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EuGH-Generalanwältin: Europäische harmonisierte technische Normen müssen als unionsrechtliche Rechtsakte frei und kostenlos zugänglich sein

EuGH-Generalanwältin
Schlussanträge vom 22.06.2023
C-588/21 P
Public.Resource.Org und Right to Know / Kommission u. a.

Die EuGH-Generalanwältin kommt in ihren Schlussanträgen zu dem Ergebnis, dass europäische harmonisierte technische Normen als unionsrechtliche Rechtsakte frei und kostenlos zugänglich sein müssen.

Die Pressemitteilung des EuGH:
Nach Ansicht von Generalanwältin Medina müssen europäische harmonisierte technische Normen wegen ihrer besonderen Rechtsnatur als unionsrechtliche Rechtsakte, frei und kostenlos zugänglich sein

Der Gerichtshof sollte das angefochtene Urteil aufheben und einen Beschluss der Kommission, mit dem der Zugang zu den angeforderten harmonisierten technischen Normen verweigert wurde, für nichtig erklären.

Die Public.Resource.Org Inc. und die Right to Know CLG sind zwei gemeinnützige Organisationen, deren vorrangige Aufgabe darin besteht, das Rechtssystem allen Bürgern frei zugänglich zu machen. Diese Organisationen erhoben beim Gericht Klage gegen einen Beschluss der Kommission, mit dem ihnen der Zugang zu vier vom Europäischen Komitee für Normung (CEN) angenommenen harmonisierten technischen Normen (HTN) insbesondere zur Spielzeugsicherheit verweigert worden war. Da ihre Klage ohne Erfolg blieb, legten sie gegen das Urteil des Gerichts ein Rechtsmittel beim Gerichtshof ein.

In ihren heutigen Schlussanträgen befasst sich Generalanwältin Laila Medina mit der Frage, ob die Rechtsstaatlichkeit sowie der Grundsatz der Transparenz und das Recht auf Zugang zu Dokumenten der Unionsorgane verlangen, dass HTN frei und kostenlos zugänglich sind.

Die Organisationen haben vorgetragen, dass dem Gericht durch eine fehlerhafte Beurteilung des urheberrechtlichen Schutzes für die angeforderten HTN ein Rechtsfehler unterlaufen sei. Sie meinen, HTN könnten nicht urheberrechtlich geschützt sein, da sie Teil des Unionsrechts seien und die Rechtsstaatlichkeit einen freien Zugang zum Recht gebiete. Generalanwältin Medina legt dar, dass der Gerichtshof bereits anerkannt habe, dass HTN Rechtswirkungen hätten, Teil des Unionsrechts seien und verbindlich sein könnten, wohingegen er sich noch nicht zu ihrer genauen Natur geäußert habe.

Die Generalanwältin prüft sodann die genaue Natur von HTN als Rechtsakte, die Teil des Unionsrechts seien. Sie meint, dass HTN nicht bloß Durchführungsmaßnahmen einer privaten Einrichtung (nämlich einer der drei europäischen Normungsorganisationen, etwa des CEN) seien, sondern dass sie – im Rahmen des vom Unionsgesetzgeber errichteten Normungssystem der Europäischen Union – als von der Kommission erlassen anzusehen seien bzw. dass zumindest davon auszugehen sei, dass die Kommission zusammen mit der betreffenden europäischen Normungsorganisation für die Annahme der HTN verantwortlich sei. Auch das Verfahren zur Annahme von HTN bestätige die entscheidende Rolle der Kommission, da die Kommission den gesamten Prozess zur Erstellung von HTS leite und u. a. aus dem vorbereitenden Dokument einen Rechtsakt mache, der Teil des Unionsrechts sei, wenn sie die Fundstelle der betreffenden HTN im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentliche.

In Bezug auf die Rechtswirkungen von HTN ist Generalanwältin Medina der Auffassung, dass die Einhaltung von HTN die Vermutung der Konformität mit den wesentlichen Anforderungen des abgeleiteten Unionsrechts begründe. Das bedeute, dass HTN für jede natürliche oder juristische Person, die diese Vermutung in Bezug auf ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung in Frage stellen möchte, tatsächlich die gleiche Wirkung hätten wie eine verbindliche Vorschrift. Ferner wirke sich die Bezugnahme auf eine HTN im Streitfall unmittelbar auf die Beweislast aus. Schließlich müsse jeder Mitgliedstaat nach Fertigstellung von HTN und Veröffentlichung ihrer Fundstelle im Amtsblatt der Europäischen Union jede HTN – unverändert – als nationale Norm übernehmen und entgegenstehende Normen innerhalb von sechs Monaten zurückziehen.

Sodann prüft Generalanwältin Medina die Auswirkungen des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit auf HTN und legt dar, dass die Rechtsstaatlichkeit verlange, dass alle natürlichen und juristischen Personen in der Europäischen Union freien Zugang zum Unionsrecht hätten. Die Generalanwältin meint, dass sich der Gerichtshof an den Grundsatz der Transparenz halten sollte, da keinem Bürger die Möglichkeit vorenthalten werden dürfe, „offiziell“ vom Inhalt der HTN Kenntnis zu nehmen, die ihn unmittelbar oder mittelbar betreffen könnten. In diesem Zusammenhang kommt die Generalanwältin zu dem Ergebnis, dass der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit einen freien und kostenlosen Zugang zu HTN verlange. Als Harmonisierungsmaßnahmen, die Teil des Unionsrechts seien, abgeleitetes Unionsrecht umsetzten und Rechtswirkungen erzeugten, sollten HTN demnach im Amtsblatt veröffentlicht werden, um ihre Durchsetzbarkeit und Zugänglichkeit sicherzustellen.

Generalanwältin Medina ist der Auffassung, dass HTN für die Zwecke des Unionsrechts im Allgemeinen und des Zugangs zum Unionsrecht im Besonderen und angesichts ihrer unverzichtbaren Rolle bei der Umsetzung des abgeleiteten Unionsrechts sowie ihrer Rechtswirkungen grundsätzlich nicht urheberrechtlich schutzfähig sein dürften. Nach Ansicht der Generalanwältin folgt aus Art. 297 AEUV, dass Unionsrecht grundsätzlich nicht urheberrechtlich schutzfähig sei. Das Gericht habe es rechtsfehlerhaft unterlassen, zu beurteilen, ob das Recht (und damit HTN als Rechtsakte, die Teil des Unionsrechts seien) überhaupt urheberrechtlich schutzfähig sei. Überdies habe, selbst wenn HTN urheberrechtlich schutzfähig seien, der freie Zugang zum Recht Vorrang vor dem Schutz des Urheberrechts. Demzufolge schlägt die Generalanwältin vor, das angefochtene Urteil aufzuheben.

Ergänzend schlägt Generalanwältin Medina dem Gerichtshof auch vor, den Beschluss der Kommission über die Verweigerung des Zugangs zu den angeforderten HTN für nichtig zu erklären.


Die vollständigen Schlussanträge finden Sie hier:


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