte die betroffenen Grundrechte interpretationsleitend berücksichtigen, damit deren wertsetzender Gehalt auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 <205 ff.>; 85, 1 <13>; 114, 339 <348>; 152, 152 <185 Rn. 76 f.>; stRspr). Die Zivilgerichte verstehen das allgemeine Persönlichkeitsrecht in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise als einen offenen Tatbestand, bei dem die Feststellung einer rechtswidrigen Verletzung eine ordnungsgemäße Abwägung voraussetzt (vgl. BGHZ 45, 296 <307 f.>; 50, 133 <143 f.>; 73, 120 <124>; BVerfGE 114, 339 <348>). In Fällen der vorliegenden Art ist eine Abwägung zwischen der Schwere der Persönlichkeitsbeeinträchtigung durch die Äußerung einerseits und der Einbuße an Meinungsfreiheit durch die Untersagung der Äußerung andererseits vorzunehmen. Im Zuge der Abwägung sind die grundrechtlichen Vorgaben zu berücksichtigen. Das Ergebnis dieser Abwägung lässt sich wegen der Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls nicht generell und abstrakt vorausbestimmen (vgl. BVerfGE 114, 339 <348>).

Weichenstellend für die Prüfung einer Grundrechtsverletzung ist die Erfassung des Inhalts der Aussage, insbesondere die Klärung, in welcher Hinsicht sie ihrem objektiven Sinn nach das Persönlichkeitsrecht des Klägers des Ausgangsverfahrens beeinträchtigt. Maßgeblich für die Deutung ist weder die subjektive Absicht der sich Äußernden noch das subjektive Verständnis des von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums hat (vgl. BVerfGE 93, 266 <295>; 114, 339 <348>). Fernliegende Deutungen sind auszuscheiden (vgl. BVerfGE 93, 266 <296>; 114, 339 <348>). Ist der Sinn unter Zugrundelegung dieses Maßstabs eindeutig, ist er der weiteren Prüfung zu Grunde zu legen. Zeigt sich aber, dass ein unvoreingenommenes und verständiges Publikum die Äußerung als mehrdeutig wahrnimmt oder verstehen erhebliche Teile des Publikums den Inhalt jeweils unterschiedlich, ist bei der weiteren Prüfung von einem mehrdeutigen Inhalt auszugehen (vgl. BVerfGE 114, 339 <348>).

c) Diesen Erfordernissen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht in hinreichendem Maße gerecht. Sie verkennen im Ergebnis die Voraussetzungen einer verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Sinnermittlung, die vom Wortlaut der Äußerung ausgeht und Kontext und Begleitumstände berücksichtigt (BVerfGE 93, 266 <295>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 21. Dezember 2016 - 1 BvR 1081/15 -, Rn. 21). Weiter verkennen sie im Ergebnis die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit im öffentlichen Meinungskampf, die bei öffentlich zur Diskussion gestellten, gesellschaftliches Interesse erregenden Beiträgen auch mit scharfen Äußerungen gebraucht werden darf (vgl. BVerfGE 54, 129 <138>; 68, 226 <231 f.>; 82, 236 <260>).

aa) Zutreffend rügt die Verfassungsbeschwerde, dass die Fachgerichte bei der vorzunehmenden Sinndeutung der streitgegenständlichen Äußerung zu einem fernliegenden, dem fachgerichtlichen Wertungsrahmen nicht mehr gerecht werdenden Ergebnis gekommen sind. Eine für die Klärung der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Klägers des Ausgangsverfahrens entscheidende konkrete Sinndeutung der Äußerung der Beschwerdeführerin hat das Berufungsgericht bereits nicht vorgenommen. Es hat sich – abstrakt – mit verschiedenen Definitionsansätzen für Antisemitismus befasst und die Äußerung wiederholt als Meinungsäußerung qualifiziert, ohne ihr einen konkreten Deutungsgehalt zuzuweisen.

Ausgehend von den oben genannten Grundsätzen ist die Äußerung der Beschwerdeführerin

„Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaube ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar.“

anlässlich eines Vortrags zum Thema „Reichsbürger – Verschwörungsideologie mit deutscher Spezifik“ auf Frage aus dem Publikum, wie sie den Kläger des Ausgangsverfahrens in diesem Zusammenhang einstufe, indes unzweideutig dahingehend zu verstehen, die Beschwerdeführerin halte den Kläger des Ausgangsverfahrens für jemanden, der den sogenannten Reichsbürgern nahestehe, der als sogenannter Souveränist das Anliegen verfolge, die nach seiner Ansicht fehlende Souveränität Deutschlands (wieder)herzustellen, und der in diesem Kontext auch antisemitisches Gedankengut weitertrage. Die Rezipienten in der konkreten Veranstaltung durften die Äußerung der Beschwerdeführerin dahingehend verstehen, sie halte die vom Kläger des Ausgangsverfahrens in seinen Werken transportierten Ansichten für antisemitisch, also feindlich gegenüber Juden eingestellt; für diese Bewertung bestünden – die Beschwerdeführerin setzt sich als Fachreferentin der (…) Stiftung beruflich mit der Thematik auseinander – entsprechende Anknüpfungspunkte. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts bedurfte es daher mangels Mehrdeutigkeit der Aussage vorliegend keiner Heranziehung der in der Entscheidung vom 25. Oktober 2005 - 1 BvR 1696/98 -, (BVerfGE 114, 339 <350>) vom Bundesverfassungsgericht niedergelegten Grundsätze zur Auslegung mehrdeutiger Meinungsäußerungen. Die Äußerung der Beschwerdeführerin ist entgegen dem Berufungsgericht auch nicht dahingehend zu verstehen, der Kläger des Ausgangsverfahrens sei eine Person, die die personale Würde von Menschen jüdischer Abstammung durch nationalsozialistisch fundiertes Gedankengut grob verletze und möglicherweise in diesem Sinn sogar handlungsbereit sei. Diese Sinndeutung ist fernliegend.


bb) Ebenfalls zutreffend rügt die Beschwerdeführerin, dass die Fachgerichte bei ihrer Abwägung verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft davon ausgegangen sind, es falle entscheidungserheblich zu ihrer Last, dass der tatsächliche Gehalt ihrer Äußerung unrichtig sei und sie die Richtigkeit ihrer Äußerung nicht habe belegen können. Im Ausgangspunkt zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass im Rahmen der Abwägung zwischen den widerstreitenden Rechtspositionen berücksichtigt werden kann, dass eine Tatsachenbehauptung, auf der eine Wertung aufbaut, unrichtig ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juli 2003 - 1 BvR 1172/99 -, juris, Rn. 26). Der in der Äußerung enthaltene Satz „Aber das ist strukturell nachweisbar.“ ist jedoch keine Tatsachenbehauptung, auf der die Bewertung des Klägers des Ausgangsverfahrens als Antisemit aufbaut. Auf eine fehlende Beweisbarkeit eines strukturellen Nachweises kommt es damit nicht an.

cc) Verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft ist weiter die Annahme des Berufungsgerichts, im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen sei der Vorhalt des Antisemitismus bei einem Sänger, der von der Interaktion mit dem Publikum abhängig sei und im besonderen Maße im Licht der Öffentlichkeit stehe, besonders schwerwiegend. Das Berufungsgericht verkennt im Ergebnis die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit, da die Beschwerdeführerin mit ihrem Beitrag nicht lediglich eine private Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen geführt hat, sondern im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage erörtert – namentlich ob der Kläger als bekannter Sänger in seinen Liedtexten und durch seine Äußerungen antisemitische Klischees und Ressentiments bedient. Auch eine überspitzte Meinungsäußerung unterliegt der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Selbstbestimmung der Äußernden (vgl. BVerfGE 54, 129 <138 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 10. März 2016 - 1 BvR 2844/13 -, Rn. 24). Zudem muss, wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert (vgl. BVerfGE 12, 113 <131>; 24, 278 <286>; 54, 129 <138>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 10. März 2016 - 1 BvR 2844/13 -, Rn. 25).

Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat sich mit seinen streitbaren politischen Ansichten freiwillig in den öffentlichen Raum begeben. Er beansprucht für sich entsprechend öffentliche Aufmerksamkeit (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 1094/19 -, Rn. 25). Schon deshalb liegt die Annahme, die Aussage der Beschwerdeführerin habe eine Prangerwirkung, völlig fern. Ihm mit Hinweis auf sein Bestreben nach öffentlicher Aufmerksamkeit und eine Abhängigkeit von der Zustimmung eines Teils des Publikums den vom Berufungsgericht beschriebenen besonderen Schutz zuteilwerden zu lassen, hieße Kritik an den durch ihn verbreiteten politischen Ansichten unmöglich zu machen. Zur öffentlichen Meinungsbildung muss eine daran anknüpfende Diskussion möglich sein. Gegen die Meinung der Beschwerdeführerin könnte sich der Kläger des Ausgangsverfahrens im Meinungskampf seinerseits wieder öffentlich zur Wehr setzen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. September 2012 - 1 BvR 2979/10 -, Rn. 35 mit Verweis auf BVerfGE 54, 129 <138>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. April 1999 - 1 BvR 2126/93 -, NJW 1999, S. 2358).

3. Die Entscheidungen beruhen auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist nicht auszuschließen, dass die Fachgerichte bei erneuter Befassung unter angemessener Berücksichtigung der erfolgten Grundrechtsbeeinträchtigung auf der einen und der Bedeutung der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommen werden.

4. Die Endurteile des Oberlandesgerichts Nürnberg und des Landgerichts Regensburg sind demnach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Land-gericht zurückzuverweisen.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BGH: Käufer muss für Vermutungswirkung nach § 477 BGB darlegen und beweisen dass sich an der Kaufsache 6 Monate nach Gefahrübergang ein Mangel gezeigt hat

BGH
Urteil vom 10.11.2021
VIII ZR 187/20
BGB §§ 13, 14 Abs. 1, § 434 Abs. 1 Satz 1, § 437 Nr. 3, § 476 (nunmehr - wortgleich - § 477 BGB); HGB § 344 Abs. 1


Der BGH hat entschieden, dass der Käufer für die Vermutungswirkung nach § 477 BGB darlegen und beweisen muss, dass sich an der Kaufsache 6 Monate nach Gefahrübergang ein Mangel gezeigt hat.

Leitsätze des BGH:

a) Die Vermutung des § 344 Abs. 1 HGB, wonach die von einem Kaufmann vorgenommenen Rechtsgeschäfte im Zweifel als zum Betrieb seines Handelsgewerbes gehörig gelten, findet im Rahmen der Einordnung des rechtsgeschäftlichen Handelns eines Kaufmanns als Verbraucher- oder Unternehmerhandeln nach §§ 13, 14 Abs. 1 BGB jedenfalls dann keine Anwendung, wenn es sich bei dem Kaufmann um eine natürliche Person (Einzelkaufmann) handelt (Fortentwicklung des Senatsurteils vom 18. Oktober 2017 - VIII ZR 32/16, NJW 2018, 150 Rn. 37; Abgrenzung zu BGH, Urteile vom 13. Juli 2011 - VIII ZR 215/10, NJW 2011, 3435 Rn. 19; vom 9. Dezember 2008 - XI ZR 513/07, BGHZ 179, 126 Rn. 22).

b) Die Vermutung des § 476 BGB aF greift nur dann ein, wenn der Käufer darlegt und erforderlichenfalls beweist, dass sich an der Kaufsache innerhalb von sechs Monaten nach Gefahrübergang ein mangelhafter Zustand (Mangelerscheinung) gezeigt hat, der - unterstellt, er hätte seine Ursache in einem dem Verkäufer zuzurechnenden Umstand - dessen Haftung wegen einer Abweichung von der geschuldeten Beschaffenheit begründete (im Anschluss an Senatsurteile vom 12. Oktober 2016 - VIII ZR 103/15, BGHZ 212, 224 Rn. 36; vom 9. September 2020 - VIII ZR 150/18, NJW 2021, 151 Rn. 27 ff.). Kommt als Ursache für eine festgestellte Mangelerscheinung (auch) ein Umstand
in Betracht, der eine Haftung des Verkäufers nicht zu begründen vermag - wie das bei gewöhnlichem Verschleiß an nicht sicherheitsrelevanten Teilen eines Gebrauchtwagens regelmäßig der Fall ist (vgl. Senatsurteil vom 9. September 2020 - VIII ZR 150/18, aaO Rn. 22 f. mwN) -, ist dieser Beweis erst erbracht, wenn feststeht, dass die Ursache ebenfalls in einem Umstand liegen kann, der - sofern er dem Verkäufer zuzurechnen wäre - dessen Haftung auslöste.

c) Der Regelung des § 476 BGB aF ist (jedenfalls) in den Fällen, in denen der Käufer innerhalb der Sechsmonatsfrist des § 476 BGB aF alle Voraussetzungen für die Entstehung des betreffenden Mangelrechts geschaffen und dieses gegenüber dem Verkäufer geltend gemacht hat, eine "Ausstrahlungswirkung" dergestalt beizumessen, dass bezogen auf diejenigen - für die Durchsetzung des Mangelrechts neben dem Zeitpunkt des Gefahrübergangs jeweils zusätzlich maßgeblichen - späteren Zeitpunkte, die innerhalb des Sechsmonatszeitraums liegen (etwa der Zeitpunkt des Zugangs des Gewährleistungsbegehrens), ebenfalls die Darlegung und der Nachweis des Vorhandenseins einer Mangelerscheinung ausreicht. Darüber hinaus wirkt die Bestimmung des § 476 BGB aF in den genannten Fällen dahingehend fort, dass der Käufer - soweit er auch das Vorliegen eines Mangels zu Zeitpunkten, die außerhalb der Sechsmonatsfrist des § 476 BGB aF liegen (etwa im Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung), zu beweisen hat - ebenfalls lediglich das Fortbestehen der jeweiligen nachweislich innerhalb der Frist des § 476 BGB aF aufgetretenen Mangelerscheinung bis zu diesen Zeitpunkten, nicht aber deren Verursachung durch den Verkäufer nachzuweisen hat.

d) Der kaufvertragliche Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung (kleiner Schadensersatz) gemäß § 437 Nr. 3, §§ 280, 281 Abs. 1 BGB kann nach wie vor anhand der sogenannten fiktiven Mangelbeseitigungskosten bemessen werden (im Anschluss an BGH, Urteil vom 12. März 2021 - V ZR 33/19, NJW 2021, 1532 Rn. 11, zur Veröffentlichung in BGHZ 229, 115 bestimmt; Beschluss vom 13. März 2020 - V ZR 33/19, ZIP 2020, 1073 Rn. 41 ff. mwN; Abgrenzung zu BGH, Urteil vom 22. Februar 2018 - VII ZR 46/17, BGHZ 218, 1 Rn. 31 ff.).

BGH, Urteil vom 10. November 2021 - VIII ZR 187/20 - OLG Düsseldorf - LG Düsseldorf

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

LG Saarbrücken legt EuGH Fragen zum Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens aus Art. 82 Abs. 1 DSGVO zur Entscheidung vor

LG Saarbrücken
Beschluss vom 22.11.2021
5 O 151/19

Das LG Saarbrücken hat dem EuGH Fragen zum Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens aus Art. 82 Abs. 1 DSGVO zur Entscheidung vorgelegt.

Die Vorlagefragen:

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Auslegung von Kapitel VIII, insbesondere von Art. 82 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz- Grundverordnung, DSGVO) vorgelegt:

1. Ist der Begriff des immateriellen Schadens in Art. 82 Abs. 1 DSGVO im Hinblick auf den Erwägungsgrund 85 und den Erwägungsgrund 146 S. 3 EUV 2016/679 in dem Sinne zu verstehen, dass er jede Beeinträchtigung der geschützten Rechtsposition erfasst, unabhängig von deren sonstigen Auswirkungen und deren Erheblichkeit ?

2. Wird die Haftung auf Schadenersatz gemäß Art. 82 Abs. 3 DSGVO dadurch ausgeschlossen, dass der Rechtsverstoß auf menschliches Versagen im Einzelfall einer im Sinne von Art. 29 DSGVO unterstellten Person zurückgeführt wird ?

3. Ist bei der Bemessung des immateriellen Schadenersatzes eine Orientierung an den in Art. 83 DSGVO, insbesondere Art. 83 Abs. 2 und Abs. 5 DSGVO genannten Zumessungskriterien erlaubt bzw. geboten ?

4. Ist der Schadenersatz für jeden einzelnen Verstoß zu bestimmen oder werden mehrere - zumindest mehrere gleichgelagerte - Verstöße mit einer Gesamtentschädigung sanktioniert, die nicht durch eine Addition von Einzelbeträgen ermittelt wird, sondern auf einer wertenden Gesamtbetrachtung beruht ?

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:


EuGH: Bei verunglimpfenden Äußerungen im Internet kann Schadensersatz vor Gericht in jedem Mitgliedsstaat eingeklagt werden wo der Inhalt aufrufbar war

EuGH
Urteil vom 21.12.2021
C-251/20
Gtflix Tv gegen DR


Der EuGH hat entschieden, dass bei verunglimpfenden Äußerungen im Internet Schadensersatz vor Gericht in jedem Mitgliedsstaat eingeklagt werden kann, wo der Inhalt aufrufbar war. Dabei kann aber nur Schadensersatz hinsichtlich des im jeweiligen Mitgliedsland entstandenen Schadens eingeklagt werden.

Die Pressemitteilung des EuGH:

Verbreitung angeblich verunglimpfender Äußerungen über das Internet: Ersatz des dadurch im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entstandenen Schadens kann vor den Gerichten dieses Mitgliedstaates eingeklagt werden

Diese Zuständigkeit setzt lediglich voraus, dass der verletzende Inhalt in diesem Hoheitsgebiet zugänglich ist oder war.

Gtflix Tv (im Folgenden: Antragstellerin) ist eine Gesellschaft mit Sitz in der Tschechischen Republik, die audiovisuelle Inhalte für Erwachsene produziert und verbreitet. DR, der seinen Wohnsitz in Ungarn hat, ist beruflich im selben Bereich tätig.

Die Antragstellerin, die DR vorwirft, er habe sich auf verschiedenen Websites verunglimpfend über sie geäußert, beantragte bei den französischen Gerichten zum einen die Entfernung dieser Äußerungen sowie die Richtigstellung der veröffentlichten Angaben und zum anderen Ersatz für den durch diese Äußerungen entstandenen Schaden. Die französischen Gerichte sowohl des ersten als auch des zweiten Rechtszugs erklärten sich für unzuständig.

Vor der Cour de cassation (Frankreich) verlangt die Antragstellerin nun Aufhebung des Urteils der Cour d’appel (Berufungsgericht). Dieses Gericht habe gegen die besondere Zuständigkeitsregel des Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/20121 verstoßen, wonach die Gerichte „des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht“, zuständig seien, indem sie die Zuständigkeit der französischen Gerichte mit der Begründung ausgeschlossen habe, dass es nicht ausreiche, dass die als verunglimpfend erachteten Äußerungen, die im Internet veröffentlicht wurden, im Zuständigkeitsbereich dieses Gerichts zugänglich seien, sondern dass sie zudem geeignet sein müssten, in diesem Zuständigkeitsbereich einen Schaden zu verursachen.

Da nach Auffassung des vorlegenden Gerichts der Mittelpunkt der Interessen der Antragstellerin in der Tschechischen Republik liegt und DR seinen Wohnsitz in Ungarn hat, hat es entschieden, dass die französischen Gerichte für die Entscheidung über den Antrag auf Entfernung angeblich verunglimpfender Äußerungen und die Richtigstellung der veröffentlichten Angaben unzuständig seien. Das vorlegende Gericht hat jedoch dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob die französischen Gerichte für die Entscheidung über den Antrag auf Ersatz des Schadens zuständig sind, der der Antragstellerin im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats dieser Gerichte entstanden ist, selbst wenn sie nicht für die Entscheidung über den Antrag auf Richtigstellung und Entfernung zuständig sind.

Der Gerichtshof (Große Kammer) erläutert in seinem Urteil, wie bei Klagen betreffend über das Internet verursachte Schäden das unter dem Gesichtspunkt des Ortes der Verwirklichung des Schadenserfolgs zuständige Gericht zu bestimmen ist.

Würdigung durch den Gerichtshof
Der Gerichtshof stellt fest, dass eine Person, die der Ansicht ist, dass ihre Rechte durch die Verbreitung verunglimpfender Äußerungen über sie im Internet verletzt worden seien, und die sowohl auf Richtigstellung der Angaben und Entfernung der sie betreffenden veröffentlichten Inhalte als auch auf Ersatz des aus dieser Veröffentlichung entstandenen Schadens klagt, vor den
Gerichten jedes Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet diese Äußerungen zugänglich sind oder waren, Ersatz des Schadens verlangen kann, der ihr in dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts entstanden sein soll, selbst wenn diese Gerichte nicht für die Entscheidung über den Antrag auf Richtigstellung und Entfernung zuständig sind.

Zur Begründung dieses Ergebnisses weist der Gerichtshof darauf hin, dass nach seiner Rechtsprechung die besondere Zuständigkeitsregel des Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012, wonach die Gerichte „des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht“, zuständig sind, sowohl den Ort des ursächlichen Geschehens als auch
den Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs meint und jeder der beiden Orte je nach Lage des Falles für die Beweiserhebung und für die Gestaltung des Prozesses einen besonders sachgerechten Anhaltspunkt liefern kann.

Was mutmaßliche Verstöße gegen die Persönlichkeitsrechte mittels auf einer Website veröffentlichter Inhalte betrifft, weist der Gerichtshof auch darauf hin, dass die Person, die sich in ihren Rechten verletzt fühlt, die Möglichkeit hat, entweder, unter dem Gesichtspunkt des Ortes des ursächlichen Geschehens, bei den Gerichten des Ortes, an dem der Urheber dieser Inhalte niedergelassen ist, oder, unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichung des Schadenserfolgs, bei den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Interessen befindet, eine Klage auf Ersatz des gesamten entstandenen Schadens zu erheben.

Anstelle einer Klage auf Ersatz des gesamten entstandenen Schadens kann diese Person ihre Klage auch vor den Gerichten jedes Mitgliedstaats erheben, in dessen Hoheitsgebiet ein im Internet veröffentlichter Inhalt zugänglich ist oder war. Diese sind jedoch nur für die erhobenen Beweise den Eintritt und die Höhe des geltend gemachten Schadens zu beurteilen.

Schließlich setzt die Zuständigkeit dieser Gerichte für die Entscheidung allein über Schäden, die im Hoheitsgebiet ihres Mitgliedstaats entstanden sind, lediglich voraus, dass der verletzende Inhalt in diesem Hoheitsgebiet zugänglich ist oder war, da Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 insoweit keine zusätzliche Voraussetzung enthält. Die Einführung zusätzlicher Voraussetzungen könnte in der Praxis dazu führen, dass der betroffenen Person die Möglichkeit genommen würde, vor den Gerichten des Ortes, in deren Zuständigkeitsbereich sie meint, einen Schaden erlitten zu haben, auf teilweisen Ersatz des Schadens zu klagen.

Entscheidung über den Schaden zuständig, der im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats des angerufenen Gerichts verursacht worden ist. Folglich kann gemäß Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 in seiner Auslegung durch die bisherige Rechtsprechung eine Person, die sich durch die Veröffentlichung von Angaben auf einer Website in ihren Rechten verletzt fühlt, einen auf Richtigstellung dieser Angaben und Entfernung der veröffentlichten Inhalte gerichteten Antrag entweder bei den Gerichten stellen, die für die Entscheidung über einen Antrag auf Ersatz des gesamten Schadens zuständig sind, d. h. entweder, unter dem Gesichtspunkt des Ortes des ursächlichen Geschehens, bei den Gerichten des Ortes, an dem der Urheber dieser Inhalte niedergelassen ist, oder, unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichung des Schadenserfolgs, bei den Gerichten, in deren Zuständigkeitsbereich sich der Mittelpunkt der Interessen der betroffenen Person befindet.

Hierzu führt der Gerichtshof aus, dass ein Antrag auf Richtigstellung von Angaben und Entfernung von Inhalten nicht bei einem anderen als dem Gericht gestellt werden kann, das für die Entscheidung über den gesamten Schadensersatzantrag zuständig ist, weil ein solcher Antrag auf Richtigstellung und Entfernung einheitlich und untrennbar ist.

Dagegen kann sich ein Antrag auf Schadensersatz entweder auf den vollständigen oder auf den teilweisen Ersatz eines Schadens beziehen. Somit wäre es nicht gerechtfertigt, aus diesem Grund dem Antragsteller die Möglichkeit zu nehmen, vor einem anderen Gericht, in dessen Zuständigkeitsbereich er meint, einen Schaden erlitten zu haben, teilweisen Ersatz des Schadens zu beantragen.

Im Übrigen ist der Ausschluss einer solchen Möglichkeit auch nicht im Hinblick auf eine geordnete Rechtspflege geboten, da ein lediglich für die Entscheidung über den in seinem Mitgliedstaat entstandenen Schaden zuständiges Gericht durchaus in der Lage ist, im Rahmen eines in diesem Mitgliedstaat durchgeführten Verfahrens und in Anbetracht der in diesem Mitgliedstaat erhobenen Beweise den Eintritt und die Höhe des geltend gemachten Schadens zu beurteilen.

Schließlich setzt die Zuständigkeit dieser Gerichte für die Entscheidung allein über Schäden, die im Hoheitsgebiet ihres Mitgliedstaats entstanden sind, lediglich voraus, dass der verletzende Inhalt in diesem Hoheitsgebiet zugänglich ist oder war, da Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 insoweit keine zusätzliche Voraussetzung enthält. Die Einführung zusätzlicher Voraussetzungen könnte in der Praxis dazu führen, dass der betroffenen Person die Möglichkeit genommen würde, vor den Gerichten des Ortes, in deren Zuständigkeitsbereich sie meint, einen Schaden erlitten zu haben, auf teilweisen Ersatz des Schadens zu klagen.


Tenor der Entscheidung:

Art. 7 Nr. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass eine Person, die der Ansicht ist, dass ihre Rechte durch die Verbreitung verunglimpfender Äußerungen über sie im Internet verletzt worden seien, und die sowohl auf Richtigstellung der Angaben und Entfernung der sie betreffenden veröffentlichten Inhalte als auch auf Ersatz des durch diese Veröffentlichung entstandenen Schadens klagt, vor den Gerichten jedes Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet diese Äußerungen zugänglich sind oder waren, Ersatz des Schadens verlangen kann, der ihr in dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts entstanden sein soll, selbst wenn diese Gerichte nicht für die Entscheidung über den Antrag auf Richtigstellung und Entfernung zuständig sind.

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier: